Intervention

Deutliche Schlagseite

Von Richard Herzinger
01.09.2023. Der Papst fabuliert vom großen Russland, während er die Ukraine fallenlässt: In seinen Äußerungen zum Krieg vermischen sich reaktionäre Vorstellungen von Russland als Bollwerk des christlichen Abendlands mit lateinamerikanischem Linkspopulismus. Unterdessen behauptet die Staatsoper Berlin, Anna Netrebkos Lippenbekenntnisse seien eine klare Äußerung gegen Russlands Krieg. Ein Propagandasieg für Russland.
Papst Franziskus hat sich kürzlich in einer Videoadresse an junge katholische Russen in St. Petersburg zum Sprachrohr der russischen imperialen Ideologie gemacht. Seinen Zuhörern rief er zu, sie seien "Erben des großen Russlands der Heiligen, der Herrscher, des großen Russlands Peters I., Katharinas II." Er pries "jenes Reich" als "groß, aufgeklärt, von großer Kultur und großer Humanität", und forderte die Jugendlichen auf, dieses Vermächtnis weiterzuführen: "Ihr seid die Erben der großen Mutter Russland." Schließlich dankte er ihnen "für eure Art zu existieren, für eure Art, russisch zu sein."

Dass das Oberhaupt der Katholischen Kirche in geradezu schwärmerischer Verzückung das Erbe jenes Imperiums preist, auf das sich das putinistische Regime bei seinem Vernichtungskrieg gegen die Ukraine beruft, ist schockierend, kommt aber nicht wirklich überraschend. Schon öfters hat dieser Papst zu erkennen gegeben, dass hinter seiner Weigerung, Russland eindeutig als Aggressor zu verurteilen, mehr steckt als das offiziell vorgeschobene Motiv, sich die Rolle eines unparteiischen "Friedensvermittlers" offenzuhalten. Tatsächlich weist sein neutralistisches Lavieren von Anfang an deutliche Schlagseite zugunsten der Prämissen des großrussischen Nationalismus auf - ebenso wie eine weitgehende Ignoranz gegenüber der ukrainischen nationalen Identität und der Geschichte ihrer Unterdrückung.  

Auf makabre Weise deutlich wurde dies etwa, als Franziskus im vergangenen November für das brutale Vorgehen der russischen Invasionstruppen in erster Linie die in ihren Reihen kämpfenden muslimischen Tschetschenen und mehrheitlich buddhistischen Burjaten verantwortlich machte, da diese "nicht der russischen Tradition" angehörten. Daran zeigte sich, wie tief der Papst den Mythos vom russischen Reich als dem vermeintlichen Bollwerk zum Schutz des "christlichen Abendlands" verinnerlicht hat, mit dem das Zarentum seine Gewaltherrschaft mystisch überhöhte - und den der Putinismus jetzt wiederzubeleben versucht, indem er sich als Verteidiger "christlicher Werte" gegen die vermeintliche westliche "Dekadenz" darstellt.

Dass "wahre", christliche Russen zu exzessiven Gräueltaten fähig sind, passt offenbar nicht in Franziskus´ verklärtes Bild von der "russischen Tradition" der "Heiligen" und "großen Herrscher" mit "großer Kultur und Humanität". Diese Romantisierung der russischen Gewaltgeschichte verbindet sich bei dem argentinischen Papst mit einem linkspopulistischen, in Lateinamerika weit verbreiteten Affekt gegen die Dominanz der USA, im Kontrast zu der Russland als ein unverzichtbares Gegengewicht erscheint. In diesem Sinne sind Äußerungen von Franziskus vom Juni vergangenes Jahr zu verstehen, in denen er der Nato eine Mitschuld am Krieg unterstellte und sich dagegen wandte, dessen "Komplexität auf die Unterscheidung zwischen Gut und Böse zu reduzieren."

Dass sich in den Reihen der Katholiken nicht längst massiver Unmut über diesen Werterelativismus ihres obersten Hirten artikuliert hat, ist irritierend. Die Glorifizierung der russischen "Kultur" und "Humanität", die ungeachtet der in ihrem Namen begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit virulent bleibt, ist jedoch weder auf das Milieu des Katholizismus noch auf das des lateinamerikanischen Antiamerikanismus beschränkt. Auch im deutschen Kulturbetrieb scheint so manchen vor allem die Sorge umzutreiben, als Reaktion auf den putinistischen Vernichtungskrieg könnte die russische Kultur im freien Westen "diskriminiert" werden.

Ein aktueller Ausdruck dieser Haltung ist der für Mitte September geplante Auftritt der russischen Starsängerin Anna Netrebko an der Berliner Staatsoper. Dieser soll stattfinden, obwohl Netrebko ihre Nähe zum russischen Regime immer wieder bekundet hat - so durch gemeinsame öffentliche Auftritte und Fotos mit Wladimir Putin, durch die Entgegennahme von Auszeichnungen aus seiner Hand und durch die Feier ihres 50. Geburtstages im Kreml. Auch hat sie sich zum Beispiel mit dem ostukrainischen "Separatistenführer" Oleg Zarjow und der Flagge "Neurusslands" fotografieren lassen, nachdem Russland die  Krim annektiert hatte und über die ukrainischen Gebiete, Donezk und Luhansk hergefallen war.



Die Berliner Opernleitung jedoch wischt all das mit dem Hinweis vom Tisch, die Sängerin habe sich doch gegen die am 24. Februar letzten Jahres begonnene russische Großinvasion der Ukraine ausgesprochen - und überhaupt dürfe man nicht alle Russen "über einen Kamm scheren." In Wahrheit  aber hat Netrebko nur sehr vage und allgemein erklärt, sie sei gegen den aktuellen Krieg und hoffe, dass er schnell endet. Mit keinem Wort aber hat sie Russland und Wladimir Putin als die alleinigen Urheber von Tod und Zerstörung benannt und deren Handeln verurteilt. Geschweige denn, dass von ihr Proteste gegen den Versuch einer systematischen Ausrottung der ukrainischen Kultur durch den Aggressor zu vernehmen wären, der sich nicht zuletzt im gezielten Beschuss von Kunst- und Bildungseinrichtungen äußert, in denen sie tradiert wird.

Dass den Verantwortlichen diese Erkenntnisse nicht ausreichen, um einen Auftritt Netrebkos in Berlin zum gegenwärtigen Zeitpunkt für unangemessen zu erklären, zeigt, dass im deutschen Kulturestablishment noch immer nicht ausreichend begriffen wird, wie die russische Kriegspropagandamaschinerie funktioniert - und welche herausragende Rolle das Putin-Regime dabei gerade der vermeintlich "unpolitischen" Musik zugedacht hat. Auftritte systemloyaler Künstlerinnen und Künstler auf der internationalen Bühne gelten dem Kreml automatisch als Siege in seinem Propagandakrieg.

Die jüngsten Einlassungen des Papstes und das Verhalten westlicher Kulturinstitutionen illustrieren auf unterschiedliche Weise, wie tief die Ehrfurcht vor einer angeblich im Kern "reinen", von imperialen Ansprüchen unbefleckten "russischen Kultur" weiterhin im westlichen Bewusstsein verankert ist. Und wie sehr eine gründliche Entmythisierung der Geschichte des russischen Imperiums und seines mörderischen Erbes auch im Westen nottut.

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. Hier der Link zur Originalkolumne.
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