9punkt - Die Debattenrundschau

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

Februar 2024

Diese lukrative historische Versöhnung

29.02.2024. Während Deutschland und die Angehörigen der Opfer immer noch mit der Ungewissheit leben, wer die "dritte Generation" der RAF überhaupt ist, wohnte die jetzt festgenommene Daniela Klette unbehelligt in Kreuzberg, erging sich in der Natur, pflegte ihr Facebook-Profil und ihre Capoeira-Künste. Warum lässt man die "dritte Generation" nicht sowieso in Ruhe, fragt die taz. Schluss mit der Verklärung der RAF, ruft dagegen der Tagesspiegel, wo auch Michael Buback interviewt wird. Außerdem: Größer als jetzt war die Kriegsgefahr in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg nie, konstatiert die Zeit. Und Macron und Scholz zerstreiten sich bei der Gelegenheit.

Welch beklagenswerte europäische Kakofonie

28.02.2024. Es braucht dringend einen Friedensplan in Israel, der die Golfstaaten mit einbindet, rufen Natan Sznaider und Navid Kermani gemeinsam in der SZ. In der Welt ermutigt Deniz Yücel die deutsche Öffentlichkeit, auch dumme Meinungen auszuhalten. Die taz fordert die Institutionen indes auf, antidemokratischen Personen den Zutritt zu verweigern. In Time denkt der Jurist Noah Feldman über den neuen Antisemitismus nach. Und bei Spon fragt der Sicherheitsexperte Christian Mölling: Wovor hat der Kanzler Angst?

Die Deutschen träumten noch

27.02.2024. In Belarus sind bereits fünf Oppositionelle in Haft gestorben, zuletzt Ihar Lednik, berichtet die FAZ. In der NZZ erinnert Sergej Gerassimow an das erste ukrainische "Guernica" 1708. Die SZ fragt sich, ob die verfehlte deutsche Russlandpolitik noch jemals aufgearbeitet wird. Die Welt fragt, ob Correctiv wirklich unabhängig ist. Die NZZ erklärt, warum es in China so viele leerstehende Wohnungen gibt.

Ein Stück Realitätsverweigerung

26.02.2024. Die Welt fragt, wie Israel nach wenigen Monaten zum angeblichen Alleinschuldigen des Gazakriegs werden konnte. Die FAZ liest den Untersuchungsbericht zum Netzwerk des Sexualforschers Helmut Kentler, der in den 70er Jahren mit Billigung der Behörden Jugendliche an pädophile Pflegeväter vermittelte. Die SZ freut sich auf ein Telefon ohne Apps. Die NZZ erinnert am Beispiel von Rudolf Margolius an die Slansky-Prozesse. Die taz stellt den Niederländer Salo Muller vor, der die Bahn mitverantwortlich macht für die Deportationen in die Konzentrationslager.

Eine Art München 1938 in Zeitlupe

24.02.2024. Vor zwei Jahren überfielen die Russen die Ukraine. Ja, die Russen, denn "das Volk schweigt und macht alles mit", sagt Michail Schischkin im Tagesspiegel. Von Russland dauerhaft besetzte Gebiete sind verloren, warnt die ukrainische Journalistin Anastasia Magasowa in der taz, denn Putin arbeitet in solchen Gebieten mit den Methoden des NKWD, bestätigt Galia Ackerman in Deskrussie. Außerdem verweisen wir auf Interventionen von Nataliya Gumenyuk, Viktor Jerofejew, Timothy Snyder, Richard Herzinger und Timothy Garton Ash. Außerdem: Die Ruhrbarone wollen nicht schrumpfen.

Hier hat sich etwas verschoben

23.02.2024. Morgen vor zwei Jahren überfiel Putin die Ukraine. Heute erscheint das autoritäre Russland so stark wie eh und je, während die liberalen Demokratien schwächer werden, notiert die taz. Die Welt attackiert die Putin-Knechte von der AfD. Im Perlentaucher glaubt Richard Herzinger nicht, dass die um ihren Glamour bekümmerten arabischen Despotien auch nur im mindesten an den Palästinensern interessiert sind. Und die SZ fragt: Was ist mit den Ruhrbaronen? Sie sind links, sie sind rechts, und sie lancieren alle wichtigen Debatten.

