9punkt - Die Debattenrundschau

Es beginnt eine große Verheerung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.05.2024. Gäbe es die Hamas nicht, wäre keiner dieser Menschen tot, sagt der Antisemitismusforscher Jeffrey Herf in der taz - und ist bestürzt über das Bündnis heutiger "Linker" mit Nachfolgern der Nazis. Bei der Debatte um das richtige Fleischessen zur Verhinderung des Klimawandels boxen Hedwig Richter und FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube jetzt ohne Handschuhe. Die FAZ informiert auch über Gefahren, die von Gagausien ausgehen. Für Welt-Autor Thomas Schmid verkörpert Claudia Roth die Tendenz zu einer Verstaatlichung der Geschichtsdebatten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.05.2024 finden Sie hier

Politik

"Gäbe es die Hamas nicht, wäre keiner dieser Menschen tot", sagt der Antisemitismusforscher Jeffrey Herf im Gespräch mit Jonathan Guggenberger von der taz, "Die Hamas hat vierzig Jahre lang klar und unverblümt gesagt, was sie mit Juden tun wird. In diesen vielen Jahren erhielten ihre Drohungen nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdienten." Herf schildert in seinem neuesten Buch die drei Spielarten des Antisemitismus von links, rechts und von islamistischer Seite. Spätestens seit dem 7. Oktober hat sich für ihn eine unentwirrbare Mischung der drei Strömungen gezeigt: "Menschen, die sich selbst als links oder liberal betrachten, nehmen eine Organisation billigend in Kauf, die ihre Wurzeln in einer Mischung aus religiösem Fundamentalismus und dem Vernichtungsantisemitismus der Nazis hat. Die Hamas ist eine Bewegung der extremen Rechten: Ihre Auslegung der islamischen Religion ist islamistisch, ihre entsetzlichen Ansichten über Frauen, Queers, Juden und natürlich über die Demokratie sind rechts. Warum also machen sich junge Linke unkritisch für sie stark? Nun, sie definieren Israel als einen rassistischen Staat. Wer gegen Israel kämpft, muss also auf der richtigen Seite stehen."

Die Journalistin und Medienwissenschaftlerin Charlotte Misselwitz, mit einem jüdischen Israeli verheiratet, versucht ebenfalls in der taz eine mittlere Position zu beziehen. Eigentlich zähle sie sich zur "Ja,aber"-Fraktion: "Die Gewalt der Hamas war unverhältnismäßig, ja. Aber: Auch die Gewalt der Israelis in den vorherigen Kriegen in Gaza, ebenso wie im Jetzigen, ist unverhältnismäßig. Dieses 'Ja, Aber' kann ich nicht abstellen." Und dann das zweite Aber: Sie bekennt auch ihre Angst, "dass selbst die Progressiven im propalästinensischen Camp kein Zusammenleben mehr wollen. Dass sie die Hamas vielleicht doch gut finden." Und dann wieder ja, aber: "Ja, da ist das Sicherheitsbedürfnis der Israelis nach der Hamas-Attacke, da ist das Bedürfnis, die Täter bestraft zu sehen. Aber, da ist auch die Schuld angesichts der massiven zivilen Verluste durch diesen Krieg, das Wissen, dass auch dieser Krieg kaum mehr als Zerstörung bringt - und nicht die Zerstörung der Hamas. Da sind die viel höheren Todeszahlen in Gaza, der anhaltende Terror. Dann wieder gibt es die traumatischen Erinnerungen an die Pogrome, den Holocaust. Eigentlich müssten wir alle, im Herzen gebrochen, ein Ende der Gewalt fordern. Warum ist das nicht so?"

Außerdem: Patrick Bahners begrüßt in der FAZ ein neues amerikanisches Gesetz, das die Antisemitismusdefinition der "International Holocaust Remembrance Alliance" (IHRA) in Antidiskriminierungsklauseln übernimmt - obwohl ihm die Definition der "Jerusalemer Erklärung", die den Wunsch, Israel auszulöschen, als "nicht per se" antisemitisch definiert, womöglich noch lieber gewesen wäre.
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Ideen

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Der Streit um das neue Hedwig Richter-Buch nimmt kein Ende (unsere Resümees). Richter antwortet heute in der FAZ recht deutlich auf die Attacke des FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube und erklärt nochmal, warum sie das von ihr und Bernd Ulrich gepriesene Regieren mit Dekreten, in die die Bürgerschaft freudig einstimmt, für die richtige Revolution hält: "Zur Revolution gehört ein Ende des Normalismus, der radikal und zerstörerisch geworden ist: Der aktuelle Fleischkonsum, das Autofahren, die Fliegerei, die Klamotten, unser ganzer Alltag ist durchtränkt mit Zerstörung, die Politiker nicht noch befeuern sollten (Fliegt, dass es kracht! Schaut euch meine Wurst an!). Sich aus der alltäglichen Zerstörung zu befreien, das ist für die westlichen Länder - für Politik, Bürger, Wirtschaft, sogar für das Feuilleton - das große Emanzipationsprojekt des 21. Jahrhunderts."

Jürgen Kaube kann es nicht lassen und kommt nochmal auf Hedwig Richters Kreuzfahrt 2019 zurück, über die sie damals beschwingt tweetete (Tweets, die sie nicht gelöscht hat, wie man ihr zugute halten muss) und die sie heute ebenfalls per Tweet bedauert:


Kaube versteht nicht, warum Richter seinen Hinweis auf diese Sünde als "ad hominem"-Attacke kritisiert. Er verstehe das nicht als hämisch, "denn es beruht auf einer Rechnung. Je nach Schätzung verursacht eine Kreuzfahrt auf Richters Strecke einen Ausstoß zwischen einer und 1,9 Tonnen Kohlendioxid pro Passagier. Hinzu kommen die Flüge, um ins Südchinesische Meer und wieder zurückzugelangen. Sie bringen es auf etwa 2,3 Tonnen CO2-Emission pro Kopf. Der durchschnittliche Konsum von Fleisch, gewichtet nach den Tierarten, kommt in Deutschland inzwischen auf eine jährliche Emission von knapp 300 Kilogramm CO2. Für jene Kreuzfahrt hätte sie also etwa zehn Jahre lang Fleisch essen können."

