Efeu - Die Kulturrundschau

Weil Sie nicht zu lachen wussten

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16.04.2024. "Die Geschichte von Salman Rushdie ist die Geschichte unserer Gegenwart", schreibt die SZ anlässlich der Erscheinung seines neuen Buches, in dem er das Attentat auf ihn verarbeitet. Die FAZ freut sich, dass der Autor trotz allem Grauen seinen Humor behalten hat. Der Tagesspiegel begegnet im Buch einem ungewöhnlich privaten Rushdie. Die NZZ besucht das neu sanierte Holocaust-Museum in Amsterdam. Die Nachtkritik tauchte beim Istanbuler Theaterfestival in faszinierende Parallelwelten ab. Die FAZ betritt bei einer Retrospektive von Roni Horn in Köln eine Wunderkammer der Fluidität.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.04.2024 finden Sie hier

Literatur

Buch in der Debatte

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Salman Rushdies Aufarbeitung des Attentats auf ihn, das er nur knapp und mit schweren Folgen überlebt hat. "Die Geschichte von Salman Rushdie ist die Geschichte unserer Gegenwart", schreibt Nils Minkmar in der SZ unter den Eindrücken des iranischen Angriffs auf Israel am vergangenen Wochenende und mit Blick darauf, wie schwer sich der liberale Westen seinerzeit mit dem Fluch des Ayatollahs über Rushdie tat.

Das Buch "schildert das Attentat, die Operationen, die den bereits Totgesagten wieder ins Leben zurückholten, die Reha und die Heimkehr in sein Zuhause und natürlich die Gedanken, die ihm in jeder dieser Phasen durch den Kopf gingen", schreibt Arno Widmann in der FR. "Natürlich ist es ein großartig geschriebenes Buch. Und es ist verstörend. ... Das ist der Rushdie, den ich liebe. Ein genauer, ein mutiger Beobachter, der seine Assoziationen hineinnimmt in das Geschehen, denn sie gehören dazu."

"Rushdie predigt nicht, er erzählt", hält Hannes Stein in der Welt fest. "Er berichtet, wie sich der Angriff für ihn anfühlte - wie überrascht er war, wie es ihm nicht gelang, sich zu wehren: Gewalt, so schreibt er, zerschlägt das Bild, das wir uns von der Realität machen. 'Plötzlich kennt man die Regeln nicht mehr. … Man erkennt die äußere Gestalt der Dinge nicht länger. Die Wirklichkeit löst sich auf und wird durch Unverständliches ersetzt.' Rushdie schildert, wie ihn in diesen ersten Sekunden völlig idiotische Dinge beschäftigten: Sein schöner Ralph-Lauren-Anzug war versaut, in den Taschen seiner Anzugjacke waren seine Kreditkarten und sein Hausschlüssel, hoffentlich stahl die niemand."

Jan Wiele freut sich in der FAZ, dass Rushdie sich seinen Humor und seine Ironie bewahrt hat: "Geradezu verspielt wirken die Buchpassagen über die schmerzhafte und langwierige Reha-Phase, in die Rushdie lauter literarische Assoziationen einbaut." Die Motivation dafür zeigt sich Wiele in einem von Rushdie ersonnenen Gespräch mit dem Attentäter, dem er "hier schließlich die Lektion geben will, dass der Streit um Blasphemie in der Kunst und Literatur letztlich eine Auseinandersetzung 'zwischen Menschen mit Humor und Menschen ohne Humor' sei. 'Ich erkenne Sie jetzt, mein gescheiterter Mörder, mein scheinheiliger Attentäter, mon semblable, mon frère. Sie konnten es mit dem Morden versuchen, weil Sie nicht zu lachen wussten.' Zu einer Einsicht, zum Lachen kommt der Mann freilich nicht, auch nicht in Rushdies wilder Fantasie. 'Unser erdachtes Gespräch ist vorbei. Ich habe nicht länger die Energie, ihn mir vorzustellen, so wie er nie in der Lage war, sich mich vorzustellen.'"