Das neue Spiel mit Ähnlichkeiten

22.02.2024. Die französische Russland-Historikerin Françoise Thom will im Gespräch mit der FR Anzeichen einer Putin-Dämmerung erkennen, und sie beleuchtet die Ursprünge der französischen und deutschen Russophilie. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger spricht sich in der taz gegen ein AfD-Verbot aus. Daily Mail stellt einen neuen Bericht zur sexuellen Gewalt der Hamas-Terroristen am 7. Oktober vor. Ijoma Mangold ist in der Zeit nicht wohl beim kommenden Demokratiefördergesetz, mit dem sich der Staat seine Zivilgesellschaft gleich selber fabriziert.

Omas wählen signifikant progressiver

21.02.2024. Das Bemerkenswerte an Alexej Nawalny war, dass er auch gegen die lange Tradition imperialer Machtausübung in Russland kämpfte, hält der Historiker Martin Schulze-Wessel auf Zeit Online fest. Auf geschichtedergegenwart glaubt die Politikwissenschaftlerin Hanna Perekhoda, dass die russischsprachigen Ukrainer die Russen lehren können, wie man ohne Imperium leben kann. In der FAZ legt Felix Klein dar, wie der Postkolonialismus auf die Relativierung des Holocausts setzt, um sein starres Täter-Opfer-Schema durchzusetzen. Und alle trauern um Jan Assmann.

Gebt den Mördern nicht die Hand

20.02.2024. In Russland wird die Trauer um Alexei Nawalny schnell wieder verfliegen, glaubt Viktor Jerofejew in der NZZ. Im Tagesspiegel möchte die Schriftstellerin Gabriele Stötzer die Kraft des Glaubens an das Gute nicht unterschätzen. In der SZ ruft Irina Scherbakowa den Politikern im Westen zu: Hört auf, auf Frieden und Einigung mit Mördern zu hoffen. Die FAZ fragt, warum sich kein deutscher Politiker für Julian Assange einsetzt. In La regle du jeu erinnert Bernard-Henri Lévy an den antitotalitären Intellektuellen Raymond Aron.

Hier endet der Dialog

19.02.2024. In der Welt versteht Natalja Kljutscharjowa erst nach dem Tod Alexei Nawalnys, warum dieser nach Russland zurückgegangen war. In der SZ erzählt der Autor Hasnain Kazim, wie die Kollegin Ronya Othmann beim Karachi Literatur Festival Opfer einer unheilvollen Allianz aus einer britischen Professorin, sich für links haltenden Feministinnen und Islamisten wurde. Ausgerechnet den vom IS systematisch verfolgten Jesiden droht mit der neuen Asylpolitik der Bundesregierung die Abschiebung in den Irak, berichtet Qantara. Wer im Iran zum Christentum konvertiert, riskiert sein Leben, lernt die taz von der britischen NGO Article 18.

Dass wir ehrliche Menschen waren

17.02.2024. Alexei Nawalny ist nach Angaben der russischen Behörden tot. Es bestehen keine Zweifel: Das war politischer Mord. Sogar im Gefängnis war er noch eine große Bedrohung für Putin, schreibt Anne Applebaum in Atlantic. Niemand wurde Putin so gefährlich wie er, weiß auch die SZ, deshalb wurde er ermordet. Die FAZ zeichnet seinen Kampf gegen den Kreml nach. Sicherheitsversprechen sind schön und gut, meint die SZ anlässlich der Konferenz in München, am Ende geht es aber um Krieg oder Frieden. Warum konzentriert man sich bei der Frage der Sicherheit nur auf militärische Belange, fragt die taz.

Ambivalenzen gab es trotzdem

16.02.2024. Die UNRWA ist der institutionalisierte Antizionismus - und schadet letztlich den Palästinensern, meint Sascha Lobo auf Spon. Der Krieg in Gaza zeigt vor allem, wie wenig Zutrauen wir in die Wehrhaftigkeit Europas haben können, glauben Herfried Münkler und Carlo Masala in der SZ. In der FAZ halten Claus Leggewie und Horst Meier den Verfassungsschutz für ebenso nutzlos wie ein AfD-Verbot. Vorausschauend hat Selenskyj Mechanismen initiiert, die der Ukraine eine Fortsetzung des Kampfes erlauben, ohne von den USA abhängig zu sein, erzählt dessen Biograf Simon Shuster im Tagesspiegel

Die lautstark schreienden Extremen

15.02.2024. Die Zeit rät Deutschland, langsam darüber nachzudenken, ob man sich in puncto atomare Abschreckung mehr auf Frankreich als auf die USA verlassen sollte. Ebenfalls in der Zeit erklärt Philip Manow, warum Populismus die "demokratische Antwort auf einen undemokratischen Liberalismus" ist. Im Tagesspiegel erhebt der ehemalige Vize-Generalstabschef des israelischen Militärs, Jair Golan, große Vorwürfe gegen Netanjahu. Die FR erinnert an das Ende des Afghanistan-Krieges vor 35 Jahren, der eine Millionen Afghanen das Leben kostete. Die FAZ informiert mit einer neuen Studie über den neuesten Trend auf TikTok: Antisemitismus.

