Im Kino

Jazz mit Erdverbundenheit

Die Filmkolumne. Von Patrick Holzapfel
10.04.2024. Ein Film zum Schwärmen: Alice Rohrwacher widmet sich in ihrem neuen Film Kunstschatzräubern und filmt dabei fulminant gegen die kapitalistische Verwertungslogik an. "La chimera" ist ein unberechenbarer Genretrip zwischen Märchen, Komödie, Drama und Thriller, in dem sich Leben und Tod zu einem verschlungenen Tanz treffen.

Tombaroli
sind Grabräuber, die es auf die unter der Erde liegenden Kunstschätze Italiens abgesehen haben. Sie buddeln diese unermesslichen Schätze illegal aus und bieten sie dubiosen Vermittlern an, die sie an Museen weiterverkaufen. Alice Rohrwacher widmet ihren jüngsten Film einer um einen solchen Grabräuber schwirrenden Ansammlung aus Licht, Blicken, Gefühlen und Menschen. Arthur heißt der gute Mann, an dem die Kamera die meiste Zeit klebt, er kommt irgendwo aus England oder Irland, der Film legt sich hier und auch anderswo nicht oder nur langsam fest, ein Held im Widerstreit mit der Welt und der nur scheinbar fortlaufenden Zeit, ein Übersinnlicher, Verlorener, den man lieben soll und auch kann. Verkörpert wird er von Josh O'Connor, der Rohrwacher einen Brief geschrieben hatte, weil er bei ihr spielen wollte. Die Regisseurin sah etwas in ihm und schnitt das Drehbuch ihres inzwischen vierten Spielfilms auf den mit sich ringenden, bisweilen sinistren Ausdruck des Darstellers von Prinz Charles aus The Crown zu. So torkelt der zu Wutausbrüchen neigende, gebrochene Mann mit verschmutztem Anzug durch mediterrane Hügellandschaften zwischen den Resten der verschütteten Kultur der Etrusker, zu der er eine magische Verbindung spürt, einen siebten Sinn, der ihn zum geistigen Anführer einer an einen Fellini-Zirkustrupp erinnernden Anarchistenschar macht. Die rauben, fliehen vor der Polizei und versuchen, über die Runden zu kommen. 

Unter dem allmächtigen Schatten des Römischen Reiches ist die im circa 10. Jahrhundert v.Ch. entstehende Villanovakultur der Etrusker, die sich zunächst, vermutlich in Folge des Trojanischen Krieges hauptsächlich in der heutigen Toskana ansiedelte, in Vergessenheit geraten. Einzig die bucchero, schwarzglänzende Tongefäße, finden sich noch in Museen und vielleicht hält sich auch eine Idee einer vorpatriarchalen Gesellschaftsorganisation, die Rohrwacher für das Thema begeistert haben könnte. Ein Themen- oder Geschichtsfilm ist "La chimera" aber nicht, ganz im Gegenteil.

Am Rand des Films öffnen sich allerhand Wege in Labyrinthe. Zum Beispiel eine Frau mit dem vielsagenden Namen Italia, die sich in den einer anderen Zeit nachhängenden Arthur verguckt, eine andere, Beniamina, die er einmal verloren hat oder doch nicht und immer wieder das gleißende Licht, so überbetont, dass es fast dekadent scheint, dass es Licht überhaupt gibt. Arthur ist einer von denen, die lieber immer tiefer graben, als an der frischen Luft zu bleiben. Die Grenzen zwischen aktiver Handlung und passiver Überwältigung lässt Rohrwacher verschmelzen, das macht ihren vor allem auf haptisch-sinnlicher Ebene so eindrücklichen Film auch aus Drehbuchsicht interessant: Dem verbreiteten Modell eines handelnden Helden stellt sie eine Figur entgegen, die gerade deshalb agiert, weil sie machtlos ist. Damit fängt sie eine auf Abgründe zusteuernde Getriebenheit ein, die eindrücklich berichtet von den sich übereinander lagernden Schichten der Erde, die immer deutlicher drohen, unter uns zusammenzubrechen.