Gerrit Bartels vom Tagesspiegel las "ein sehr privates Buch, trotz Rushdies Aversion gegen das zur Schau gestellte Private in den sozialen Medien." Stellenweise wirke es "wie eine nachgetragene Danksagung an die Familie. Oder auch, bei aller Wertschätzung für die kranken oder toten Kollegen, die er erwähnt, wie ein kleiner canetti-artiger Triumph, überlebt zu haben. Es gibt eine rührende Passage über das Sterben von Martin Amis, viel Mitgefühl für den tetraplegischen Hanif Kureishi, und auch Paul Auster trifft er, um sich mit ihm über dessen Lungenkrebsbehandlung zu unterhalten. Doch macht das nur einen Teil dieses Buches aus. In dem anderen beweist Salman Rushdie von Beginn an, was für ein großartiger Schriftsteller er ist, wie sehr er in und mit der Literatur lebt: 'Das Wichtigste ist, dass Kunst jegliche Orthodoxie herausfordert'."

Frauke Steffens fasst in der FAZ Salman Rushdies Gespräch in der US-Fernsehsendung "60 Minutes" zusammen.



Weitere Artikel: Im Tagesspiegel-Fragebogen gibt der Comiczeichner Emmanuel Guibert Einblick in seine Arbeit. In den "Actionszenen der Weltliteratur" erinnert Marc Reichwein daran, wie sich Henryk Sienkiewicz 1907 mit ukrainischen Studenten anlegte und vor Gericht landete. Tilman Spreckelsen (FAZ) und Hilmar Klute (SZ) schreiben Nachrufe auf den Literaturhistoriker Jürgen Serke. Außerdem bringt die FAZ eine Erzählung des ukrainischen Schriftstellers Serhij Zhadan, der sich vor wenigen Tagen freiwillig an die Front gemeldet hat.

Besprochen werden unter anderem Andrea Petkovićs "Zeit, sich aus dem Staub zu machen" (NZZ), John Nivens "O Brother" (Jungle World), Vigdis Hjorths "Ein falsches Wort" (online nachgereicht von der FAZ), Michael Lentz' "Heimwärts" (Zeit), Laura Lichtblaus "Sund" (FAZ) sowie Romane von Slata Roschal, Leslie Jamison, und Christina Wessely übers Mutter-Dasein (SZ).
Archiv: Literatur

Film

In der FAZ gratuliert Claudius Seidl Ellen Barkin zum 70. Geburtstag. Besprochen wird die auf Disney+ gezeigte, nigerianische Science-Fiction-Serie "Iwájú", die von einem futuristischen Lagos handelt (taz).
Archiv: Film

Design

Sehr interessiert geht tazlerin Brigitte Werneburg durch Olivier Saillards und Emanuele Coccias Ausstellung "The Many Lives of a Garment" im ITS Academy Museum of Art in Fashion in Triest, in der es um "die Inszenierungen des Körpers und damit des Selbst durch Kleidung an den unterschiedlichsten Schauplätzen des Alltags" geht: "Da ist das Kleidungsstück, das ausgezogen am Boden liegt und in dem man noch immer die Form des Körpers erkennt. Die Outfits aber in der klassischen Museumsvitrine werden wie Reliquien andächtig bestaunt, verheißen sie doch eine Begegnung mit ihren Trägerinnen Tilda Swinton und Charlotte Rampling, Ikonen unserer Zeit. Ein Haute-Couture-Kleid, das ein Mannequin vor sich herträgt, macht bewusst, dass diese Schneiderkunst vor allem sich selbst präsentiert. Aufgrund der unverkennbaren Handschrift der Modeschöpferin oder des Designers ist das Kleid insofern Werbung für die Trägerin, als sich das Image des Hauses auf sie überträgt. Es ist selbst noch im Zustand des Verfalls spürbar, wie vom Licht ausgebleichte und vom Tragen formlos gewordene Kreationen von Dior und Balenciaga schmerzlich bewusst machen."
Archiv: Design
Stichwörter: Mode

Musik

Louisa Zimmer porträtiert in der taz die norwegische Indiepopmusikerin Marie Ulven alias Girl in Red. Im Filmdienst verneigt sich Jörg Gerle vor Henry Mancini, der heute vor 100 Jahren geboren wurde.