Ein Schuss Gelassenheit und eine Prise Nachsicht

14.02.2024. In der FAZ schildert die russische Autorin Anna Narinskaya, wie Gerichte in Russland Rechtmäßigkeit inszenieren, während die Gesellschaft zermürbt wegschaut. Zeit Online fordert Deutschland und die USA auf, mit Blick auf Rafah die militärische Hilfe für Israel einzustellen. Bei Spon glaubt der Politologe Torben Lütjen, dass die Republikaner die Nato nicht mehr brauchen, weil die Nähe zu Putin größer ist. Und in der FAZ kann sich der postkoloniale Historiker Sebastian Conrad Antisemitismus-Vorwürfe gegen sein Fachgebiet nur damit erklären, dass in Deutschland die Erinnerungskultur der Neunzigerjahre aufrechterhalten werden soll.

Dann ist das aus dem Ruder gelaufen

13.02.2024. Ungarn habe er für die nächsten Jahre abgeschrieben, sagt Paul Lendvai in der Welt: Die Zivilgesellschaft sei zu schwach, um gegen Orban anzugehen. Auch die britische Gesellschaft ist gebrochen, dafür hat die Regierung gesorgt, meint A. L. Kennedy in der SZ. Die FAZ protokolliert ein öffentliches Gespräch, in dem die russische Schriftstellerin Alissa Ganijewa schilderte, wie Moskau Dagestan für den Krieg ausbeutet. Bis zum Ende des Jahrhunderts dürfte sich Chinas Bevölkerung fast halbieren, glaubt Alexander Görlach in der Welt. Und die taz blickt auf die Unterdrückung marginalisierter Ethnien im Iran.

Was denken sich diese Leute?

12.02.2024. Auf Zeit Online ermahnt Timothy Garton Ash Europa, die Ukraine nicht zu vergessen. Höhere Rüstungsausgaben begünstigen nur soziale Ungleichheit, glaubt Christoph Butterwegge in der FR. Ebenfalls in der FR vermisst Colin Crouch einen "echten Konservatismus", der vor Rechtsextremen schützt. In der NZZ ist Zeruya Shalev fassungslos über eine Linke, die die Friedensaktivisten in Israel im Stich lässt. Argentiniens Präsident Javier Milei will auch vergewaltigten Frauen Schwangerschaftsabbrüche verwehren, berichtet die Welt.

Bei jeder Gelegenheit sabotiert

10.02.2024. Im Guardian denkt Daniel Levin über eine Konföderation zwischen Israelis und Palästinensern nach. In der FR glaubt Frank Sieren an eine neue Ära in China, in der eine wirtschaftliche Bürgerbewegung mehr mitbestimmt. Es sind "Phantomschmerzen" über den Verlust von Großungarn, der die Ungarn weiter auf Viktor Orban setzen lässt, glaubt Richard Swartz in der NZZ. Bei muslimischem Antisemitismus schaut die Bundesregierung lieber weg, ärgert sich Güner Yasemin Balci, Integrationsbeauftragte in Neukölln, in der SZ. Und der Standard skizziert die Hetzjagd auf Alexandra Föderl-Schmid.

Ein fatales Signal

09.02.2024. Die Ruhrbarone und die taz erinnern die Anti-Rechts-Demonstranten: "Nie wieder ist jetzt" schließt auch den Kampf gegen Antisemitismus mit ein. Auf Spon beklagt Ece Temelkuran derweil eine "Ausgrenzung der dunkleren Gesichter" bei den Demos. Die FAZ ruft jenen, die Deutschland boykottieren wollen, zu: Nicht Palästinenser, sondern Juden werden in der deutschen Hauptstadt krankenhausreif geprügelt. Zeit Online erkennt in der arabischen Berichterstattung über den Nahostkonflikt einen ideologischen Riss. Der Guardian diskutiert über ein AfD-Verbot. Und die Zeitungen verabschieden sich von Alfred Grosser.

