Magazinrundschau

Zeit, eine Kuhherde anzuschauen

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
07.05.2024. Die London Review lernt von Dan Healey, dass man selbst im Gulag eine Art Karriere machen konnte. Tablet lernt bei Otto Schneid, wie in der Zwischenkriegszeit Warschau zur sichtbarsten jüdischen Stadt der Welt wurde. New Lines besucht die Joseonjok, die koreanische Minderheit in China. Im New York Magazine skizziert Jim VandeHei die Zukunft des Journalismus. In Literary Hub erklärt Yan Lianke, warum er nicht gern als der meist zensierte Schriftsteller Chinas bezeichnet wird. Der New Yorker lernt, wie man zum Autisten gemacht werden kann.

London Review of Books (UK), 09.05.2024

Sheila Fitzpatrick stellt ein Buch des Oxford-Historikers Dan Healey über die Ärzte vor, die im sowjetischen Gulag-System eingesetzt wurden - und dort teilweise Karriere machten: "The Gulag Doctors: Life, Death and Medicine in Stalin's Labour Camps". Eine Auseinandersetzung mit den Gulag-Ärzten verkompliziert Fitzpatrick zufolge das vor allem durch Alexander Solschenizyns Literatur geprägte Bild der sowjetischen Arbeitslager: "Solschenizyn beschrieb den Gulag als eine Welt, die in der restlichen Sowjetunion unsichtbar war, parallel zu ihr existierte. Der Gulag brachte seine eigene Moral und seine eigenen Muster hervor, die sich vom restlichen Russland unterschieden. Aber an seinen privilegierten Rändern behielt der Gulag eindeutig sowjetische Charakteristiken. Patronage- und Klientelverhältnissen bildeten einen wichtigen Teil der sozialen Struktur. Bildung wurde wertgeschätzt, Wissenschaft respektiert. Die Geheimpolizei betrieb ihre eigene Forschungsinstitution, die von qualifiziertem Personal betrieben wurde, das aus der Gesamtheit der Gefangenen ausgewählt wurde (für eine kleine Gruppe, zu der Solschenizyn zählte, öffnete sich hier ein alternativer Fluchtweg vor der harten Arbeit). Aber auch in den Lagern wurden Ärzte, darunter inhaftierte Ärzte, dazu ermutigt, Forschung zu betreiben und ihre Resultate auf Konferenzen vorzustellen (auf Gulag-Konferenzen - die wissenschaftlichen Konferenzen im Kernland waren ihnen nicht zugänglich), die als wichtige Orte für den sozialen Austausch erinnert warden."

Können Nonnen fliegen? Diese Frage steht am Ausgangspunkt eines Essays, in dem sich Malcolm Gaskill entlang zweier Buchveröffentlichungen mit der Rolle der Magie vor allem in der Frühmoderne beschäftigt. Keineswegs, lernen wir, kann man die Grenzen zwischen Aberglaube und Wissenschaft im historischen Rückblick eindeutig ziehen: "Bereits im Jahr 1500 wurde der Begriff 'magie' - oder 'magique', 'magico', 'magic' - abwertend benutzt. Die Magi bemühten sich, ihren Berufsstand mit Bezeichnungen wie 'okkulte Philosophie' oder 'Naturmagie' zu adeln, und sich damit von diabolischen Einflüssen abzugrenzen. Sie stellten ihr Feld als eine neue Entwicklung dar, die im späten 15. Jahrhundert ihren Ausgang genommen hatte, eine punkartige Reaktion auf die verstaubte Zauberei des Mittelalters. Die Hochrenaissance hatte begonnen und die Schranken fielen. Zu den Verfechtern der Naturmagie zählten Schausteller und Wissenschaftler, Apostaten und Propheten, umherziehende Wahrsager und Berater am Hof, allesamt waren sie auf die eine oder andere Art mit intellektuellen Bestrebungen beschäftigt. In ähnlicher Manier war die Dämonologie, ein naher Verwandter der Magie, keine eindeutig definierbare akademische Disziplin, sondern ein Ausgangspunkt für Entwicklungen in der Geschichtswissenschaft, der Medizin, dem Recht und so weiter. Die Magie beschäftigten sich mit allem, was in ihr Blickfeld geriet. Der neapolitanische Polymath Giambattista della Porta schrieb komische Bühnenstücke, aber auch Abhandlungen über Naturphilosophie, außerdem entwickelte er ein Experiment zur Herstellung künstlichen Donners. Das Ergebnis knallte eindrucksvoll und blieb harmlos."

