Intervention

Namenlose Verbrechen

Von Thierry Chervel
18.12.2023. Im Grunde ist es gar nicht so wichtig, ob die Hannah-Arendt-Preisträgerin Masha Gessen in ihrem Essay vergleicht, wie sie beteuert, oder gleichsetzt. Der eigentliche Skandal in Gessens Essay liegt in dem, was sie nicht benennt und nicht vergleicht.
Masha Gessen gibt dem Gazastreifen in ihrem New-Yorker-Essay "In the Shadow of the Holocaust" einen neuen Beinamen. Als "Freiluftgefängnis" sei er unzureichend beschrieben, der Gazastreifen sei ein Ghetto. Was die Israelis ihrer Ansicht nach gerade betreiben, sei folglich die "Liquidation des Ghettos". Wenn aber ein Name auf zwei Sachen zutrifft, das Warschauer Ghetto und das "Ghetto" Gaza, dann ist das kein Vergleich, wie Gessen beteuert, sondern eine Gleichsetzung.

Die Tatsache, dass sie ein bisschen Watte unter den Hammer legt - übrigens erst, nachdem sie zugeschlagen hat - tut nichts zur Sache. Denn sie landet doch wieder bei der Gleichsetzung. Sowohl beim Warschauer Ghetto als auch beim "Ghetto" Gaza sei es so, "dass eine Besatzungsbehörde im Namen des Schutzes der eigenen Bevölkerung eine ganze Bevölkerung isolieren, verelenden - und jetzt auch noch tödlich gefährden - kann".

Aber vielleicht ist es nicht mal so wichtig, ob Gessen gleichsetzt oder vergleicht. Im Grunde muss man sich von Gessen gar nicht auf dieses Terrain ziehen lassen, wo sie leichtes Spiel hat. Das diskursive Zurückrudern, nachdem man den Hammerschlag gelandet hat, ist eine auch aus dem Rechtsextremismus bekannte Strategie: "Mahnmal der Schande"? Ach, das haben Sie ja ganz falsch verstanden. Das Herumstochern in der bis zum Überdruss diskutierten Frage, ob ein Vergleich eine Gleichsetzung sei, ist Beschäftigungstherapie für eine verunsicherte Öffentlichkeit.

Der eigentliche Skandal in Gessens Essay liegt nicht in dem, was sie vergleicht oder gleichsetzt, sondern in dem, was sie nicht benennt und nicht vergleicht.

Die Pogrome der Hamas kommen in ihrem Essay zwar vor, bilden in ihrer Kritik an Israel im Grunde nur ein Hintergrundrauschen. Sie spricht von "Gräueltaten, die wir noch nicht ganz begreifen können". Interessant ist, dass ihr hier die Lust an der Benennung vergeht. Ja, sie wehrt sich sogar gegen den Vergleich und zieht dabei selbst eine Analogie, die einem das Blut in den Adern gefrieren lässt. Netanjahu hatte den Mordkarneval der Hamas mit dem "Holocaust by bullets" verglichen und löst damit bei Gessen Empörung aus. Dieser Vergleich diene nur dazu, "die kollektive Bestrafung der Bewohner des Gazastreifens" diskursiv abzustützen: "genauso wie Putin, der untermauern will, dass Russland berechtigt ist, ukrainische Städte mit Teppichbomben zu bombardieren, zu belagern und ukrainische Zivilisten zu töten, indem er sie als 'Nazis' oder 'Faschisten' bezeichnet."

Während der Nazi-Vergleich mit Blick auf Israel für Gessen zulässig ist, ist er es mit Blick auf die Hamas genausowenig wie mit Blick auf die Ukraine! Jene "Gräueltaten, die wir noch nicht ganz begreifen können", sollen ohne Namen bleiben. Immer ist es Israel, das für Gessen auf dem Weg zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist. Wer die genozidale Dimension der Hamas-Verbrechen benennt, liefert Israel nur Vorwände dafür.

In dieser Leerstelle der bei Gessen in vager Ferne liegenden Hamas-Verbrechen liegt der größte Horror ihres Essays. Hier dröhnt ein Schweigen, das es ebenfalls verdient, benannt zu werden.

Aus der Geschichte des Holocaust und seiner Wahrnehmung und Aufarbeitung in den fast acht Jahrzehnten danach, ist bekannt, dass es verschiedene Arten der Leugnung gab.

