Fotolot

Der Geruch von Napalm am Morgen

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
05.04.2024. Das Fotobuch "Like Rain falling from the Sky" von Nicola Bertasi zeigt die vergessenen Menschen und allseits beschwiegene Vorgänge rund um den Vietnamkrieg. Es gehört zu den wenigen, die überhaupt Bilder jenseits der Filmbilder zeigen, die uns aus amerikanischen Filmen über den Krieg im Gedächtnis sind. Das liegt auch daran, dass Vergangenheitsbewältigung in Vietnam nicht gerade angesagt ist.
Fotolot-Newsletter abonnieren
Wer wie ich seine Kindheit und Jugend in den siebziger und achtziger Jahren verbracht und dabei ein reges Interesse für das Kino entwickelt hat, stieß irgendwann unweigerlich auf Filme, die den Vietnam-Krieg zum Thema hatten: "The Deer Hunter", "Apocalypse Now", "Coming Home, "Platoon", "Full Metal Jacket". Es handelte sich dabei um US-amerikanische Produktionen, die den Krieg meist aus der Sicht von US-Soldaten erzählen, die blutjung, gutgläubig  und naiv von Seiten der US-Regierung rücksichtslos in die Schlacht geworfen wurden, im Zuge der Kampfhandlungen fallen oder als an Körper und Seele gebrochene Menschen nach Hause zurückkehren. (Die Tatsache, dass sich College-Studenten aus reichem Haus von diesem Schicksal freikaufen konnten, unterstreicht dieses Szenario nur.)

Gewisse Szenen dieser Filme haben sich ins Bewusstsein eingebrannt und tauchen immer wieder mal daraus hervor, etwa, wenn in "Apocalypse Now" eine Luftlandeeinheit sich zur Musik von Richard Wagners Walkürenritt daran macht, ein vietnamesisches Waldstück (samt darin vermuteten Vietcong-Kämpfern) binnen weniger Augenblicke in eine brennende Wüste zu verwandeln. Dazu der  Ausspruch des (von Robert Duvall gespielten) befehlshabenden Offiziers, Colonel Kilgore: "Ich liebe den Geruch von Napalm am Morgen."

Zu dieser Zeit hatte man das große Glück, dass es in Deutschland und Österreich zwischen Fernsehen und Kino noch eine lebendige, an künstlerischer Qualität interessierte Beziehung gab, während heute die für das Zustandekommen von Filmen unerlässlichen Filmförderanstalten und Redaktionen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens vor allem für die systematische Nivellierung, wenn nicht gleich Verstümmelung der Kreativität (sofern in relevantem Ausmaß vorhanden) angehender FilmemacherInnen zuständig sind (wer das nicht glaubt, lese diesbezüglich unmissverständliche Beiträge auf Online-Magazinen wie artechok oder Filmdienst).

© Nicola Bertasi


Ob man es glaubt oder nicht: Es war eine Zeit, in der das so genannte "Kleine Fernsehspiel" im ZDF nicht von Professoren und Redakteurinnen begleitete Abschlussarbeiten von HochschulabsolventInnen, sondern ungefilterte, kleine Kunstwerke zeigte, und in der man noch vor Mitternacht nicht mit dem Gelaber diverser Talk-Formate zugemüllt wurde, sondern Filmkunst zu sehen bekam: Tarkowskij, Bergman, Fellini, Varda, Antonioni, Campion und so weiter.

Ein Vorwurf, mit dem die Vietnam-Filme aus der New Hollywood - Ära früh konfrontiert wurden, war, dass sie den Krieg und das Kriegsgeschehen ästhetisch überhöhten und so trotz des dargestellten Grauens in etwas verwandelten, dass abenteuerlich, aufregend, sexy war. Ein Vorwurf, den man nicht so leicht von der Hand weisen kann.

Andererseits ist es genau das, was in diversen Romanen sowie Interviews und Dokumentationen von überlebenden Soldaten zur Sprache kommt: dass sie in ihrem weiteren Leben nie etwas erlebt hätten, dass an die Intensität der Kampfhandlungen annähernd herangereicht hätte. Und selbst in "The Deer Hunter", der am Ende einen kaputten Haufen osteuropäischer Einwanderer anlässlich der Beerdigung eines in Vietnam verloren Gegangenen versammelt, wird - als ob die Beteiligten einfach nicht anders können - "God bless America" angestimmt.

