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Sie flieht vor nichts

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
19.04.2024. Narrative wie "Female Gaze" oder "Body Positivity", die heute im  Nachdenken über den Körper allgegenwärtig sind, wirken angesichts von Gundula Schulze Eldowys Aktbildern, in denen es um den Menschen an und für sich geht, zu kurz gegriffen. Denkkonstrukte, die sich an Details festmachen, wo die Fotografin furchtlos das große Ganze ins Visier nimmt. So kommt es, dass die Fotos unspektakulär sind und zugleich eine große Wucht entfalten. Die Berliner Ausstellung mit nie gezeigten Fotos läuft nur drei Tage!
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Erst letzten Herbst war hier über eine Ausstellung von Gundula Schulze Eldowy im Zuge der Eröffnung von Foto Arsenal die Rede. Da mag es den einen oder die andere ein wenig überraschen, dass ich ihr nun schon wieder einen Beitrag widme.

Grund dafür sind besondere Umstände.

Erstens gab mein Artikel im Jahr 2021 einen wichtigen Anstoß für ihre Wiederentdeckung und Würdigung, was eine gewisse Nähe zur Künstlerin und ihrem Oeuvre mit sich brachte.

Zugleich sind die meisten der Aktfotos, die nun für nur drei Tage im Zuge des kommenden Gallery Weekends von der Galerie Patrick Ebensperger in Berlin ausgestellt werden, so noch nie gezeigt oder veröffentlicht worden - wann sie es das nächste Mal werden, steht dazu in den Sternen, da Schulze Eldowy nun wieder für mindestens ein Jahr in ihre Wahlheimat Peru zurück kehrt und dort erfahrungsgemäß eigenen, betriebsfernen Plänen nachgeht und nur schwer zu erreichen ist.

Zuguterletzt ist es die Location selbst, die man gesehen haben sollte, da sie nach dieser Ausstellung umgebaut und leider anderweitig genutzt wird: eine Novizinnen-Kapelle in Berlin Moabit - ein fantastischer Raum für die großformatigen Akte.

Novizinnen-Kapelle in Berlin Moabit


Ein unbekleideter Mann zieht sich in einem kümmerlichen Zimmer eine Unterhose an und blickt dabei schüchtern in die Kamera.
Eine hochschwangere Frau steht nackt vor einem Klavier, ihr Blick kündet von einer angespannten Ungewissheit in Bezug auf das Kommende. Ein zartgliedriger, kleiner Mann sitzt breitbeinig und nur mit Pantoffeln bekleidet auf einem Schlafsofa. Hinter ihm stehen auf einem Regal an der Wand zahlreiche Schnapsflaschen, aneinander gereiht wie Bücher. Er schaut nicht in die Kamera, sondern blickt gedankenverloren auf den Boden. Lothar, so heißt der Mann, ist ein einfacher Arbeiter und einer jener Menschen, die die 1954 in Erfurt geborene Fotografin Gundula Schulze Eldwoy im Zuge ihrer Streifzüge durch Ostberlin, Leipzig und Dresden dafür gewinnen konnte, sich nackt von ihr fotografieren zu lassen - die Scheu vor der Nacktheit war in der DDR ungleich geringer ausgeprägt als im Westen Deutschlands.

Das Foto von Lothar ist eins der bekanntesten Motive aus Schulze Eldowys legendärer Serie "Berlin in einer Hundenacht" (1977 -1990) und zugleich eine der wenigen Aktfotografien, die je veröffentlicht oder ausgestellt worden sind.

Saul Leiter hat Fotos seiner nackten Frau gemacht, die durchdrungen sind von Zartheit und partnerschaftlicher Intimität.
Aktaufnahmen japanischer Fotografen wie Daido Moriyama und Nobuyoshi Araki haben Themen der menschlichen Conditio Humana zum Gegenstand, Lust, Gewalt, Einsamkeit, der nackte Körper ist dabei oft nur ein Mittel, diese Themen in Szene zu setzen. Nan Goldins Nackte sind schon in jungen Jahren gezeichnet von einem Leben, in dem Drogen eine nicht unwesentliche Rolle spielen - Goldins Fotos werfen Licht auf eine Szene, die sich neugierigen Blicken bewusst entzieht, für gewöhnlich im Verborgenen bleibt.

Schulze Eldowys Fotos verweisen auf keine bestimmte Szene, habe keine bestimmte Person zum Thema und wollen mit der Nacktheit der Abgebildeten nichts Bestimmtes versinnbildlichen oder evozieren, und weisen eine Verwandtschaft zu Boris Mikhailovs unverblümten Bildern auf, allerdings ohne deren oft rüde, aggressive Note. Sie zielen auf den menschlichen Körper, weil er die grundlegende Einheit von allem ist, was sich vor und hinter der Kamera abspielt, und unterschiedslos alle betrifft: Männer, Frauen, Junge, Alte, Dicke, Dünne, Heterosexuelle, Homosexuelle, Gesunde, Kranke. Weshalb Schulze Eldowy sie auch unterschiedslos zeigt - dabei aber alles andere als gleichgültig.

Aufgewachsen in einem Staat wie der DDR, der vorbehaltlos dem Kollektiv huldigt, besteht sie energisch auf dem Individuum, das ständig Gefahr läuft, von politisch und religiös motivierten Ideologien aller Art in seinen Rechten eingeschränkt zu werden, und um seine Freiheit ebenso kämpfen zu müssen wie um seinen Platz in der Gesellschaft.