Weitere Artikel: Stefanos Geroulanos besucht die Ausstellung "Prehistomania" im Pariser Musée de l'Homme und richtet dabei sein Augenmerk vor allem auf die Arbeiten der Kopistinnen Katharina Marr, Elisabeth Pauli, Agnes Schulz, Maria Weyersberg oder Elisabeth Mannsfeld, die unter teils schwierigsten Bedingungen die in Stein geritzten Zeichnungen und Kunstwerke aus der Frühgeschichte kopierten. Azadeh Moaveni wendet viel Zeit und Zeilen auf, um die Zahl der vergewaltigten Israelinnen durch die Hamas in Frage zu stellen, um dann den Israelis sexuelle und nicht sexuelle Gewalt gegenüber Palästinenserinnen zu unterstellen. Rosemary Hill stellt Avril Horners Biografie der britischen Autorin und Künstlerin Barbara Comyns vor.

Tablet (USA), 06.05.2024

Alyssa Quint schreibt einen wunderschönen Artikel über drei enzyklopädische Bücher, die einen Überblick über jüdische Künstler in ganz Europa vor 1945 geben, deren Karrieren fast alle durch die Nazizeit zerstört wurden. "Umgekumene yidishe kinstler in poylin" (Ermordete jüdische Künstler in Polen) von Józef Sandel (1894-1962), "Undzere farpaynikte kinstler" (Unsere gepeinigten Künstler) von Hersh Fenster (1892-1964) und ganz besonders "Der Jude und die Kunst Probleme der Gegenwart" des österreichischen Kunsthistorikers Otto Schneid, ein Buch, das anders als die beiden anderen vor dem Holocaust geschrieben wurde und leider nur im Manuskript vorliegt - ein Projekt für deutsche Verlage? Schneid hatte auch nach dem Krieg noch versucht, es zu publizieren, ohne Erfolg, erzählt Quint. Für das Buch hatte er Briefe an zahlreiche Künstler geschrieben, die ihm mit Selbstporträts und biografischen Briefen geantwortet hatten. Paris, erzählt Quint, war die europäische Hauptstadt der künstlerischen Diaspora. Als Künstler war man zwischen den Kriegen Pariser, die Nationalität zählte nicht. Die andere wichtige Stadt war Warschau: "Schneid war sich bewusst, dass Polen jüdische Künstler nicht nur nach Paris schickte, sondern sie auch auf eigenem Boden gedeihen ließ. Mit 300.000 Juden, die etwa ein Drittel der Bevölkerung ausmachten, wurde Warschau in der Zwischenkriegszeit sowohl zum Mekka des polnisch-jüdischen Kulturlebens als auch zur sichtbarsten jüdischen Stadt der Welt. Nach Angaben der Kunsthistorikerin Renata Piatkowska besuchten von 1923 bis 1939 120 jüdische Künstler die berühmte Warschauer Akademie der Schönen Künste. Die meisten polnischen Städte nahmen an der kulturellen Blütezeit der Zweiten Polnischen Republik teil, wobei die Juden eine bedeutende Rolle spielten. In Krakau, Wilna, Bialystok, Lodz und Kowno spielten sowohl jüdische als auch nichtjüdische Institutionen (Akademien, Zünfte, Verlage, Theater) sowie die Stadtverwaltungen eine Rolle bei der Förderung jüdischer Talente. So wurden die Kunstakademien zu den Orten der natürlichsten jüdisch-nichtjüdischen Interaktion." Der Artikel ist wunderschön illustriert - Das Jüdische Museum in Paris hatte 2022 das Buch von Hersh Fenster zum Anlass einer Ausstellung genommen. Wäre das nicht auch eine Idee für deutsche Museen?
Archiv: Tablet

