Intervention

Die SPD als "Friedenspartei"

Von Richard Herzinger
22.03.2024. Mit der Rede vom "Einfrieren" fällt die Sozialdemokratie in alte Positionen zurück, die sie in Wahrheit nie aufgegeben hatte. Eine ernsthafte selbstkritische Aufarbeitung ihrer langjährigen verhängnisvollen Anbiederung an das Kreml-Regime hat nicht stattgefunden. Geschweige denn, dass dieses historische Versagen personelle Konsequenzen nach sich gezogen hätte. Olaf Scholz nimmt sich dabei das demagogische Manöver Gerhard Schröders zum Vorbild, der 2002 einer deutschen Teilnahme am Irakkrieg eine lautstarke Absage erteilte.
Rolf Mützenich, der SPD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, will den Krieg "einfrieren" - was bedeuten würde, die von Russland geraubten ukrainischen Gebiete bis auf weiteres der Willkür des Aggressors zu überlassen. Diese Positionierung markiert einen Rückfall der deutschen Sozialdemokratie in ihre alte Russland-Politik vor dem Beginn des russischen Vernichtungsfeldzugs gegen die gesamte Ukraine im Februar 2022.

Genauer gesagt: Es kommt darin zum Ausdruck, dass die SPD diese Politik nie explizit revidiert hat. Eine ernsthafte selbstkritische Aufarbeitung ihrer langjährigen verhängnisvollen Anbiederung an das Kreml-Regime hat nicht stattgefunden. Geschweige denn, dass dieses historische Versagen personelle Konsequenzen nach sich gezogen hätte. Selbst SPD-Führungspersönlichkeiten, die wie die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig, besonders intensiv und demonstrativ mit dem Kreml-Regime kollaboriert hatten, konnten ihre Ämter unbehelligt weiterführen, als sei nichts gewesen.

Die von Bundeskanzler Olaf Scholz proklamierte "Zeitenwende" ist von einflussreichen SPD-Politikern wie Mützenich und dem Parteilinken Ralf Stegner nur zähneknirschend akzeptiert worden. Zwar beteuern diese in ihren Statements stets, Waffenlieferungen an die Ukraine zu unterstützen. Doch fügen sie im selben Atemzug hinzu, die Debatte dürfe nicht darauf "verengt" werden, und es müsse vielmehr verstärkt nach einer "diplomatischen Lösung" gesucht werden.

Bereits im Sommer 2022 hatte Jens Plötner, der außen- und sicherheitspolitische Berater des Bundeskanzlers, erklärt, man solle, statt immer nur über mehr Waffen für die Ukraine zu reden, bereits jetzt über den zukünftigen Umgang mit Russland jenseits des Krieges nachdenken. Das legte den Schluss nahe, dass sich mancher Sozialdemokrat mehr um die Rettung der deutsch-russischen Beziehungen sorgt als um die Existenz der Ukraine. Die von den Propagandisten einer raschen Verständigung mit dem Kreml gerne gebrauchte Wendung, Russland werde es schließlich immer geben, transportiert im Subtext die Frage: Wer weiß dagegen schon, wie lange es die Ukraine noch geben wird? Der Mythos vom "ewigen" Russland, dessen guter Wille für die Sicherung von Frieden und Stabilität in Europa unverzichtbar sei, während "kleinere" Nationen dabei nur eine untergeordnete Rolle zu spielen hätten, ist tief in der sozialdemokratische DNA verankert und auch durch den völkermörderischen Krieg gegen die Ukraine nicht grundlegend erschüttert worden.

Die kategorischen Weigerung von Kanzler Scholz, der Ukraine Taurus-Marschflugkörper zu liefern, weil dies Deutschland angeblich zur "Kriegspartei" machen und die ukrainische Armee in die Lage versetzen könnte, russisches Gebiet anzugreifen, ist eine Konzession an dieses in der SPD weit verbreitete, von mystischer Ehrfurcht vor Russland geprägte Sentiment. Vor der Europawahl sowie den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg in diesem Jahr setzt Scholz zudem darauf, die SPD als "Friedenspartei" zu präsentieren, die als einzige verhindern könne, dass Deutschland in den Krieg "hineingezogen" wird. So will er verhindern, dass das neu gegründete linksnationalistische "Bündnis Sahra Wagenknecht", das im Sinne des Kreml Kriegsängste schürt und gegen jegliche weitere Unterstützung der Ukraine agitiert, der ohnehin schon drastisch geschrumpften SPD noch mehr Wähler abspenstig macht.

Scholz nimmt sich dabei das demagogische Manöver Gerhard Schröders zum Vorbild, der 2002 einer deutschen Teilnahme am Irakkrieg eine lautstarke Absage erteilte - bevor sie überhaupt von irgendjemandem verlangt worden war.  Dass der damalige Kanzler dergestalt eine Kriegsbeteiligung Deutschlands abgewendet habe, gilt in der deutschen Öffentlichkeit noch immer als eine Heldentat für den Frieden. Dabei wird ausgeblendet, dass Schröder damals mit Wladimir Putin gemeinsame Sache gegen die USA machte - während Russland gleichzeitig einen Vernichtungskrieg in Tschetschenien führte. Mit dieser Allianz begann Schröders korrupte Liaison mit Putin, die Deutschland in eine gefährliche Abhängigkeit vom russischen Energie-Imperialismus führen sollte.

Kritische Debatten über seine Zögerlichkeit bei der militärischen Unterstützung der Ukraine tut Olaf Scholz neuerdings als "lächerlich" ab. Tatsächlich aber basiert sein chronischen Zaudern auf der fatalen Fehleinschätzung, die Angriffsenergie des Aggressors werde früher oder später erlahmen und Moskau sich dann kompromissbereit zeigen. Deshalb reiche es aus, der Ukraine gerade so viel Kriegsgerät zu liefern, dass sie sich für kommende Verhandlungen eine möglichst gute Ausgangsposition verschaffen könne.

Aber jedem verantwortlichen Politiker hätte längst klar sein müssen, dass das putinistische Russland keinerlei Frieden mit der Ukraine will, sondern deren Vernichtung um jeden Preis - und dass es von diesem Ziel nicht ablassen wird, ohne dass es eine vollständige militärische Niederlage erleidet. Denn es hat die Realisierung dieses Ziels zur obersten russischen Staatsräson erklärt. Zudem betrachtet der Kreml den Krieg gegen die Ukraine nur als die erste Schlacht in seinem bereits fest ins Auge gefassten großen Krieg gegen den gesamten Westen.

Gegenüber dieser alarmierenden Realität stellen sich allerdings nicht nur Kräfte innerhalb der deutschen Sozialdemokratie blind. Eifrig trommelt etwa der sächsische CDU-Ministerpräsidenten Michael Kretschmer für ein baldiges Arrangement mit dem Kreml. Er spricht sogar offener als Mützenich aus, welchen Preis er die Ukraine für das "Einfrieren" des Kriegs zahlen lassen will: "Es kann sein", erklärte er in einem Interview, "dass die Ukraine bei einem Waffenstillstand erst einmal hinnehmen muss, dass gewisse Territorien für die Ukraine vorübergehend nicht erreichbar sind."

Dass dort, wo Russland ukrainisches Territorium besetzt hält, systematisch schwerste, auf die Auslöschung der ukrainischen Identität zielende Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen werden, spielt in solchen defaitistischen Planspielen kaum eine Rolle. Was deren nicht nur politisch, sondern auch moralisch toxischen Charakter offenbart.

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. Hier der Link zur Originalkolumne.