© Gundula Schulze Eldowy


Da liegt es nahe, Aktfotos von Menschen dort zu machen, wo sie unbeobachtet mit sich selbst und anderen Umgang haben können - nicht etwa in einem Studio oder in einer eigens dafür arrangierten Szenerie, sondern in den eigenen vier Wänden. Es ist in Serien wie der "Der große und der kleine Schritt" nicht anders als bei den Aktfotos: So selbstverständlich, wie die Menschen Schulze Eldowy in Operationssäle, Fabrikhallen und Schlachthäuser lassen, wo sie den oft schwierigen beruflichen Alltag der Menschen festhält, so selbstverständlich lassen sie sie in ihre Wohnungen, wo sie unverstellt ihre nackten Körper fotografiert.

Narrative wie "Female Gaze" oder "Body Positivity", die heute im  Nachdenken über den Körper allgegenwärtig sind, wirken angesichts von Schulze Eldowys Bildern, in denen es um den Menschen an und für sich geht, zu kurz gegriffen. Denkkonstrukte, die sich an Details festmachen, wo die Fotografin furchtlos das große Ganze ins Visier nimmt. So kommt es, dass die Fotos unspektakulär sind und zugleich eine große Wucht entfalten, die der Unmittelbarkeit und Unvoreingenommenheit geschuldet ist, mit der sich die Künstlerin und ihre Modelle auf Augenhöhe begegnen.

Ein Foto zeigt einen auf dem Rücken liegenden Mann beim Masturbieren. Er weiß unzweifelhaft, dass die Fotografin ihn dabei fotografieren wird, ist aber an einem Punkt angelangt, an dem er nur noch an seinen Orgasmus denkt und einer heftiger werdenden, lustvollen Anspannung ausgesetzt ist.

Dieses Foto hat nichts mit den Aufnahmen zu tun, die Robert Mapplethorpe oder Peter Hujar von nackten Männern machten (nicht selten ihre Liebhaber), die ihren steifen Penis in der Hand halten, eingefroren in einer Pose wie ein Aktmodell in einem Zeichenkurs. Selbstbezogen und ausgeliefert, sind sie vor der Kamera zu einer Skulptur aus Fleisch und Blut geworden, geformt vom Voyeurismus des Fotografen und dem Exhibitionismus des Modells.

Natürlichkeit stellt in einem solchen künstlerischen Koordinatensystemen kein lohnenswertes Ziel dar, da sie dem Alltag gefährlich nahe kommt, dem die meisten in Wahrheit entfliehen wollen, die künstlerisch mit Nacktheit und - davon abgeleitet - mit Sexualität und Erotik arbeiten.

© Gundula Schulze Eldowy


Gundula Schulze Eldowy ist eine derartige Künstlichkeit fremd. Sie flieht vor nichts, sondern geht direkt und angstfrei darauf zu und nimmt die möglichen Konsequenzen einer solchen Vorgehensweise bewusst in Kauf - kein Wunder, dass sie von Beginn an unter verschärfter Beobachtung der Stasi steht und Glück hat, dass unmittelbar vor dem Prozess gegen sie die Mauer fällt.

Sie dokumentiert, ohne Dokumentarfotografie zu betreiben. Sie fertigt Aktporträts an, ohne dass Aktfotografie als Genre dafür eine größere Rolle spielt. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie ihren Instinkten vertrauen kann, bewirkt, dass auch die von ihr fotografierten Menschen darauf vertrauen.

Lebendigkeit und Authentizität ist, was sie bei ihren Modellen sucht, und ihnen mit ihren Fotos zurück gibt, was es den Porträtierten wiederum leicht macht, zu sagen: Ja, so bin ich.

Eine dunkelhaarige, korpulente Frau mit ausladendem Busen und Bauch sitzt auf einem Sofa - ein Foto, das an Lucian Freuds großformatige Gemälde von "Big" Sue Tilly denken lässt. Anders als Rubens ging es Freud nicht um Sinnlichkeit und Opulenz. Mitte der Sechziger Jahre hat er ein Konzept entwickelt, das er "Naked Portrait" genannt hat - einen Menschen von seinem ganzen Körper her zu sehen und zu begreifen. Er folgte damit Rodin, von dem Rilke sagte, er habe den Menschen die Maske ihrer Gesichter abgenommen, die für ihr gesellschaftliches Sein stehen, für das, was sie darstellen, nicht das, was sie sind. 

Nicht anders ist das bei Schulze Eldowy - ihre Aktfotografien sind von allen Masken der Konvention, jeder falschen Scham und jeder Pose oder Verkleidung befreite, wahrhaftige Menschenbilder.

Gundula Schulze Eldowy: AKTPORTRÄTS. Ebensperger Kapelle, 26.04.-28.04.2024, Waldstraße 52, 10551 Berlin. www.ebensperger.net


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In eigener Sache: In der März-Ausgabe des Magazins Profi Foto habe ich Damian Zimmermann ein ausführliches Interview gegeben, in dem ich (Fehl-)Entwicklungen in der Fotoszene und im Kulturbetrieb - wie ich finde - gut auf den Punkt bringen konnte. Das Interview steht nun online zur Verfügung.


Peter Truschner
truschner.fotolot@perlentaucher.de