Schöne Allgemeinheiten, die in diesem Falle Hedwig Richter trösten könnten, sagt wie stets Carolin Emcke in ihrer SZ-Kolumne: "Die hasserfüllten Anfeindungen und mutwilligen Denunziationen, mit denen seit Jahren alle überzogen werden, die sich für eine humanistische, nachhaltige Lebensform einsetzen, zeigen Wirkung. Die sich stetig radikalisierende Verrohung, die sich gegen 'die Eliten', 'die Feministinnen', 'die Klima-Kleber', gegen 'Öko-Diktatur' richtet, die um sich greifende Gewalt eines sich selbst ermächtigenden Mobs - sie verbreiten Angst und Schrecken."
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Europa

Die Republik Moldau ist nicht nur durch das Randgebiet Transnistrien gefährdet, sondern auch durch das Gebiet Gagausien, berichten Friedrich Schmidt und Michael Martens in der FAZ. Das teils an die Ukraine grenzende Gebiet, flächenmäßig doppelt so groß wie die Stadt Berlin, aber nur von 135.000 Menschen bevölkert, hat einen autonomen Status - und Politiker, die sich Putin mit viel Geld gefügig macht. "Die Gagausen sind zwar ein turksprachiges Volk, doch religiös dem orthodoxen Christentum zugehörig. In der Identität steht für eine große Mehrheit der Gagausen das religiöse Bekenntnis weit über der sprachfamiliären Herkunft. Das musste auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan erfahren, als er im Jahr 2018 Comrat besuchte. Die Türkei bemüht sich eifrig um die Köpfe und Seelen der Gagausen, finanziert den Bau von Schulen, Kindergärten und sogar einer Universität, unterhält auch ein Generalkonsulat in Comrat. Doch in der Beliebtheit steht sie bei der gagausischen Bevölkerung eindeutig im Schatten Russlands."
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Stichwörter: Gagausien, Moldau, Republik Moldau

Medien

Der Medienprofessor Stephan Weichert hält es in der SZ mit dem US-Journalisten Jim VandeHei, Gründer des hochprofitablen Poitikmediums Axios, und plädiert für handgemachten Journalismus. Ganz ohne KI wird es aber nicht gehen: "Während einige Berufsrollen in den Redaktionen durch den zunehmenden KI-Einsatz früher oder später aussterben, hat etwa die Washington Post ein neues Tätigkeitsfeld erfunden. Seit Kurzem beschäftigt sie Phoebe Connelly als 'leitende Redakteurin für KI-Strategie und KI-Innovation'. Connelly ist so etwas wie der erste KI-Watchdog der Branche: Ihr Hauptjob ist es laut Washington Post zu überwachen, wie die hohen Standards der Zeitung mithilfe oder vielmehr: trotz des Einsatzes von KI auf allen redaktionellen Ebenen gewahrt bleiben können."
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Stichwörter: Künstliche Intelligenz

Geschichte

Eines der größten Verbrechen des britischen und später auch französischen, niederländischen und japanischen Kolonialismus kommt in den populäreren postkolonialen Diskursen kaum vor: Wie Britannien China anfixte und opium-abhängig machte und die Opium-Sucht sogar mit Kriegen, an denen sich auch die Deutschen beteiligten, durchsetzte. Die koreanisch-schweizerische Autorin Hoo Nam Seelmann kommt in der NZZ darauf zurück: "Jahr für Jahr gelangt mehr Opium nach China. Es beginnt eine große Verheerung, die Zahl der Abhängigen nimmt dramatisch zu. Der Versuch des Kaisers, den Schmuggel zu unterbinden, führte zu zwei Opiumkriegen (1839-1842, 1856-1860). China unterlag, musste Hongkong abtreten und hohe Reparationszahlungen leisten, weil es Tonnen von britischem Opium vernichtet hatte. Als folgenschwer erweist sich, dass China gezwungen wird, den Opiumhandel zu legalisieren und westliche Handelsleute ins Land zu lassen. Nun entwickelt sich China zu einem Eldorado des Opiumhandels, und Millionen Chinesen finden den Tod."
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Stichwörter: Opiumkrieg, Kolonialismus

Kulturpolitik

Sehr skeptisch analysiert Welt-Autor Thomas Schmid Claudia Roths "bunte" Rezepte für die Kulturpolitik und noch mehr ihr Konzept für eine neue Erinnerungskultur, in der er auch auch eine Art Versuch staatlicher Lenkung von Erinnerung wittert: "Es hat in der Geschichte der Bundesrepublik mehrere geschichts- und erinnerungspolitische Wendepunkte gegeben: die Verjährungsdebatten im Bundestag und der Öffentlichkeit, der Jerusalemer Eichmann- und der Frankfurter Auschwitz-Prozess, der 'Historikerstreit' der achtziger Jahre, die Debatte über das Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Stets waren das Entwicklungen, die von der Öffentlichkeit, von Historikern, Staatsanwälten, Künstlern, Schriftstellern in Gang gesetzt wurden. Claudia Roths 'Rahmenkonzept Erinnerungskultur' ist dagegen der erste Versuch, der Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit mit staatlicher Auctoritas verbindlich einen Rahmen zu geben und eine Richtung zu weisen. Autoritärer geht es kaum."
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