Intervention

Verheerende Konsequenzen

Von Richard Herzinger
24.08.2023. Die US-Wahlen 2024 haben eine epochale Dimension. Aus eigener Kraft sind die europäischen Demokratien bis heute nicht in der Lage, den Kontinent effektiv vor der Bedrohung durch aggressive Mächte zu schützen. Sollten sich die USA von Europa abwenden oder gar überhaupt aus dem Kreis der liberalen Demokratien verabschieden, würde dies nicht nur das westliche Verteidigungsbündnis, sondern auch die Europäische Union kaum überleben.
Dass der ehemalige US-Präsident Donald Trump wegen einer Reihe schwerer Verbrechen unter Anklage steht, scheint den Rückhalt bei seinen Wählern nicht zu mindern. Im Gegenteil, in weiten Teilen seiner Anhängerschaft herrscht die Überzeugung, das Vorgehen der Justiz sei Teil einer großen Verschwörung des "globalistischen Establishments", das Trump durch Wahlbetrug um seine Präsidentschaft gebracht habe. Unzählige von ihnen betrachten ihn ohnehin als eine Art Messias, für den bestehende Gesetze nicht gelten. Das sind bedrohliche Symptome eines Überhand nehmenden Irrationalismus. Zum ersten Mal in der Geschichte, so merkte kürzlich ein amerikanischer Kommentator an, ist einem erheblichen Teil der US-Bevölkerung ihr Führer wichtiger als die Demokratie.

Sollte aber Trump ungeachtet seiner kriminellen Praktiken Ende kommenden Jahres erneut ins Weiße Haus gewählt werden, hätte dies nicht nur für die US-Demokratie, sondern für die gesamte freie Welt verheerende Konsequenzen. Es ist damit zu rechnen, dass der Bewunderer von Autokraten wie Putin und Xi Jinping dann seine Macht zu dem Versuch nutzen wird, das institutionelle Gefüge des amerikanischen Rechtsstaats zu zerstören und an allen Kräften Rache zu nehmen, die er für das Scheitern seines ersten Anlaufs zur Errichtung seiner Willkürherrschaft verantwortlich macht - und dass er sich nicht scheuen wird, dafür seine gewalttätige Gefolgschaft zu mobilisieren.

Zu diesen seinen persönlichen Feinden zählt der Megalomane auch die Nato und die EU. Trumps Prahlerei, er werde innerhalb von 24 Stunden für Frieden in der Ukraine sorgen, indem er den ukrainischen Präsidenten zu Konzessionen zwingt, muss insofern sehr ernst genommen, als er damit seine Bereitschaft zur Kollaboration mit dem russischen Aggressor signalisiert. Dazu passt auch seine Drohung, sollten die europäischen Staaten nicht erheblich mehr für die Nato zahlen, werde er Europa "nicht gegen Russland verteidigen."

Sollten sich die USA jedoch von Europa abwenden oder gar überhaupt aus dem Kreis der liberalen Demokratien verabschieden, würde dies nicht nur das westliche Verteidigungsbündnis, sondern auch die Europäische Union kaum überleben. Und das nicht nur, weil sie politisch und militärisch zu schwach aufgestellt ist, um ihren stärksten Partner als globale demokratische Führungsmacht zu ersetzen. Sondern auch, weil sie ohne das enge Bündnis mit den USA von ihrer ideellen Quelle abgeschnitten wäre.

Denn es waren die USA, die nach 1945 den Imperativ der europäischen Einigung durchgesetzt haben. So groß der praktische Beitrag von Vordenkern der europäischen Idee wie den Franzosen Jean Monnet und Robert Schuman gewesen sein mag - ohne das massive Drängen Washingtons hätte sie kaum eine realpolitische Chance auf Verwirklichung gehabt. Mit den ersten Schritten auf dem Weg zu den von ihnen angestrebten Vereinigten Staaten von Europa führten die USA auf dem Kontinent ein völlig neues Prinzip ein: das einer supranationalen politischen Ordnung. Diese fand vor gut siebzig Jahren ihre erste Ausformung in der Montanunion, der europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, und der Bildung der sie leitenden "Hohen Behörde" aus Frankreich, Italien, Deutschland und den Benelux-Staaten. Diese Konstruktion war der Nukleus der späteren EU.

Doch auch in den folgenden Jahrzehnten sind die USA stets so etwas wie der Spiritus rector und Antreiber des europäischen Zusammenwachsens geblieben - bis hin zur deutschen Vereinigung im Rahmen der verstärkten europäischen Integration 1990. Diese hätte ohne die engagierte amerikanische Unterstützung niemals derart reibungslos vonstatten gehen können. Zu groß waren die innereuropäischen Widerstände dagegen, namentlich aus Paris und London.

Washington war auch die treibende Kraft für die zügige Aufnahme der vom Kommunismus befreiten osteuropäischen Nationen in die Nato und die EU. Es übernahm die Führung bei der Befriedung des Balkans in den 1990er Jahren, so wie auch jetzt wieder bei der Ausrüstung der Ukraine für ihren Verteidigungskrieg gegen Russland.

Aus eigener Kraft waren und sind die europäischen Demokratien bis heute nicht in der Lage, den Kontinent effektiv vor der Bedrohung durch aggressive autoritäre Mächte zu schützen. Die Hoffnung, dass sich dies schlagartig ändern würde, sobald sich die Europäer nicht mehr hinter dem starken Rücken der USA verstecken könnten, ist illusionär. Wahrscheinlicher ist im Gegenteil, dass das geeinte Europa ohne ideelle Anleitung durch den amerikanischen Universalismus wieder in nationale Partikularismen zerfallen wird. Sichtbar ist schon jetzt: Parallel zur Erosion der universalistischen Werte in den USA verlieren diese auch hier rapide an Attraktivität. Die Einsicht, dass die errungenen Freiheiten nur im engen Verbund der europäischen Staaten zu verteidigen sind, tritt zunehmend  hinter der Angst zurück, in dieser Gemeinschaft die spezifischen Merkmale der jeweils eigenen nationalen Identität zu verlieren.

Sollten sich die USA tatsächlich in eine zumindest halbautoritäre Macht verwandeln, die sich vom weltweiten Einsatz für die Demokratie verabschiedet, würde dies die Strahlkraft der demokratischen Idee an sich weltweit dramatisch verdüstern. Würde sich das Land, das 250 Jahre lang als das Leuchtfeuer der Demokratie schlechthin galt, von ihr lossagen - wer auf der Welt würde dann noch auf sie setzen?

Was bei den US-Wahlen 2024 auf dem Spiel steht, hat somit eine epochale Dimension. Doch das ganze Ausmaß dieser Herausforderung ist noch nicht in das europäische Bewusstsein gedrungen. Und ebenso wenig, welche Schlüsselrolle dabei dem Schicksal der Ukraine zukommt. Der Sieg der Ukraine würde nicht nur das freie Europa vor einem drohenden großen Krieg gegen das expansive putinistische Imperium des Verbrechens bewahren - oder wahlweise vor der Unterwerfung unter dessen Vorherrschaftsanspruch. Er würde auch den proatlantischen Kräften in den USA enormen Auftrieb geben, indem er der US-Öffentlichkeit eindrücklich vor Augen führte, dass sich das globale Engagement für die Demokratie lohnt. Will Europa das Überleben seiner eigenen wie der amerikanischen Demokratie sichern, muss es daher endlich alle seine Kräfte dafür einsetzen, diesen Sieg herbeizuführen.

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. Hier der Link zur Originalkolumne.