Harun Farocki meinte dazu einmal ungehalten, dass es etwas merkwürdig sei, zuerst eineinhalb Millionen Menschen umzubringen und dann Filme darüber zu drehen, dass man sich zu Hause nicht mehr zurecht findet und von seiner Frau verlassen wird.

Die andere, quälende, Gefühle und Gedanken abstumpfende Seite des Militärdienstes sieht man - wenn überhaupt - zumeist nur in raren  Dokumentarfilmen wie "Restrepo" (2010), in der Regisseur Sebastian Junger ein Jahr lang den Alltag einer US-Luftwaffenbrigade auf einem afghanischen Außenposten zeigt, der aufgrund der Anzahl an gefallenen US-Soldaten "Tal des Todes"  genannt wurde.

© Nicola Bertasi


Der zweite Vorwurf, der im Zuge der verstärkten Beschäftigung mit Kolonialismus und Imperialismus laut wurde, lässt sich nicht so einfach im Kontext relativieren.

Im Fotobuch "Like Rain falling from the Sky" von Nicola Bertasi, das den Anlass zu diesen Überlegungen gab und die vergessenen Menschen und allseits beschwiegene Vorgänge rund um den Vietnamkrieg verhandelt, heißt es im einleitenden Text von Damarice Amao dazu: "Gleichültig, ob die Filme den Krieg feiern oder aber ihn in Frage stellen: In den allermeisten Fällen reduzieren sie den Anderen, den Feind, auf austauschbare Körper (oft nur Silhouetten), ohne jede menschliche Tiefe oder persönliche Geschichte."

Für Jean Luc Godard bestand die spezielle Funktion solcher Filme im Zuge des Imperialismus überhaupt darin, "die Unterdrückten darin zu hindern, ihre eigenen Filme zu drehen", und über die weltweit operierende US-Kulturindustrie eine bestimmte Weise von Erinnerung an den Krieg zu etablieren. "Vielleicht kann man einen Krieg gegen das mächtigste Land der Welt in Wahrheit ja nie gewinnen", meint dazu ein Vietcong-Veteran in Bertasis Buch.

Bertasi versucht - so Amao - mit seinem Buch eine alternative Erinnerung an den Vietnamkrieg und seine Folgen zu bewerkstelligen, abseits von spektakulären Bildern wie dem des nackten Mädchens Kim Phúc, das von Napalm verbrannt durch die Straßen rennt oder des Mönchs Thich Quang Duc, der sich 1963 in Saigon mit Benzin übergießen und anzünden ließ - eine Szene, die auch in "Persona", meinem Lieblingsfilm von Ingmar Bergman vorkommt, der 1966 bei Aufführungen in den USA für Aufruhr sorgte, da das noch ins letzte Jahr des "Hays Production Code" fiel.
Das Porträt von Phúc wiederum ist ein Symbol für die von Amao und Bertasi kritisierte Konstruktion von Erinnerung: der rechte Bildrand wurde weg geschnitten. Er zeigt, wie ein Time-Reporter ungerührt den Film seiner Kamera wechselt, während das Mädchen schreiend an ihm vorüber läuft.

Bertasi nähert sich dem Thema behutsam: Er besucht und fotografiert Orte des Kriegsgeschehens, führt Gespräche mit vielen Menschen und erfährt dabei, wie sehr ihr Leben durch den Einsatz des von Monsanto produzierten "Agent Orange" bis heute geprägt ist. Ökozid, Krebs, Totgeburten, Kinder mit von Geburt an körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen und einer geringen Lebenserwartung. Dazu unzählige ungezündete Bomben und Minen, die über das weiträumige Gebiet verteilt sind und bis heute Todesopfer fordern, Beine und Arme von Bauern oder spielenden Kindern zerfetzen.

Bis heute erwarten sich die betroffenen Menschen eine Entschädigung durch die USA, die bisher nicht erfolgte und nie erfolgen wird.

© Nicola Bertasi

Die Durchsicht von Bertasis Buch gleicht für einen Menschen wie mich einer Zeitmaschine - ständig wird man in die eigene Vergangenheit zurück befördert.

Aufgewachsen im "katholo-faschistischen" Österreich Thomas Bernhards, ging es grundsätzlich immer nur um die Gräuel und Gefahren des Kommunismus. Der eigene Anteil am Nationalsozialismus wurde konsequent verdrängt (siehe dazu Ruth Beckermanns wunderbare Waldheim-Dokumentation), und über die weltweiten, von der US-Regierung beauftragten, verdeckten Operationen der CIA und des Militärs erfuhr man eher am Rande - wenn man mehr darüber wissen wollte, was genau in Filmen "Die drei Tage des Condor" von Sydney Pollack oder "Vermisst" von Costa Gavras verhandelt wird, musste man selber tätig werden und gezielt danach suchen (und dabei brauchbare Fakten von krudem Antiamerikanismus unterscheiden lernen).