Elet es Irodalom (Ungarn), 03.05.2024

Vor kurzem erschien "Das Märchen der Menschen", der sechste Roman des aus Siebenbürgen stammenden Schriftstellers Zsolt Lang. Aus diesem Anlass spricht Lang im Interview mit Csaba Károlyi über die Präsenz und die Bedeutung der Themen seiner früheren Werke beim Schaffensprozess. "Frühere Themen? Sie bewegen mich nicht. Wer auch immer 'Die Befreiung von Perényi' geschrieben hat, glaubte an Seelenwanderung, das Bestiarium ist mit der Religion vereinbar, aber in der Welt von Bolyai gibt es keinen Platz für Gott. Manchmal bin ich überrascht, wie wenig ich mich für die früheren Themen interessiere. Mehr noch, sie langweilen mich. Zum Beispiel der Transsylvanismus, die Frage, wem Transsylvanien gehört, oder der belastende Imperativ des Überlebens. Beim Sex ist das anders, ich kann nicht sagen, dass ich gelangweilt bin, aber mein Interesse ist vielschichtiger geworden. Ich fühle mich in jeder Art von Gemeinschaft wohl, ich nehme gerne an Gemeinschaftsaktionen teil, vor allem wenn sie frei von Größenwahn und Gejammer sind. Dabei geht es nicht nur um menschliche Gemeinschaften. Ich kann viel Zeit damit verbringen, eine Kuhherde anzuschauen".

New Lines Magazine (USA), 06.05.2024

Huaqing Ma beleuchtet die schwierige Situation der Joseonjok, der koreanischen Minderheit in China. Viele Joseonjok zieht es nach Korea, wo sie "kulturelle und angestammte Wurzeln" haben und hoffen, durch den wirtschaftlichen Aufschwung der letzten Jahre Arbeit zu finden, erklärt Ma. Dort jedoch sind sie Bürger zweiter Klasse, wie viele seiner Gesprächspartner zu berichten wissen - bei Job- und Wohnungssuche werden sie diskriminiert, schlechter bezahlt und auch im Arbeitsleben weniger geschützt. Oft zeigt sich der Rassismus der Koreaner aber auch in Alltagssituationen: "Piao erinnert sich an eine Episode, als sie als Teenager in einer Fabrik arbeitete. Einheimische koreanische Kollegen in der Fabrik boten ihr freundlich einen Schokoriegel an, fügten dann aber ungläubig hinzu: 'So etwas gibt es in China nicht, stimmt's? Du hast doch noch nie Schokolade probiert, oder?' Wenn die Leute erfuhren, dass sie eine Joseonjok war, fragten sie oft: 'Magst du Korea lieber oder China?' Für viele ältere Koreaner, sagt Piao, hat sich die Einstellung gegenüber den Joseonjok nicht geändert: Sie betrachten sie nicht als ethnische Cousins, sondern als Fremde in ihrem Heimatland. Auch in China sind die Joseonjok häufig mit Vorurteilen konfrontiert - vor allem von jüngeren Generationen von Chinesen, die Joseonjok oft nicht als Mitbürger betrachten. Das gilt besonders, wenn die Spannungen zwischen China und Korea hoch sind, beklagt Cui Chunmei, eine 35-jährige Joseonjok-Frau, die mit einem Koreaner verheiratet ist. 'Gaoli bangzi', eine abfällige Bezeichnung aus der Qing-Dynastie, wird von chinesischen 'Tastaturkriegern' oft gegen ihre koreanischen Kollegen und die Joseonjok verwendet. 'In Yanbian gibt es eine fleischige und schmackhafte Frucht, die als 'Apfelbirne' bekannt ist', sagt Cui. 'Die Ausländer in Korea halten uns für Koreaner, aber die Koreaner halten uns für Ausländer. Unsere Nationalität ist chinesisch, deshalb akzeptieren uns die Koreaner nicht [als zu ihnen gehörig]. Aber einige Chinesen akzeptieren uns auch nicht, weil wir Koreanisch sprechen. In unserer Joseonjok-Gemeinschaft nennen wir uns daher 'Apfelbirnen'. Wir sind weder ein Apfel noch eine Birne."
Stichwörter: China, Korea, Rassismus, Joseonjok

