Intervention

Die Exzesse dieses Engagements

Von Lukas Pazzini
02.08.2023. Der Fall Fabian Wolff ist eigentlich kein Fall Wolff, sondern ein Fall Zeit online. Es kommt doch nicht darauf an, in einem Faktencheck zu versichern, dass man jede Behauptung Wolffs in seinem 70.000-Zeichen Essay auf Stichhaltigkeit geprüft hat. Es käme darauf an zu erklären, was man an diesem Autor fand, dass man ihm einmal 40.000 Zeichen zur Ausbreitung seiner angeblichen Identität und dann nochmal 70.000 für das Dementi zur Verfügung stellte?
Der Fall Fabian Wolff ist eigentlich kein Fall Wolff, sondern ein Fall Zeit.

Fast schon schien diese neuerliche "Kostümjuden"-Geschichte ein bisschen zu versanden. Die Zeitungen hatten sich nur zögerlich herangewagt. Sein Text war vor zwei Wochen erschienen. Wolff hatte darin offengelegt, dass er doch kein Jude sei, dass seine Mutter ihn belogen hatte, was er erst nach einer langen Recherche erfuhr. War er Offenlegungen von anderen zuvorgekommen? Die Jüdische Allgemeine schrieb, dass sie von Wolffs Nicht-Judentum schon 2021 wusste, jedoch nichts publik machte, weil man einen Suizid fürchtete.

Wolffs erster großer Text war vor zwei Jahren bei Zeit online erschienen. Die Redaktion war so stolz auf diesen Beitrag des zornigen jungen Manns, dass sie eine englische Version ins Netz stellte. Der Kontext war damals die Dirk-Moses-Debatte. Das erleichterte deutsche Publikum hatte durch Moses erfahren, dass die deutsche Vergangenheitsbewältigung eigentlich nur ein "deutscher Katechismus" sei. Da konnte man eine unterstützende "jüdische Stimme für Gerechtigkeit", wie sie Wolff darstellte, gut gebrauchen.

Wolffs großer erster Essay schlug ein. Die Deutschen versprächen sich vom Einsatz gegen Antisemitismus eine Art Transzendenz deutscher Schuld, erklärte er da und warnte vor den "Exzessen dieses Engagements". Und natürlich pries er, nachdem er ausführlich seine jüdische Identität ausgebreitet hatte, die Juden, die den israelischen Staat boykottieren, "und das offen, laut, störend". Aber nicht die Begierigkeit, mit der die Zeit diesem Autor ein Forum verschaffte, wird heute debattiert. Auch die Zeit selbst befasst sich nicht mit dieser Frage in ihrem Faktencheck zu Wolffs zweitem Artikel.

Nach der Veröffentlichung von Mirna Funks Beitrag in der FAZ (unser Resümee), in welchem sie die Beziehung von Wolff zu seiner Ex-Freundin in die Öffentlichkeit trug und wie diese schon 2021 Dokumente zur Verfügung gestellt hatte, um den Fall Wolff zu klären, konzentrieren sich jetzt alle auf Funks letzte Sätze, die bei einer gewissen Lesart "insinuieren", Wolff wäre entscheidender Faktor beim Suizid seiner Ex-Freundin gewesen. Darauf verlagert sich jetzt scheinbar die Debatte also, aufs, jugendsprachlich gesagt, Drama.

Na schön!

Was ich mich aber schon vor zwei Wochen gefragt habe: Was hat sich Zeit online eigentlich gedacht, als sie den zweiten Essay Wolffs online stellte, "den Ballaballa-Essay, der rund 70.000 Zeichen zu viel hat", um Funk zu zitieren?

In ihrem "Faktencheck" zu diesem zweiten Wolff-Essay erklärt Zeit online, dass sie den Text auf Stichhaltigkeit geprüft habe, "wie es unseren Standards entspricht". Folgt man der Verlinkung, so liest man das kleine Ein-Mal-Eins des (deutschen) Journalismus.

Gut, ich glaube der Redaktion, dass sie den Artikel überprüft hat. Aber was war mit Wolffs erstem Text, "Nur in Deutschland", auch schon um die 40.000 Zeichen schwer: Wurden hier die gleichen Standards eingehalten? Seine Argumente gegen die "konservativen Juden", die nicht seine Positionen teilen, sind aufgebaut mit einem "Ich als Jude darf sagen, dass…". Warum hat das niemand überprüft? Da hat sich jemand eine ganze Identität konstruiert, schreibt Artikel für mehrere deutsche Zeitungen, manche aus eben jener erlogenen Identität heraus; Zeit online bekommt scheinbar 2021 sogar einen konkreten Hinweis, dass bei diesem Autor nicht alles mit rechten Dingen zugeht. Und die Reaktion der Redaktion, so erscheint es zumindest, besteht darin, dem Autor 2023 Platz für 70.000 weitere Zeichen einzuräumen, um die Recherche über seine Familie auszubreiten und erst im letzten Drittel seines Textes zu offenbaren, dass das ganze "Diaspora-Boy"-Gehabe auf einer Lüge seiner Mutter basiert? "Üblicherweise wird Betrügern nicht überlassen, ihren Fall selbst in der Öffentlichkeit auszubreiten", schrieb Tom Uhlig am 21. Juli treffend in der Jungle World.

Ich möchte es anders formulieren: Was hat Zeit online in diesem Autor gesehen, das diesen Riesenartikel gerechtfertigt hätte? Davon steht nichts im "Faktencheck" von Zeit online, es kann nur darauf gehofft werden, dass sie das in dem Abschlussbericht zu diesem Fall offenlegt. Was hier fehlt, ist eine Erklärung über die eigenen Motive.

Lukas Pazzini
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