Besprochen werden Mark Knopflers neues Album "One Deep River" (FAZ), ein von Daniel Harding dirigiertes Wiener Konzert der Münchner Philharmoniker mit Renaud Capuçon (Standard), ein Auftritt von Christin Nichols (Tsp), die Wiederveröffentlichung des Deep-Purple-Albums "Machine Head" (NZZ), ein Konzert des Synagogal Ensembles Berlin (Tsp) und ein von Petr Popelka dirigiertes Konzert der Wiener Symphoniker in Frankfurt (FR).
Archiv: Musik

Bühne

Szene aus "Çirkin" © Salih Üstündağ

In "theatrale Parallel- und Gegenwelten" wurde Nachtkritikerin Esther Slevogt beim großen Theaterfestival in Istanbul hinein gezogen, das während der heißen Phase des Kommunalwahlkampfs stattfand. Hier zeigt eine junge, freie Theaterszene, was sie alles zu bieten hat. Entführt wird Slevogt bei Güray Dinçols Inszenierung von Firuze Engin Stück "Çirkin" ("Freak")  beispielsweise: "In die Welt von Şiva und dem Huhn, das seit Jahrtausenden an Şivas Seite in einer mythischen Zwischenwelt lebt: Wie die hexenhafte Şiva selbst ist das Huhn zur Unsterblichkeit verdammt - also auch zu ewigem quälenden Stillstand. Schon gleich nachdem dieses menschengroße und absonderliche Wesen sich aus seinem Felsennest erhoben hat, beklagt das Huhn diverse fehlgeschlagene Versuche, sich umzubringen, um endlich sterben zu können. Und wendet es sich in dieser Sache hilfesuchend auch gleich ans Publikum. 'Ach, Sie sehen wie ein netter Mensch aus. Könnten Sie mich vielleicht erwürgen!?'"

Weiteres: Die Theater des Londoner West Ends holen sich bekannte Fernsehstars auf die Bühne, berichtet Eva Lapido in der FAZ. Besprochen werden Dagmar Schlingmanns Inszenierung von Georg Friedrich Haas' Oper "Koma" am Staatstheater Braunschweig (taz), Joanna Pramls Bearbeitung von Shakespears "Romeo und Julia" am Staatstheater Nürnberg (nachtkritik), Rahel Thiels Inszenierung der Lortzing-Oper "Hans Sachs" an der Komischen Oper Leipzig (FAZ) und Eike Weinreichs Inszenierung von Viktor Jerofejews "Der große Gopnik" am Theater Freiburg (Welt).
Archiv: Bühne
Stichwörter: Istanbul, Theaterfestival

Kunst

Portrait of an Image (with Isabelle Huppert) (Detail), 2005-2006 Aufgezogene und gerahmte, 50-teilig, Foto: Genevieve Hanson, Courtesy the artist and Hauser & Wirth., © Roni Horn