New York Magazine (USA), 29.04.2024

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Jim VandeHei ist der ganz große Zampano in allen Fragen, die die Zukunft des Journalismus betreffen. Er ist der Erfinder des Politik-Magazins Politico, das er dann verlassen hat , um das eben so erfolgreiche Axios zu gründen, das er für 500 Millionen Dollar verkaufte. Allzu viele erfolgreiche Mediengründer gibt es ja nicht mehr heutzutage: Nun veröffentlicht er sein Buch "Just the Good Stuff", in dem er erzählt, wie er Karriere machte, obwohl nichts ihn dafür prädestinierte. Neulich wurde er in der SZ als Autorität zum Thema Künstliche Intelligenz gefeiert (unser Resümee). Darüber spricht er auch mit Benjamin Hart vom New York Magazine, und obwohl er als Erfinder der smarten Kürze gilt, ist dieses Gespräch doch recht wortreich geraten. Wie auch immer: Zur AI im Journalismus sagt er sicher ein paar richtige Dinge: "Ich mache mir keine Sorgen über KI, die Geschichten schreibt. Ich glaube, dass eher das Gegenteil wichtig wird. Ich denke, wenn die Standardinhalte verschwinden, weil sie potenziell von Maschinen oder KI gemacht werden, wird das, was sowohl für die KI als auch für den Verbraucher einen eindeutigen Wert hat, echtes Fachwissen, echte menschliche Nuancen oder echte menschliche Kreativitität sein." Medien sollten sich darum nicht darauf konzentrieren, möglichst viel mit KI zu machen, sondern die besten Journalisten suchen.

HVG (Ungarn), 02.05.2024

Die Publizistin Boróka Parászka schreibt über die Umgestaltung öffentlich-rechtlichen Medien in der Slowakei (mehr hier) nach dem Wahlsieg des Fico-Lagers bei den Präsidentschaftswahlen, die sie an Ungarn nach 2010 erinnern. "Es hat viele Versuche gegeben, sich gegen die Umgestaltung zu wehren. Die slowakische Presse lässt, wie schon zum Zeitpunkt des Todes von Ján Kuciak, nicht locker: Die Mitarbeiter der öffentlichen Medien haben eine dramatische Serie von Protesten gestartet. Seit der Wende hat man in den mittel- und osteuropäischen Gesellschaften jedoch eine Lektion nur schwer gelernt. Ohne die Befreiung der öffentlichen Medien kann es keinen Regimewechsel geben. Als privat finanziertes Medium mit öffentlichem Auftrag beschreibt sich ein Medienunternehmen in Ungarn, das außerordentliche Kräfte mobilisiert, und eine faire und umfassende Berichterstattung verspricht. Es erhebt große Ansprüche und hegt unrealistische Illusionen. Wo das Gesetz keine (Medien-)Freiheit garantiert, gibt es keine (Medien-)Freiheit. Nicht durch Mikrospenden, nicht durch Stiftungsgeldern, durch gar nichts. Der Zusammenbruch der öffentlich-rechtlichen Medien in Ungarn hat uns dies lehrreich vor Augen geführt. Und wenn wir das vierzehn Jahre lang nicht verstanden haben, können wir jetzt - Wiederholung ist die Mutter der Erkenntnis - die Verschlechterung im Drama der slowakischen Medien beobachten. Eine Verdunkelung nach Fahrplan.")
Archiv: HVG

