Intervention

Präsenz einer Kraft

Von Richard Herzinger
05.11.2023. Der Wunsch nach "Kontextualisierung" mag verständlich sein. Aber das Böse verschwindet nicht dadurch, dass man versucht, es durch politische, soziale oder psychologische Kriterien zu filtern und auf diese Weise hinweg zu erklären. Das bedeutet, dass man die Erwartung aufgeben muss, es könne jemals vollständig aus der Welt geschafft werden. Umso dringender aber muss es permanent in Schach gehalten und eingedämmt werden.
Nur wenige Wochen, nachdem die Terrororganisation Hamas das größte Massaker an Juden seit dem Holocaust verübt hat, sind Politiker und Kommentatoren rund um den Globus eifrig bemüht, diese bestialische Untat zu "kontextualisieren" und damit zumindest indirekt zu relativieren.

Exemplarisch dafür steht das Statement von UN-Generalsekretär António Guterres, der zwar betonte, er verurteile  "unmissverständlich die entsetzlichen und beispiellosen Terrorakte der Hamas in Israel", und kein Leiden der Palästinenser rechtfertige den Terror. Um dann jedoch sogleich hinzuzufügen, die Angriffe seien "nicht in einem Vakuum" geschehen, da "das palästinensische Volk doch 56 Jahre erdrückender Besatzung unterworfen" gewesen sei.

Indem Guterres den Hamas-Terrors auf das Unrecht zurückführt, das den Palästinensern angeblich zugefügt werde, lenkt er von der wahren Dimension dieser Gräueltaten ab. Er tut dies zwar subtiler als verblendete Antizionistinnen wie die Klimaschutz-Ikone Greta Thunberg, die von einem israelischen "Genozid" in Gaza fabulierte, ohne die grausame Abschlachtung von 1.400 wehrlosen Menschen durch die palästinensischen Mordkommandos auch nur zu erwähnen. Doch gerade weil sich der UN-Generalsekretär als eine Stimme ausgewogener Vernunft präsentiert und das seiner Äußerung zugrundeliegende Denkmuster dem Großteil der westlichen demokratischen Öffentlichkeit plausibel erscheint, ist seine Stellungnahme besonders problematisch.

Denn in den Worten des UN-Generalsekretärs drückt sich die in der westlichen Welt vorherrschende Unfähigkeit aus, das absolute Böse zu erkennen und beim Namen zu nennen. Indem er den Vernichtungswillen der Hamas an eine Vorgeschichte knüpft, die ihn, wenn nicht verständlich, so doch immerhin begreifbar mache, verschleiert Guterres das wahre Wesen von Gewalttaten, die einzig und allein begangen werden, um möglichst viele wehrlose Menschen zu ermorden und maximales Leid über eine zum Feind erklärten Gruppe von Menschen zu bringen. Es handelt sich bei solchen Untaten um nichts weniger als einen Zivilisationsbruch.

Massaker wie das der Hamas zielen nämlich nicht nur auf ihre unmittelbaren Opfer, sie kündigen auch den Grundkonsenses darüber auf, was die Menschheit ungeachtet aller in ihr vorhandenen gegenseitiger Feindseligkeit zusammenhält. Getrieben werden die Täter dabei von einem abgründigen Hass, der für seine Entladung keinen realen Grund oder konkreten Anlass, sondern lediglich eine günstige Gelegenheit benötigt. Den mörderische Judenhass der Hamas gibt es nicht erst, seit Israel im Konflikt mit den Palästinensern steht. Er speist sich aus antisemitischen Giftquellen, die bereits virulent waren, als an die Existenz eines jüdischen Staats noch nicht einmal zu denken war.  

In demokratischen Gesellschaften herrscht jedoch eine weit verbreitete Scheu davor, die Realität des voraussetzungslos Bösen anzuerkennen. Grundsätzlich gilt es im aufklärerisch geprägten Denken als fragwürdig, einzelne Menschen oder gar ganze Gruppen oder Staaten als in ihrem Kern böse zu betrachten. Stets gebe es äußere Umstände und innere Dispositionen, die ihre grausame und mörderische Handlungsweise verursachen. Hinter den bösen Taten versteckten sich demnach immer Determinanten, die sie zwar nicht entschuldigen, aber doch begreifbar machen, wie es zu ihnen kommen kann.

Doch konfrontiert mit der äußersten Unmenschlichkeit stößt ein rationales Erkenntnisvermögen, das Ereignisse stets aus kausalen Zusammenhängen abzuleiten pflegt, an seine Grenzen. Es muss sich eingestehen, dass alle Erklärungsversuche an der Präsenz einer Kraft scheitern, die auf Vernichtung um der Vernichtung willen zielt. Diese Kraft ist das Böse.

Dabei geht es nicht um das Böse als eine theologische oder metaphysische Kategorie. Ein zeitgemäßer säkularer Begriff des absoluten Bösen schöpft nicht aus religiösen oder philosophischen Konstrukten, sondern aus der schmerzlichen Erfahrung, dass es Wirklichkeit besitzt. "Man kann sich eine Idee des Bösen bilden, weil das Böse Realität ist", formulierte der französische Philosoph André Glucksmann lakonisch. Um zu definieren, um was es sich bei ihm handelt, benötigt man keine weltanschaulichen Ableitungen. Was es ist, wissen wir unmittelbar, sobald es unverhüllt sein mörderisches Gesicht zeigt.

Das Böse verschwindet nicht dadurch, dass man versucht, es durch politische, soziale oder psychologische Kriterien zu filtern und auf diese Weise hinweg zu erklären. Das bedeutet, dass man die Erwartung aufgeben muss, es könne jemals vollständig aus der Welt geschafft werden. Umso dringender aber muss es permanent in Schach gehalten und eingedämmt werden. Lässt die Aufmerksamkeit auf die stetige untergründige Anwesenheit des absoluten Bösen nach, findet es immer neue Wege, sich auf bestialische Weise Bahn zu brechen.

Wenn die Demokratien die Existenz des absoluten Bösen zu verleugnen oder zu verdrängen versuchen, entwaffnen sie sich gegenüber der Willkür, mit der es scheinbar völlig überraschend zuzuschlagen pflegt. Jedes Mal, wenn es erneut auftritt, geben sich westliche Politiker und Medien dann völlig überrumpelt angesichts solch vermeintlich "unvorstellbarer" Verbrechen.

So auch nach dem Überfall der Hamas auf Israel, als sich die demokratische Öffentlichkeit fassungslos über dieses "beispiellose" Verbrechen zeigte - so, als hätte es den 11. September, die Horrorherrschaft der Taliban und des Islamischen Staats sowie den dschihadistischen Massenterror in Paris, London und Madrid nie gegeben. Und als erinnerte das bestialische Vorgehen der Hamas-Mordkommandos, ihr wahlloses Töten, Misshandeln und Verschleppen wehrloser Menschen jeden Alters, nicht auf grauenvolle Weise an die Massaker, die von den russischen Invasionstruppen in der Ukraine, an Orten wie Butscha und Irpin, verübt wurden.

Das absolute Böse lässt sich nicht historisch, sozial oder gesellschaftlich "kontextualisieren". Es führt eine Eigenexistenz unabhängig von Zeit, Ort und Umständen. Gebannt werden kann es nur, wenn man es unerschrocken im Auge behält und jederzeit darauf vorbereitet ist, dass es irgendwo und irgendwann wieder sein Haupt erhebt.

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. Der Link zur Originalkolumne folgt.