Umfassend aufgeklärt wurde ich dahingehend von einem regierungskritischen US-Gastprofessor, der international gut vernetzt war und ein stattliches, privates Dokumentationszentrum aufgebaut hatte. Ich wusste schon ein wenig, war aber dennoch perplex, was ich dort über den militärisch-industriellen Komplex in den USA und die Tätigkeiten seiner sogenannten "Hitmen" vor allem in Südamerika und Afrika erfuhr.
Dennoch habe ich nicht damit gerechnet, was vor ein paar Jahren auf arte in der neunteiligen Serie alles über den Vietnamkrieg zur Sprache kam - wie wechselnde Präsidenten, wechselnde Außenminister und wechselnde Oberbefehlshaber teils wider besseren Wissens aus innen- oder außenpolitischen Erwägungen, Starrsinn oder zynischem Kalkül mit dem Leben Hunderttausender Menschen spielten, muss jeden fassungslos zurücklassen.

Es entspricht der Fassungslosigkeit, die ich immer über die Willfährigkeit der Politik gegenüber der brutalen Skrupellosigkeit Russlands unter der Regentschaft von Wladimir Putin empfand. Zwischen dem Flächenbombardement von Vietnam und dem Flächenbombardement von Tschetschenien besteht ein innerer Zusammenhang, der fortbesteht, wenn man sich Filme wie "Es war einmal im Irak" und "20 Tage in Mariupol" ansieht.

In der Mitte beider Extreme stehen  - erst recht angesichts der möglichen Wiederwahl von Donald Trump - Nationen wie Deutschland verloren in der Gegend herum, die im Vertrauen auf US-amerikanischen Schutz und russisches Gas das letzte Vierteljahrhundert vor allem damit zugebracht haben, den politischen Steigbügelhalter für Konzerninteressen zu geben und die Reichen noch reicher zu machen.

Im Zuge der Interviews schimmert durch, wie wenig Interesse auch die vietnamesische Regierung bereits in den siebziger und achtziger Jahren daran hatte, gegenüber dem reichsten Land mit der größten Volkswirtschaft der Erde eine feindliche Haltung einzunehmen, was zur Folge hatte, dass der Krieg von oberster Stelle weitgehend aus der kollektiven Erinnerung sowie dem zukunftsgerichteten, wirtschaftlichen und politischen Handeln getilgt wurde - was es denjenigen, die diese Erinnerung am Leben erhalten wollen und um eine Form von Wiedergutmachung kämpfen, unendlich schwer macht.

Die vietnamesischen Bäuerinnen, Händler, Veteranen und Uni-Professorinnen geben sich in den Interviews dahingehend meist keiner Illusionen hin, was unabhängig davon gut zu dieser Region der Welt passt, wo im Alltag trotz aller Traditionen nur die unmittelbare Gegenwart und die gemäß des eigenen Vermögens formbare Zukunft eine Rolle spielen.

Als ich für mein Fotobuch "Bangkok Struggle" das Leben von Wanderarbeitern teilte, mit ihnen zu Mittag aß, in ihren Unterkünften schlief, haben ein paar Arbeiter eines Tages meine ganzen Sachen zusammengepackt und ein TukTuk kommen lassen. Dazu gaben sie mir Prospekte über schöne Badestrände im Süden des Landes. Sie hatten das Gefühl, dass es regelrecht verrückt von mir war, die Zeit, die ich in Thailand verbrachte, in jener so unerfreulichen und langweiligen Umgebung zu verbringen, in der ihre Arbeit vor sich ging.

Als ich dankend ablehnte, schüttelten sie nur den Kopf, und Momo, mein thailändischer Assistent, erklärte mir, dass es dumm sei, die Schönheit der Welt nicht jeden Tag zu genießen, wenn man die Möglichkeit dazu hatte - jeder Tag konnte schließlich der letzte dieser Art sein.

Peter Truschner
truschner.fotolot@perlentaucher.de







Nicola Bertasi
: Like Rain falling from the Sky. 144 Seiten, 22 x 28 cm, Hard Cover. Studiofaganel, Gonzia 2023, 50 Euro. ISBN: 8894662853