Mancherorts wird "La chimera" nach "Land der Wunder" und "Glücklich wie Lazzaro" als dritter Teil einer Trilogie über das ländliche Italien aufgefasst, eine Zuschreibung, die womöglich mehr über diejenigen aussagt, die sie treffen als über die Filme. Ein ins Bild gesetzter Baum wird schon als Ausdruck irgendeiner Metaphorik verstanden, dabei filmt ihn Rohrwacher nur als Teil einer sich in ihrem Film ausbreitenden, mal magischen, mal nach Schweiß und Dreck stinkenden Welt. Wichtiger ist, dass das die Figuren umgebende Gelände, die roten Fichtennadeln, das verdreckte Meereswasser, die am Himmel kreisenden Vogelschwärme jederzeit in einen Austausch treten mit der Handlung und den Bildern. Was eine Metapher wird und was schlichte Beobachtung, bleibt in der Schwebe.

Angeblich ist "La chimera" in den 1980ern angesiedelt, einer Zeit, in der illegale Kunstgeschäfte dieser Art in Italien boomten. Jedoch könnte er irgendwann spielen, aus den Bildern spricht keine Zeit, sondern Zeitlosigkeit. Das ist der Punkt von Rohrwacher, die ganz unaufgeregt und beiläufig auch die in patriarchalen Systemen entstandenen Grauen des kapitalistischen Umgangs mit kulturellen Schätzen anprangert, den Zynismus, die Gier, den Verlust einer spirituellen oder zumindest emotionalen Verbundenheit mit der Vergangenheit. Stattdessen das kalte Geschäft, auf verschüttete Gräber gebaute Fabrikanlagen und ein in Barbarei mündendes Vergessen. Das ist auch eine politische Kritik an den Zuständen ihres Landes. In italienischen Filmen, das verstehen die famosen Stimmen des zeitgenössischen Films des Apennins wie Rohrwacher, Marcello oder Frammartino, trifft die erdzugewandte Seite der Geschichte immer auf den pervertierten Zirkus billiger Bilder. Es entsteht eine Spannung zwischen dem eigentlichen Leben (man pisst runde Löcher in die Erde, trinkt, tanzt, sammelt Muscheln und haust in kalten Hütten) und der Präsentation nach Außen (man verkauft sich ans Ausland, Tourismus und Gewinnerlächeln inklusive). Was dazwischen überlebt, ist die Amoralität, der Diebstahl, das Jeder gegen Alle. Am Ende stellt Rohrwacher dieser Wildheit eine Art feministische Utopie entgegen, ohne auszulassen, wie schwer es den Frauen fällt, diese umzusetzen. Wie in ihren anderen Filmen lässt Rohrwacher das zynische Italien auf mögliche Utopien treffen und zeigt auf, wie weit sich ihr Heimatland von einem gesunden Verhältnis zur Wirklichkeit entfernt hat. Sie kritisiert den blinden Fortschrittsglauben zulasten spiritueller Werte. Das klingt auf den ersten Blick konservativ, trifft aber auf drängende Fragen zum Umgang mit dem Planeten.

Es gibt wenig Filme, die einem das Gefühl geben, dass alles in ihnen passieren könnte und mit denen man sich trotzdem wohl fühlt. "La chimera" ist ein solcher Film, weil in Rohrwachers ausgestellt freier Form eine große Hinwendung an die gefilmten Menschen spürbar wird. Die Unberechenbarkeit ist keine bloße formale Übung, sie ist organisch. So lassen sich Sequenzen, in denen die Zeit gerafft, die Handlung von einem Musiker besungen wird oder das Bild auf dem Kopf steht, zwar interpretieren, aber nie so, dass alles einem wie auch immer gedachten Konzept entspricht. Rohrwacher spielt Jazz mit Erdverbundenheit, das Licht bricht durchs Eschenlaub, rote Ariadnefäden schwirren durch die blaue Luft, weiße Vögel landen auf grasenden Schafen, der etwas abgenutzte Lense Flair versetzt noch einmal den eigenen Blick in Hypnose und man entdeckt erneut, dass Schönheit nichts mit den Lebewesen selbst zu tun hat, sondern mit jenen, die sie betrachten.

