Intervention

Triebkraft der Kritik

Von Richard Herzinger
15.12.2023. "Kultur" kann kein Argument gegen die globale Gültigkeit der Menschenrechte sein. Das kulturalistische Argument wird mit Vorliebe von autoritären und totalitären Herrschaftssystemen benutzt, um ihre repressiven Praktiken vom Vorwurf der Verletzung elementarer Humanität reinzuwaschen. Ihre nützlichen Idioten finden sie im Postkolonialismus: Zum 75. der UN-Menschenrechtsdeklaration.
Die vor 75 Jahren von den Vereinten Nationen verabschiedete Allgemeine Erklärung der Menschenrechte stellt eine epochale Errungenschaft dar. Ungeachtet der Tatsache, dass es formell nicht völkerrechtlich bindend ist, hat dieses Dokument an Bedeutung und Sprengkraft bis heute nichts verloren - auch wenn es auf den ersten Blick den gegenteiligen Anschein haben mag.

Denn mit wachsender Brutalität und in immer größerem Ausmaß werden die Menschenrechte von autoritären Regimen aggressiv verletzt. Zugleich verwenden diese verstärkte Anstrengungen darauf, die Aussagen der Erklärung vom Dezember 1948 systematisch zu verdrehen und zu verfälschen, um die von ihnen betriebene Unterdrückung elementarer menschlicher Freiheiten als die wahre Einlösung der Menschenrechtsidee erscheinen zu lassen.

Paradoxerweise belegt aber gerade die Aggressivität, mit der die Menschenrechte von ihren Feinden bekämpft werden, welche Brisanz in der weltpolitischen Auseinandersetzung ihnen nach wie vor zukommt. Ob es sich um den "arabischen Frühling" oder Demokratiebewegungen wie in Hongkong, Venezuela, Belarus und im Iran handelt - wo immer auf der Welt sich Menschen gegen despotische Willkür auflehnen, berufen sie sich wie selbstverständlich auf die in der UN-Deklaration festgeschriebenen Rechte.

So sehr fürchten die Diktaturen verschiedener Couleur die Strahlkraft und das Ansteckungspotenzial der Menschenrechte, dass sie sich nicht damit begnügen, solche Erhebungen mit extremer Gewalt niederzuschlagen. Sie haben sich darüber hinaus zu einer globalen Allianz mit dem Ziel zusammengeschlossen, die liberale demokratische Zivilisation, die sie als die Quelle dieser Gefahr ausgemacht haben, im Ganzen zu zerstören. Namentlich die Machthaber in Russland, China und der Islamischen Republik Iran sind der gemeinsamen Überzeugung, dass der historische Moment für diesen finalen Schlag jetzt gekommen sei.

Zugute kommt ihnen dabei, dass auch in den demokratischen Gesellschaften zunehmend Zweifel an der universalen Geltung der Menschenrechte geschürt werden. Dazu wird in erster Linie die Unterschiedlichkeit der "Kulturen" angeführt, denen die im Westen gültigen Werte  nicht "aufgezwungen" werden dürften. Dieses Argument basiert jedoch auf einer mystifizierten Vorstellung von "Kultur", die suggeriert, es handele sich bei dieser um ein unwandelbares, überhistorisches Gebilde. Doch auch im europäischen Kulturkreis erforderte es lange und heftige Kämpfe, bis die Menschenrechte als konstitutiv für sein Selbstverständnis  akzeptiert waren. Dass letzteres mittlerweile auch in Ländern außerhalb der westlichen Hemisphäre wie Taiwan, Südkorea und Japan der Fall ist, beweist, dass "Kultur" kein Argument gegen die globale Gültigkeit der Menschenrechte sein kann.

Das kulturalistische Argument wird mit Vorliebe von autoritären und totalitären Herrschaftssystemen benutzt, um ihre repressiven bis mörderischen Praktiken vom Vorwurf der Verletzung elementarer Humanität reinzuwaschen. Dazu werden Konstruktionen aufgefahren wie ein spezifisch "islamisches" oder "chinesisches" Menschenrechtsverständnis, die plausibel machen sollen, dass etwa die Diskriminierung von Frauen in muslimischen Ländern oder die "Umerziehung" ethnischer Minderheiten wie den Uiguren in China der Fürsorge der Machthaber für eine intakte "kulturelle Identität" entsprängen.

Von Theoretikern des "Postkolonialismus" werden die Menschenrechte verdächtigt, eine Erfindung weißer Kolonialherren zu sein, mittels derer den Völkern des "Globalen Südens" die Prämissen des westlichen Individualismus eingeimpft werden sollten. Da dieser jedoch den ursprünglichen Traditionen, Werten und  Bedürfnissen "nicht-weißer" Gesellschaften widerspreche, stelle dies eine Zurichtung des Bewusstseins der Kolonisierten zu dem Zweck dar, sie auch nach dem Ende der Kolonialherrschaft weiter unter Kontrolle halten zu können.

Doch auch, wenn die Menschenrechtsidee lange Zeit durch den Ausschluss als rückständig stigmatisierter Völkern und Ethnien aus ihrem Geltungsbereich verzerrt und missbraucht wurde, wirkte sie doch zugleich als mächtige Triebkraft der Kritik an Kolonialismus und Rassismus, die das kolonialistische Herrschaftsgebäude schließlich zum Einsturz brachte. Auch heute gibt es gegen Diskriminierungen jeglicher Art kein stärkeres Argument als dass alle Menschen "von Geburt an über die gleichen, unveräußerlichen Rechte und Grundfreiheiten" verfügen, wie es am Anfang der Menschenrechtserklärung heißt.

Die Menschenrechte sind Schutz- und Abwehrrechte der Einzelnen gegen Übergriffe des Staats und anderer mächtiger Kollektive -  nicht weniger, aber auch nicht mehr. Sie begründen "negative" Freiheiten, die ein Leben ohne Verfolgung, willkürliche Verhaftung und Folter sowie ohne Unterdrückung der freien Rede und politischen Betätigung sichern sollen. Was sie indes nicht leisten können, ist die Herstellung einer sozial und ökonomisch gerechten oder gar idealen Gesellschaft.

Leider enthält die UN-Erklärung der Menschenrechte jedoch  selbst Artikel, die ihre Bedeutung in diesem Sinne überfrachten. Das gilt etwa für die Ausweitung der Menschenrechte auf soziale Rechte wie das "Recht auf Arbeit". Abgesehen davon, dass dieses unter marktwirtschaftlichen Bedingungen von Regierungen kaum zu garantieren ist - die Aufnahme sozialer Rechte in den Kanon der Menschenrechte lenkt von ihrem eigentlichen Fokus ab und schwächt den Kampf für sie, statt sie zu stärken.

Soziale Rechte sind zweifellos von großer Relevanz - doch sind sie stets Gegenstand gesellschaftlicher Aushandlung. Der Status unantastbarer Menschenrechte kommt ihnen nicht zu. Deren Bestimmung ist es vielmehr, die Bürger überhaupt erst in die Lage zu versetzen, ohne Furcht vor Repression für soziale und ökonomische Rechte einzutreten.

Wenn aber in Artikel 29 der Erklärung unvermittelt postuliert wird, dass jeder "Pflichten gegenüber der Gemeinschaft" habe, "in der allein die freie und volle Entwicklung seiner Persönlichkeit möglich ist", so öffnet dies ein Einfallstor für kollektivistische Ideologien. Davor, dass diese sich der Menschrechtsidee bemächtigen, müssen die Demokratien mehr denn je auf der Hut sein.

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. Hier der Link zur Originalkolumne.