Literary Hub (USA), 23.04.2024

Yan Lianke legt wenig Wert darauf, außerhalb seiner Heimat als der am meisten zensierte Schriftsteller Chinas bezeichnet zu werden: Der Kampf gegen Zensur ist wichtig - aber Zensur ist auch kein Ritterschlag, erklärt er. "Gegenwärtig werden in China pro Jahr einige - oder sogar einige Dutzende - Bücher pro Jahr geschrieben, die nicht erscheinen können, weil sie zensiert oder verboten werden. Auch wenn wir diese Art von Zensur ablehnen und größte Mühen aufwenden, um sie aus der Welt zu schaffen, können wir daraus aber noch nicht schließen, dass all diese Bücher schon alleine deshalb große Kunstwerke sind, weil sie zensiert wurden. Ich weiß, dass chinesische Autoren, wenn sie nach Übersee und insbesondere in die Vereinigten Staaten reisen, mit Vorliebe darüber sprechen, dass ihre Bücher schlecht besprochen, zensiert und verboten wurden. Sie erhoffen sich davon die Aufmerksamkeit ausländischer Verleger. Ich aber hoffe, dass meine geschätzten Freunde mir vergeben werden, wenn ich sage, dass Zensur und Kontroversen nicht nur ein Schandfleck des chinesischen Zensursystems darstellen, sondern auch der leichteste Weg für den Westen, sich chinesischen Werken zu nähern. Vor einigen Jahren legte ein chinesischer Autor Hunderttausende von Yuan dafür hin, um die chinesische Verlagsbranche zu schmieren, damit seine Bücher kritisiert und verboten werden. Dieses lächerliche Beispiel illustriert, wie Zensur tatsächlich ein Weg zur Anerkennung ist, ganz anders etwa, als dem Standard künstlerischer Qualität zu genügen. Das ist auch der Grund dafür, warum ich schweigsam bleibe, wann immer ich im Ausland als Chinas am häufigsten zensierter Autor vorgestellt werde. Ich empfinde bei dieser Beschreibung weder Stolz, noch Vergnügen. Ich kann diese Art der Einführung nur als eine Art unangemessener Höflichkeit auffassen." Interessanterweise äußerte sich der chinesische Exil-Schriftsteller Yang Lian vor kurzem sehr ähnlich zu diesem Thema (unser Resümee).
Archiv: Literary Hub

New Yorker (USA), 06.05.2024

Diagnosen wie Autismus oder Borderline-Persönlichkeitsstörung sind für Nutzer von Online-Plattformen wie reddit oder tiktok zunehmend bedeutende Identitätsmarker, beobachtet Manvir Singh. Diagnosekriterien werden in den USA vor allem über das Manual DSM V bereitgestellt, doch es regt sich seit längerer Zeit Kritik, die daran zu viel Kategorien- und Einsortierungsdenken sieht. HiTOP (Hierarchical Taxonomy of Psychopathology) hingegen versucht von einzelnen Symptomen auszugehen statt von starren Krankheitsbildern. Aber ein Problem kann auch dieses neue System nicht umgehen, wie Singh am Beispiel der Autistin Paige Layle und dem Psychotherapeuten Alexander Kriss klarstellt: "Häufig entwickeln sich die Symptome der Patienten entlang der Diagnose, die ihnen gestellt wurde. Nachdem Layle einen Psychiater aufgesucht hatte, beobachtete ihre Mutter: 'Du benimmst dich mehr und mehr autistisch, seit du die Diagnose bekommen hast.' Für Layle war dieser Kommentar ein Zeichen, dass ihre Mutter sie nicht verstand - 'Ich hasse es, wenn mich jemand für eine Lügnerin hält', schreibt sie - aber Menschen überall begegnen Krankheiten, die sie unbewusst nachahmen. Manche Fälle sind subtiler, andere sind dramatisch und erschreckend. 2006 hat ein Internatsschüler in Mexiko schlimme Schmerzen im Bein entwickelt und Schwierigkeiten mit dem Laufen bekommen; schon bald wurden hunderte Mitschüler ebenfalls davon heimgesucht. Eine deutsche Nonne im fünfzehnten Jahrhundert hat angefangen, ihre Ordensschwestern zu beißen, diese merkwürdige Hysterie hat irgendwann Klöster von Holland bis Italien befallen. Der Philosoph Ian Hacking geht davon aus, dass eine ähnliche Dynamik für den rapiden Anstieg an Fällen multipler Persönlichkeiten im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert gesorgt hat, und das scheint sich auch in den sozialen Medien abzuspielen, wo sich immer mehr Darstellungen der dissoziativen Identitätsstörung, wie die Erkrankung derzeit heißt, finden."

Weiteres: Rebecca Mead schreibt über die Skandale, die das British Museum in den letzten Jahren heimgesucht haben - und über die Elgin Marbles. Jackson Arn berichtet von der Biennale. Jennifer Wilson liest den neuen Roman von Claire Messud. Amanda Petrusich erliegt dem "Radical Optimism" Dua Lipas. Und Richard Brody sah im Kino David Leitchs "Fall Guy". Lesen darf man außerdem eine Kurzgeschichte von Simon Rich.
Archiv: New Yorker