Wer muss, kann in mancher 16mm-Aufnahme von Baumwipfeln oder Enten eine Art Naturkitsch entdecken, aber bei einem solch durchlässigen, unberechenbaren Genretrip zwischen Märchen, Komödie, Drama und Thriller sehen ohnehin alle etwas anderes. Die filmische Form, die wechselnden Formate und Stimmungen, all das entspricht der titelgebenden Chimäre, die letztlich auf eine bedrohte Qualität des Kinos verweist, jene der Uneindeutigkeit. Das Leben, so spricht es aus den Bildern Rohrwachers, lässt sich kaum filmen, es ist ein flüchtiges Aufflackern von etwas Nahem oder Fernen, mehr Ahnung als Gewissheit. Das Vage wird so offensiv gesucht, dass es zu einer eigenen Qualität wird. Erstaunlich ist, dass die Filmemacherin einen Hunger nach klassischer Erzählkunst samt Sehnsucht, Liebesflackern, Trauer und Spannung mit einem eher modernen Treiben, ja Verlorengehen in den Sinneseindrücken verwebt. Anders formuliert: Der Film ist zugleich Fluss und Meer, fließt zielgerichtet vor einem endlosen Horizont. Man kommt ins Schwärmen, was auch an der Leichtigkeit, der Heiterkeit liegt, mit der sich Leben und Tod auf einen verschlungenen Tanz treffen. Vieles liegt am Schnitt Nelly Quettiers (sie arbeitet auch mit Leos Carax zusammen), die stets dann schneidet, wenn die Zerbrechlichkeit, die Unsicherheit der Figuren sichtbar wird. Wenn Arthur beispielsweise aufbricht, um Italia im Morgengrauen zu verlassen, wird der Augenblick gefilmt, in dem er selbst nicht zu wissen scheint, ob er zurückkehren wird oder nicht. So wird jeder Schnitt zu einem möglichen Richtungswechsel, man weiß, dass es weitergeht, ohne zu wissen, wie es ausgegangen ist.

Gleich im ersten Bild öffnet sich der Blick nur partiell. Ein Cache wird vor dem Objektiv geöffnet, jemand schaut uns an, eine Frau, wir schauen sie an, aber sie schaut auch zurück, als wäre das, was im Kamerapparat verborgen liegt, ein Zeitrohr. Es öffnet sich von Zeit zu Zeit, aber folgen wir oder bleiben wir auf unserer Seite der Wahrnehmung? Wer immer durch dieses Portal geht, das wir Kino nennen, lässt die Grenzen zwischen den Zeiten verschwinden. Das klingt wie ein Zitat aus einem Text früher, enthusiastischer Kinotheoretiker, ist aber eine ernstgemeinte Beschreibung dieses zeitgenössischen Films. Rohrwacher legt es mit ihrer Kamerafrau, der großen Hélène Louvart, darauf an. So wie die tombaroli nach dem Vergangenen graben, so sucht auch sie das, was das Kino einmal gewesen sein könnte. Im Gegensatz zu Arthur und seiner Gang lässt sie sich aber nicht auf moralisch fragwürdige Geschäfte im kapitalistischen Kunstbetrieb ein (wenn man die Filmfestspiele in Cannes nicht in eine solche Ecke stellen will), sondern feiert das Filmische in all seiner Varianz: Super 16, 16mm, 35mm, Digitalästhetik, Stummfilmpassagen, Musik, Surrealismus und so weiter. Am Ende dann "Gli uccelli" von Franco Battiato, vielleicht findet sich im Text dieses die Luft in Bewegung versetzenden Liedes die eigentliche Beschreibung von "La chimera": "Sie öffnen die Flügel, sie stürzen herab, landen, besser als Flugzeuge, sie verschieben den Blick auf die Welt, unberechenbare Flüge und rasantes Auffliegen, nicht wahrnehmbare Flugkurven, Geheimschrift einer existenziellen Geometrie."

Patrick Holzapfel

La chimera - Italien 2023 - Regie: Alice Rohrwacher - Darsteller: Josh O'Connor, Carol Duarte, Vincenzo Nemolato, Isabella Rossellini, Alba Rohrwacher u.a. - Laufzeit: 130 Minuten.