Intervention

Weil das Böse Realität ist

Von Richard Herzinger
25.07.2023. Häufig ist von einem "Kreml-Narrativ" die Rede, wo es in Wahrheit um fabrizierte Lügen geht, die von dem russischen Regime zur Indoktrination der eigenen Bevölkerung sowie zur Destabilisierung der westlichen liberalen Demokratien eingesetzt werden. "Narrativ" ist ein postmoderner Begriff, der dazu diente, auch die Aufklärung als eine "Metaerklärung" zu relativieren. Aber wir müssen das Böse erkennen, das uns meint.
Die Relativierung von Werten und Normen, die für freie Gesellschaften grundlegend sind, spiegelt sich nicht zuletzt im allgemeinen Sprachgebrauch. Bestimmte Ausdrücke und Wendungen werden mit der Zeit so gängig, dass ihre  verschleiernde und nivellierende Tendenz vielen, die sie benutzen,  gar nicht mehr auffällt.

Ein markantes Beispiel dafür ist die seit einiger Zeit zu beobachtende inflationäre Verwendung des Begriffs "Narrativ". Gemeint  ist damit ursprünglich eine sinnstiftende Erzählung, oder vielmehr: ein Muster aus paradigmatischen Erzählungen, mittels derer sich nationale, ethnische oder kulturelle Kollektive ihres Zusammenhalts versichern. "Narrative" in diesem Sinne mögen zwar nicht akkurat der Wirklichkeit entsprechen, sie stellen aber doch mehr dar als nur willkürliche Erfindungen.

Heute wird der Begriff jedoch auch auf alle mögliche Formationen angewendet, deren Überzeugungen auf vorgefertigten Weltbildern statt auf überprüfbaren Tatsachen beruhen. Vielfach ersetzt er sogar Bezeichnungen wie Ideologie, Propaganda oder Geschichtsfälschung.  So ist häufig von einem "Kreml-Narrativ" die Rede, wo es in Wahrheit um gezielt und systematisch fabrizierte Lügen geht, die von dem russischen Regime zur Indoktrination der eigenen Bevölkerung sowie zur Destabilisierung der westlichen liberalen Demokratien eingesetzt werden. Doch selbst manche Zeitgenossen, die dieses verbrecherische Vorgehen in vollem Umfang durchschauen, sprechen von einem "Kreml-Narrativ" - ohne zu bedenken, dass sie der russischen Desinformationsmaschinerie damit implizit eine Dignität zubilligen, die ihr nicht zukommt.

Das Wort "Narrativ" in seiner substantivischen Form ist erst seit Beginn der 1970er Jahre gebräuchlich. Seitdem hat es sich zunächst in den Sozialwissenschaften und dann in der breiteren gesellschaftlichen und politischen Kommunikation durchgesetzt. Es ist ein Produkt der "postmodernen" Philosophie und ihrer Kritik an den ideellen Grundlagen der westlichen Moderne. Den Anfang damit machte der französische Philosoph Jean-François Lyotard, der Postulate des Humanismus und der Aufklärung wie die Befreiung des Individuums von fremder Bevormundung als große "Metaerzählungen" bezeichnete. Der "Postmodernismus" bestritt damit, dass das aufklärerische Selbstverständnis der westlichen Demokratien einen substanziellen Wahrheitskern enthalte, der es über andere "Narrative" hinaushebt.

Diese "Dekonstruktion" westlich-aufklärerischer Rationalität war in den 1970er und 1980er Jahren vor allem für westliche Linke  attraktiv, die an dem absoluten Wahrheitsanspruch des Marxismus zu zweifeln begannen, auf eine radikale Kritik an den Prämissen der liberalen demokratischen Gesellschaften aber nicht verzichten wollten. Doch was ursprünglich eine progressiv-emanzipatorische und "antikolonialistische" Intention hatte, wird heute von rechtsnationalistischen Populisten genutzt, um erfundene "alternative Fakten" und Verschwörungsfantasien in denselben kognitiven Rang zu erheben wie auf rationaler Erkenntnis basierendes Wissen. Nicht zum ersten Mal in der Geschichte hat "linke" Rationalismuskritik damit einen Boden bereitet, der am Ende von rechtsextremem Irrationalismus besetzt wird.

Jenseits solcher umstürzlerischer Absichten bahnte sich der postmoderne Relativismus seinem Weg bis in die Mitte des etablierten intellektuellen Diskurses. Wenn man indes annimmt, dass alle gesellschaftlichen Formationen ihre Legitimation letztlich nur aus für sie jeweils passenden Erzählungen beziehen, wird es schwierig zu begründen, warum einer von ihnen der Vorzug vor anderen zu geben ist. Es setzt dann eine als Toleranz getarnte Gleichgültigkeit ein, etwa nach der Devise: "Du hast dein Narrativ, ich habe meines. Lasst uns nicht darüber streiten, welches wahrer ist, und friedlich nebeneinander koexistieren."

Wenn alle objektive Erkenntnis in "Narrative" aufgelöst wird, relativiert dies zudem das Prinzip individueller Verantwortlichkeit. Nicht die Subjekte selbst steuern demnach ihre Handlungen, sondern von ihnen verinnerlichte "Erzählungen", die den Einzelnen die Richtung ihres Tuns vorgeben.

Diese bequeme Position intellektueller und moralischer Unbeteiligtheit lässt sich jedoch nur so lange durchhalten, bis Kräfte auftauchen, die keinerlei Koexistenz akzeptieren, sondern auf die gewaltsame Unterwerfung aller anderen "Narrative" aus sind. Auf diesen Einbruch der Realität des absolut zerstörerischen Bösen in die zivilisierte Welt aufgeklärter Vielfalt zeigt sich das vom Geist der "Postmoderne" durchdrungene Bewusstsein nicht vorbereitet - hat es doch rationale Unterscheidungskriterien zwischen Wahr und Falsch, Gut und Böse jahrzehntelang verwischt.

Für einen säkularen Begriff des Bösen, der nicht aus metaphysischen oder ideologischen Setzungen, sondern aus der Konfrontation mit ihm abgeleitet ist, hatte dagegen der 2015 gestorbene französische Philosoph André Glucksmann plädiert: "Man kann sich eine Idee des Bösen bilden, weil das Böse Realität ist", formulierte er lakonisch. Das Böse sei keine theologische, sondern "eine menschliche Kategorie, eine medizinische Kategorie, wenn Sie so wollen: Jeder weiß, was Krankheit ist, aber keiner kann definieren, was perfekte Gesundheit ist." In anderen Worten: Wir können zwar nicht  wissen, was das absolute Gute, wohl aber, was das absolute Böse ist. Es wird uns in dem Moment klar, da es sein mörderisches Gesicht zeigt.

Dieser bedrohlichen Wirklichkeit mit unverstelltem Blick ins Auge zu sehen, ist heute das Gebot der Stunde. Worauf sich unsere ganze Aufmerksamkeit richten muss, ist die Realität von epochalen Untaten wie dem russischen Völkermord in der Ukraine - und davon dürfen wir uns nicht durch irgendwelche "Erzählungen" ablenken lassen, mit denen die Täter ihre monströsen Verbrechen ausschmücken. An ihren Taten sollt Ihr sie erkennen, nicht an ihren "Narrativen".

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. Hier der Link zur Originalkolumne.