Eine "collageartige Wunderkammer" betritt SZ-Kritiker Alexander Menden im Museum Ludwig in Köln: Die Ausstellung "Roni Horn - Give Me Paradox or Give Me Death" zeigt eine große Retrospektive der amerikanischen Künstlerin. Menden weiß bei den vielfältigen Motiven gar nicht so richtig, wo er zuerst hinschauen soll. Doch "anders als bei vielen zeitgenössischen Künstlern, bei denen die oft wilde Heterogenität von Materialien und Ausdrucksformen oft Ausdruck von Beliebigkeit, ja Ratlosigkeit zu sein scheint, ist sie bei Horn Programm". Der permanenten Wandelbarkeit und Fluidität ihres Werkes entspricht ihre Vorliebe für das Element Wasser - Menden bestaunt ihre Bilder der Themse in London, die fast wie ein Porträtserie erscheinen: "Ruhiges Wasser (Der Fluss Themse, zum Beispiel)", ist eine Serie von 15 großformatigen Fotolithografien von 1999 von der Wasseroberfläche der Themse in London. Ihre Textur und Farbgebung variiert in erstaunlichem Maße: Manchmal ist sie bleigrau, manchmal grünlich oder blau, manchmal schwarz. Bisweilen wirkt das Wasser bewegt, in anderen Bildern ruhig und kaum gekräuselt. Auf allen Bildern sind Zahlen verteilt wie auf einem Adventskalender, die mit Fußnoten am unteren Rand korrespondieren. Diese enthalten Überlegungen, Fakten und Zitate über die Themse. Dasselbe in seiner unendlichen Variabilität zu zeigen, gelingt hier besonders eindrücklich."

Die Kunst am Bosporus boomt, dank des Oberbürgermeisters von Istanbul, freut sich Ingo Arend in der taz. Der Kunstliebhaber Ekrem İmamoğlu eröffnete unter anderem das erste öffentliche Kunstmuseum in der Hauptstadt, das "İstanbul Sanat Müzesi": "Mit den neu eröffneten Häusern sichert die Stadt Istanbul das kulturelle Erbe der Stadt, das oft einer obsessiven Bauwut zum Opfer fiel. Sie funktionieren nicht nur als Sehenswürdigkeiten und White Cubes, sondern auch als soziokulturelle Zentren für die Nachbarschaft. Vielleicht mögen sie die in Istanbul ohnehin rasante Gentrifizierung noch mehr beschleunigen, aber gerade sind vielmehr alle begeistert von den hochmodernen, stilvoll ausgestatteten Bibliotheken, in die jedermann/frau unangemeldet spazieren, den Laptop auspacken und arbeiten kann."

Weiteres: Antonia Herrscher entdeckt für die taz das Pflanz-Projekt "Gertraudenhain" des Künstlers Christof Zwiener am Berliner Spittelmarkt. Ida Luise Krenzlin erzählt in der Berliner Zeitung, wie Firmen und Hauseigentümer Geld mit Street-Art verdienen. Besprochen wird eine Ausstellung mit Werken der portugiesischen Fotografin Maria Lamas im Gulbenkian-Museum in Lissabon (FAZ).
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Architektur

Außenansicht des Nationalen Holocaust-Museums - Büro Winhov / © Stefan Müller

Hubertus Adam blickt für die NZZ auf das sanierte Nationaal Holocaustmuseum in Amsterdam. Das Architekturbüro Office Winhov hat den ursprünglichen Bau bis auf wenige Ausnahmen nur subtil verändert, so Adam: "Der einzige wirkliche zur Strasse hin sichtbare Neubauteil ersetzt das frühere Direktorenhaus zwischen Schule und Kinderkrippe. Office Winhov wählte einen hellen Klinker für das Volumen, das Eingang, Sicherheitsschleuse, Kassenbereich und das Treppenhaus beherbergt und nach aussen mit einem filigranen, nachts hinterleuchteten Filtermauerwerk in Erscheinung tritt. In der Tiefe des Grundstücks wurde ein weiterer Baukörper errichtet, der Platz für Wechselausstellungen bietet und auch ein Auditorium umfasst. Seitlich blickt man auf eine Mauer zum Nachbargrundstück - es ist jener Ort, an dem einst die Kinder über den Zaun gereicht wurden. Die Räume sind licht, hell und offen; die Gestaltung der Ausstellung der Szenografiebüros Opera Amsterdam und Studio Louter gibt sich zurückhaltend und findet die richtige Balance zu Architektur und Ort. Damit widerstanden die Beteiligten der Versuchung, düstere Themen auch düster zu inszenieren. Aus gutem Grund: Was hier geschah, auf beiden Seiten der Strasse, geschah nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit und nicht klandestin, sondern am helllichten Tag."
Archiv: Architektur