Das aktive Bestreiten des Holocaust ist für die westlichen Öffentlichkeiten im Grunde abgehakt. Figuren wie Robert Faurisson oder David Irving behaupteten, es hätte gar keine Gaskammern gegeben, es seien nur Läuse vergast worden, oder es seien "nur" 100.000 Juden ermordet worden. Diese Art der Leugnung ist in der Regel dem Rechtsextremismus zuzuschlagen, obwohl einige der einflussreichsten Holocaustleugner wie Roger Garaudy ursprünglich aus der extremen Linken kamen.

Es gibt aber noch eine zweite, scheinbar harmlosere, in Wirklichkeit aber viel wirksamere Form der Leugnung, die eher der Linken zuzurechnen ist: das zuerst von Stalin verordnete Beschweigen des Holocaust. Man verleugnet nicht aktiv, man sorgt nur dafür, dass nicht darüber gesprochen wird. Stalin zensierte direkt nach dem Krieg das von Ilja Ehrenburg und Wassilij Grossman erarbeitete "Schwarzbuch". Der Holocaust war in der Sowjetunion und den Ländern Osteuropas nach dem Krieg der am intensivsten beschwiegene Elefant im Raum. Dieser zweite Tod der Juden in Stalins Reich wurde zur Grundlage eines entfesselten Antizionismus, in dessen Tradition die postkoloniale Linke bis heute steht.

Gessen spricht das Schweigen über den Holocaust in ihrer sowjetischen Jugend durchaus an. Ihre eigene Familie ist im Holocaust dezimiert worden, erzählt sie in ihrem Essay. Die Mutter einer Kusine band sich ihr Kind um den Bauch und stürzte sich in einen Fluss, um sich und ihr Kind umzubringen - sie wurden gerettet. Solche Geschichten, schreibt Gessen, durfte sie in ihrer sowjetischen Jugend auf keinen Fall weitererzählen. Aber daraus zieht sie für ihren Essay keine Konsequenz.

Der beschwiegene Holocaust spielt in ihrem Essay noch in einem anderen Kontext eine Rolle, der politisch heikler ist: Gessen schreibt über die Aufarbeitung des Holocaust in osteuropäischen Ländern nach dem Mauerfall. Sie sei zur Voraussetzung der Aufnahme in die EU gemacht worden. Sie zitiert einen Satz Tony Judts, der klingt, als sei diese Aufarbeitung im Grunde nur eine Konzession an die westlichen Länder der EU gewesen: "Die Anerkennung des Holocausts ist unsere heutige Eintrittskarte nach Europa."

Das Beschweigen des Holocaust im sowjetischen Reich stellte die gesamte europäische Geschichte seit der Nazi-Zeit und dem Hitler-Stalin-Pakt für die Bürger dieser Länder in ein falsches Licht. Es prägt bis heute Mentalitäten.

Ich frage mich, ob Gessen in ihrem Essay dieses Muster am Beispiel neuer Ereignisse wiederholt. Ich will nicht sagen, dass sie die Verbrechen der Hamas leugnet, sie kommen ja vor, gehen in ihre Argumentation aber überhaupt nicht ein. Gessen, die so frohgemut und munter Netanjahu als Herrn eines Warschauer Ghettos hinstellt, warnt allerdings zugleich davor, die genozidale Dimension der Hamas-Verbrechen überhaupt nur anzusprechen, denn sie fürchtet, dass so etwas den Israelis nur dazu dient, ihre verbrecherischen Absichten zu kaschieren. Zum Vergnügen jener Fraktion, die gleich nach dem 7. Oktober "Kontextualisierung" anmahnte, entreißt sie die jetzige israelische Reaktion auf die Verbrechen der Hamas ihrem Kontext und verabsolutiert sie als eine Aktion, die allein gegen die Zivilbevölkerung in Gaza gerichtet sei. In den Interviews, die sie nach dem Essay in deutschen Medien gab, wird diese Dimension des Beschweigens noch deutlicher - denn die Hamas-Verbrechen spielen dort überhaupt keine Rolle.

Die Täter-Opfer-Umkehrung funktioniert auch so, dass man die erste Hälfte der Geschichte verschweigt, herunterspielt oder bagatellisiert.

Gessens Weigerung, jenen "Gräueltaten, die wir noch nicht ganz begreifen können", einen Namen zu geben, sie überhaupt eingehender zu reflektieren, ist noch keine Leugnung, aber sie stellt die Autorin in die Tradition eines Beschweigens.

Thierry Chervel