Intervention

Die Nato in ihrer Unentschlossenheit

Von Richard Herzinger
04.08.2023. Ungeachtet der Beteuerungen westlicher Regierungen, sie würden die Ukraine so lange wie erforderlich militärisch unterstützen, droht die Stimmung in Richtung eines faulen "Kompromisses" mit dem Aggressor Russland zu kippen. Besonders zynisch wirken in diesem Kontext Klagen, dass die ukrainische Gegenoffensive nicht schnell genug vorankommt, denn daran ist der Westen selbst mit schuld. Wenn die politischen Verantwortlichen in den westlichen Demokratien diesen geistigen Kapitulationstendenzen nicht energisch entgegentreten, wird dies nicht nur die Ukraine teuer zu stehen kommen.
Gerade einmal zwei Jahre ist es her, dass die Nato-Truppen fluchtartig Afghanistan verließen und die afghanische Zivilgesellschaft der Willkür der islamistischen Taliban auslieferte. Jetzt mehren sich die Anzeichen dafür, dass ein ähnlicher Verrat des Westens an der Ukraine bevorstehen könnte. Dieser würde vielleicht nicht so drastisch und abrupt ausfallen wie am Hindukusch, wäre in seinen Auswirkungen für die freie Welt aber noch verheerender.

Ungeachtet den Beteuerungen westlicher Regierungen, sie würden die Ukraine so lange wie erforderlich militärisch unterstützen, droht die Stimmung in Richtung eines faulen "Kompromisses" mit dem Aggressor Russland zu kippen. So kursierten jüngst Berichte über Geheimgespräche zwischen den USA und Russland über eine baldige Beendigung des Krieges. Deutsche Zeitungen referierten ausführlich einen Artikel der Moscow Times, in dem ein daran angeblich beteiligter ehemaliger US-Beamter zitiert wird.

Die Essenz seiner Aussagen: Die USA seien nicht an einer "demütigenden" Niederlage Russlands interessiert, sie wollten dieses vielmehr als "kreativen Akteur in die europäische Sicherheit zurückbringen". Dazu müsse man auf "die russische Anti-Kriegs-Elite" zugehen. Dass die Ukraine alle okkupierten Gebiete zurückerobern könne, sei "unrealistisch". Zumal das Putin-Regime, würde ihm etwa der Verlust der Krim drohen, mit Sicherheit taktische Atomwaffen einsetzen werde.

Gegenüber dem Wahrheitsgehalt solcher Berichte ist größte Skepsis angebracht. Zwar ist die Moscow Times angeblich eine unabhängige Publikation, doch ob die von ihr zitierten Äußerungen des vermeintlichen US-Unterhändlers authentisch sind und inwieweit sie den Standpunkt der US-Regierung widerspiegeln, ist unklar. In jedem Fall sind sie ganz im Sinne der Kreml-Propaganda. Suggerieren sie doch einen latenten Friedenswillen innerhalb des völkermörderischen Kreml-Regimes, der in Wahrheit nicht existiert, und versuchen sie doch, die weltpolitischen Interessen der USA gegen das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine auszuspielen.

Dass solche fragwürdigen Botschaften in deutschen Medien überhaupt derartig ausgiebige Beachtung finden, lässt indes Rückschlüsse auf die allgemeine Stimmungslage zu, die in der öffentlichen Meinung um sich greift. Dass die ukrainische Gegenoffensive nicht weit und schnell genug vorankomme, ist der vorherrschende Tenor der hiesigen Berichterstattung über den Krieg. Dementsprechend war auf führenden deutschen Medienportalen kürzlich zu lesen, westliche Regierungen zeigten sich zunehmend "enttäuscht" von den Fortschritten der ukrainischen Armee.

Diese Formulierung wie die dahinter steckende Haltung grenzen an Zynismus. Trägt doch der Westen - und namentlich Deutschland - an den Schwierigkeiten, mit denen sich die Ukraine auf dem Kriegsschauplatz konfrontiert sieht, eine erhebliche Mitschuld. Weil für die ukrainischen Gegenoffensive erforderliche Waffen und Munition überhaupt nicht oder nur mit großer Verzögerung und in zu geringem Umfang geliefert wurden, gewann der Aggressor Zeit, sich darauf einzustellen - was die militärischen Erfolge der Ukraine nun erheblich erschwert.

Dies wiederum gibt, in der Art einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung, jenen Kräften im Westen weiter Auftrieb, die auf baldige "Verhandlungen" mit Moskau dringen. Passend dazu fand jüngst eine angebliche interne Studie der deutschen Bundeswehr ein großes Medienecho. Darin, so heißt es, werde die ukrainische Kriegsführung scharf für ihre Ineffektivität kritisiert, die daher rühre, dass sie die Vorgaben der westlichen Militärstrategie nicht befolge.

Doch was qualifiziert eigentlich ausgerechnet die Bundeswehr zu Belehrungen darüber, wie man erfolgreich Kriege führt? Seit ihrer Gründung vor fast siebzig Jahren war sie kaum je an aktiven  Kampfhandlungen beteiligt, und wo das - wie in Afghanistan - punktuell der Fall war, können die Resultate nicht gerade als vorbildlich gelten. Insgesamt waren die Nato-Truppen dort über zwei Jahrzehnte hinweg nicht in der Lage, eine primitiv ausgerüstete Terroristentruppe wie die Taliban zu besiegen oder doch zumindest dauerhaft in Schach zu halten.

Indem die Verteidigungsanstrengungen der Ukraine jedoch zunehmend in ein schlechtes Licht gerückt werden, wird die deutsche und europäische Öffentlichkeit allmählich an den Gedanken gewöhnt, dass der Krieg nur in Übereinkunft mit dem russischen Aggressor zu beenden sei. Die fortgesetzten genozidalen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Russland in der Ukraine begeht, rücken in der öffentlichen Aufmerksamkeit dagegen immer mehr in den Hintergrund. Fast schon werden sie inzwischen als eine Art - wenn auch schreckliche, so doch unabänderlich gegebene - Normalität wahrgenommen.  

Dass die Nato bei ihrem jüngsten Gipfel der Ukraine erneut eine klare Beitrittsperspektive verweigert hat, bestätigt den Kreml in seiner Gewissheit, dass der Westen niemals eine offene Konfrontation mit Russland wagen werde. Als Konsequenz daraus hat Putin das Getreideabkommen aufgekündigt, droht mit dem Angriff auf Getreidefrachtschiffe und lässt Ziele unmittelbar an der rumänischen Grenze bombardieren - in nächster Nähe zum Nato-Gebiet. Wie der rumänische Politologe Armand Gosu treffend feststellt, geht es ihm dabei darum "die Nato in ihrer Unentschlossenheit vorzuführen."

Und in der Tat macht das westliche Bündnisses auch angesichts immer neuer russischer Eskalationen keine Anstalten, dem Kreml klare rote Linien aufzuzeigen. Gosu zieht daraus das bittere Fazit: "Die Eliten im Westen sind des Krieges inzwischen müde geworden und fürchten eher den Zusammenbruch Russlands als eine Niederlage der Ukraine." Wenn die politischen Verantwortlichen in den westlichen Demokratien diesen geistigen Kapitulationstendenzen nicht energisch entgegentreten, wird dies nicht nur die Ukraine teuer zu stehen kommen.

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. Der Link zur Originalkolumne folgt.