Intervention

Aus gleichsam existenziellen Gründen

Von Richard Herzinger
20.10.2023. Was die Zahlungen der EU für humanitäre Zwecke in Gaza betrifft, so beteuert die Bundesregierung zwar, diese kämen in keiner Weise der Hamas zugute. Doch nicht zuletzt weil die UNRWA, über die ein großer Teil dieser Gelder verteilt wird, enge Beziehungen zu den islamistischen Extremisten pflegt, muss das bezweifelt werden. Westliche Staaaten sollten Hilfszahlungen einstellen und für den Wiederaufbau der Ukraine einsetzen.
Das Massaker der Hamas an israelischen Zivilisten muss einschneidende Konsequenzen vonseiten des Westens haben. Für Brüssel und Berlin bedeutet dies, das Scheitern ihrer jahrzehntelangen Palästina-Politik einzugestehen.

Mit üppigen Finanzhilfen an die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) wollte die EU deren institutionelle Strukturen im Blick auf einen künftigen demokratischen Palästinenserstaat stärken. Doch tatsächlich hat sie das Gegenteil bewirkt. Denn die PA-Führung unter ihrem greisen Dauerpräsidenten Mahmud Abbas hat die großzügige Ausstattung der Behörde unter anderem mit Geldern für Gehälter und Pensionen dazu genutzt, ihr Machtmonopol über die Autonomiegebiete zu zementieren, eine zunehmend repressive autoritäre Herrschaft zu installieren und ihre Fronstellung gegen Israel immer weiter zu verhärten.

Seit die religiös-extremistische Hamas 2006 in Gaza an die Macht kam, verfügte die PA über ein zusätzliches Druckmittel, um die Geldgeber bei der Stange zu halten. Die Furcht, die Hamas könnte auch im Westjordanland das Kommando übernehmen, veranlasste diese dazu, dem vermeintlich säkularen und gemäßigten Regime in Ramallah fortgesetzt den Rücken zu stärken.

Doch tatsächlich ist die PA bis ins Mark korrupt und seit Langem dysfunktional. Abbas hat seit 18 Jahren keine Wahlen mehr zugelassen und gibt seinem wahnhaften Antisemitismus, inklusive dreisten Holocaustrelativierungen, immer ungehemmter Ausdruck. Die jüngsten Untaten der Hamas sind von der PA nicht explizit verurteilt worden, auch wenn Abbas jüngst in einem Telefonat gesagt haben soll, die Mordaktion "repräsentiere nicht das palästinensische Volk". Wer die PA weiter finanzieren will, um ihren Kollaps und damit die Machtübernahme der Hamas auch im Westjordanland zu verhindern, verkennt, dass sich das "moderate" Fatah-Regime in Ramallah in Wahrheit nicht substanziell von der Schreckensherrschaft der Radikalislamisten in Gaza unterscheidet.

Die Gegnerschaft zwischen Fatah und Hamas beruht primär auf der Rivalität um Machtpositionen und nicht auf grundsätzlichen ideologischen Differenzen. Während die Hamas explizit jeden Kompromiss mit Israel ablehnt und offen die vollständige Vernichtung des jüdischen Staats propagiert, zeigt sich die PA-Führung offiziell zwar prinzipiell verhandlungsbereit. Doch beteuert sie dies in erster Linie, um den Westen zu beruhigen. Tatsächlich aber betrachtet sie jegliches potenzielle Abkommen mit Israel allenfalls als ersten Schritt auf dem Weg zur "Befreiung" ganz Palästinas.

An einem echten Frieden mit dem jüdischen Staat sind Abbas und seine Gefolgsleute aus gleichsam existenziellen Gründen nicht interessiert. Denn träte er ein und entstünde wirklich ein palästinensischer Staat im friedlichen Nebeneinander mit Israel, müssten sie die Verantwortung für die Entwicklung ihres Landes übernehmen. Alle Schuld an der Misere der Palästinenser auf Israel zu schieben und sich als dessen ewiges Opfer von der internationalen Gemeinschaft rundum alimentieren zu lassen, sichert ihnen dagegen ihre parasitäre Dauerherrschaft.

Jedoch war die Abbas-Führung zuletzt durch die "Abraham"-Friedensabkommen Israels mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrein, Marokko und Sudan sowie durch die Annäherung zwischen dem jüdischen Staat und Saudi-Arabien unter starken Druck geraten. Sie witterte die Gefahr, von den Saudis und anderen arabischen Mächten zur Anerkennung von Friedensbedingungen genötigt zu werden, die diese über ihre Köpfe hinweg mit Israel aushandeln könnten. Die durch den Hamas-Terror ausgelöste explosive Lage, die eine solche israelisch-arabische Übereinkunft zumindest für den Augenblick unmöglich macht, kommt der PA-Führung daher keineswegs ungelegen.

Was die Zahlungen der EU für humanitäre Zwecke in Gaza betrifft, so beteuert die deutsche Bundesregierung jetzt, diese kämen in keiner Weise der Hamas zugute. Doch nicht zuletzt weil die UNRWA, diese monströs aufgeblähte UN-Hilfsorganisation exklusiv für die Palästinenser, über die ein großer Teil dieser Gelder verteilt wird, enge Beziehungen zu den islamistischen Extremisten pflegt, muss das bezweifelt werden.

In jedem Fall aber bedeuten die Hilfen objektiv eine Unterstützung für die Hamas. Entlasten sie diese doch von ihrer Pflicht, sich um das Wohlergehen der von ihr beherrschten Bevölkerung Gazas zu kümmern. So kann sie ihre Ressourcen ungemindert in die Aufrüstung zu weiterem bestialischen Terror stecken. Hilfsleistungen nach Gaza - von akuter Nothilfe abgesehen - sind erst wieder vertretbar, wenn die verbrecherische Macht der Hamas in Gänze gebrochen ist.

Aber auch mit der Fatah wird eine einvernehmliche Zweistaatenlösung niemals zu realisieren sein. In Palästina muss es zu einem grundlegenden Generationswechsel kommen, der die Machtstrukturen der autoritär erstarrten "Befreiungsorganisationen" beseitigt und eine echte Demokratisierung der palästinensischen Gesellschaft bewirkt. Erst mit einer neuen Führung, die dem martialischen Gewalt- und Märtyrerkult des "palästinensischen Widerstands" in jeglicher Variante abschwört und das Prosperieren der eigenen Gesellschaft zu ihrer Priorität macht, kann es einen realen Friedensprozess geben.

Der von Teheran gesteuerte Terrorkrieg der Hamas gegen das jüdische Volk ist indes kein regional isoliertes Phänomen, sondern Teil einer weltweiten kriegerischen Offensive gegen die gesamte demokratischen Zivilisation, die von Russland, Iran und China betrieben und orchestriert wird. Davon, dass sich nun alle Aufmerksamkeit der westlichen Öffentlichkeit auf den Nahen Osten richtet, droht vor allem der Kreml zu profitieren, der darauf spekuliert, dass der Westen in seiner Unterstützung für die Ukraine nachlässt.

Es wäre daher ein starkes Zeichen, würde die EU der strukturell friedensunfähigen palästinensischen Führung die Mittel entziehen und diese für die Bewaffnung und den Wiederaufbau der Ukraine einsetzen. Sie würde damit deutlich machen, dass sie das Kalkül des russischen Aggressors und seiner Verbündeten, den Westen durch das Schüren von kriegerischen Konflikten an diversen globalen Schauplätzen zu überfordern und zu zermürben, durchschaut hat und zu durchkreuzen entschlossen ist.
 
Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. Hier der Link zur Originalkolumne.