Die Falschen müssen das Richtige tun

08.02.2024. Die Zeit erzählt, wie in Russland per neuem Bildungsgesetz schon die Allerjüngsten indoktriniert werden. Ebenfalls in der Zeit erklären die polnischen Intellektuellen Karolina Wigura und Jarosław Kuisz, warum "Souveränität" für Polen etwas anderes bedeutet als für Deutschland. Die SZ glaubt, dass man in Ostdeutschland mehr Mut braucht, um gegen die AfD zu protestieren. Vor Nayib Bukele, der jüngst die Grundrechte in El Salvador aushebelte, ist niemand sicher, konstatiert die NZZ. Alfred Grosser ist gestorben, meldet Le Monde.

Die Duldsamen im Paradies

07.02.2024. Im Guardian fordert Timothy Garton Ash Europa auf, über atomare Aufrüstung nachzudenken. Die taz ermahnt die Linke, an einer Israel-Kritik zu arbeiten, die ohne Antisemitismus auskommt. TikTok ist ein Nährboden für Judenhass und Terrorpropaganda, entnimmt die FAZ einem Report der Bildungsstätte Anne Frank. Die Welt sorgt sich um das Betriebsklima in der SZ. Die SZ fürchtet derweil, dass Benjamin Netanjahu eine "schleichende" neue Nakba plant.

Eine Welt für sich

06.02.2024. Wer die Palästinenser von "deutscher Schuld" befreien will, hat die Geschichte nicht verstanden, sagt der Historiker Moshe Zimmermann in der FR. Die Jüdische Allgemeine erkennt Gemeinsamkeiten zwischen AfD und dem Bündnis Sahra Wagenknecht, vor allem wenn es um den Holocaust oder Russland geht. Antisemitische Straftaten von Muslimen werden vom Bundeskriminalamt häufig Rechtsextremisten zugeordnet, schreibt die NZZ. In Russland lebt der Leninismus weiter, fürchtet Richard Herzinger im Perlentaucher. Wenn die Boomer gehen, kommt die Kehrwoche zurück, glaubt Heinz Bude in der Welt.

24 Stunden am Tag unter ständiger Beobachtung

05.02.2024. Europa hätte auch ganz allein die Mittel, sich Russland entgegenzustellen, mahnt der Osteuropahistoriker Martin Schulze Wessel in der FAZ, es muss nur wollen. Glaubt man der FAS, ist Deutschland aber nur bedingt abwehrbereit. Die SZ fragt, was das AfD-Programm zum Thema Frauen zu bieten hat und wendet sich mit Grausen ab. Die  Abhöraktion gegen die eigene Redaktion war total richtig, insistiert die SZ in eigener Sache. In Berlin kam es laut Jüdischer Allgemeiner zu einer antisemitischen Attacke gegen einen Studenten. In Zeit Online spricht Jewgenija Kara-Mursa über die drakonischen Haftbedingungen ihres Mannes Wladimir Kara-Mursa.

Der Betriebsrat stimmte zu

03.02.2024. Scharf prangert Zeruya Shalev in der SZ die Mitverantwortung der Regierung Netanjahu am Möglichwerden des 7. Oktober an. Die taz staunt, wie leicht gerade die Kulturszene auf quasi faschistische Narrative hereinfällt. 54books lotet die Krise des Kulturjournalismus aus. Der Medieninsider deckt auf: Wer bei der Süddeutschen arbeitet, arbeitet bei Big Brother, auch die "Reporter ohne Grenzen" sind bestürzt.

Am Ende beigedreht

02.02.2024. Alle sind erleichtert, dass Viktor Orban vor der EU kleinbeigeben musste: die hat hier erfolgreich ihre Stärke demonstriert, meint die FAZ. Orban wurde klar, dass er sonst niemanden hat, freut sich die SZ. Sofi Oksanen prangert die sexualisierte Gewalt der russischen Armee an: bis vor ein paar Jahren wollte ihr auch in Deutschland niemand zuhören, erzählt sie der Zeit. Michail Schischkin erklärt in der Welt, warum man Russland vor Putin retten muss. Die Debatte um Umverteilung wird leider wieder mal von rechts bestimmt, konstatiert Linus Westheuser auf Zeit Online.

Ausdruck eines Krisengefühls

01.02.2024. Die Zeit der Geheimbündelei ist vorbei. In ihren neuesten Schriften tritt die extreme Rechte offen und aggressiv an, beobachtet die Zeit. Die Parole "From the River to the Sea" ist "nicht per se" antisemitisch, findet geschichtedergegenwart.ch. FAZ und taz diskutieren über die Proteste gegen die AfD und die Frage, was sie mit der Partei machen. Russland schikaniert Regimegegner nun auch noch mit der Enteignung von Besitztümern, berichtet die NZZ.