Im Kino

Kartoffelsalat der Gegenwart

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster
25.04.2024. Eine grüne Welt, eine Welt der Vergangenheit: Underground-Regisseur Christian Witte verbringt in seinem neuen Werk "Ein Wochenende bei Oma". Komplett im Home-Video-Stil gehalten entwirft der Film mindestens eine ganze Menschheitsgeschichte. Und Kuchen gibt es auch noch.

Zu Oma zu fahren ist etwas grundsätzlich anderes als "nach hause" zu fahren, zu den Eltern. Im eigenen Elternhaus ist, hat man es einmal verlassen, Geborgenheit nicht zu haben ohne Beengung. Die geteilte Vergangenheit lastet auf einem. Die soziale Rolle, die man hier einmal ausgefüllt hat, klebt an allem: an den Menschen, den Räumen, den Dingen. Alles spricht: Du lebst zwar nicht mehr hier, aber Du wirst immer Sohn oder Tochter bleiben. Sohn/Tochter (und natürlich auch umgekehrt: Vater/Mutter) - das sind Formen der Totalität, weil sie die Erinnerung an ein totales Ausgeliefertsein evozieren. Enkel sein hingegen ist Freiheit und Luxus, Wochenende und Sommerferien. Enkel werden verwöhnt, Enkel bekommen Kuchen. 

Selbstverständlich ist das eine Verallgemeinerung. Mütter und Väter gibt es viele, und natürlich sind alle verschieden. Omas und Opas gibt es noch mehr (ungefähr doppelt so viele), und natürlich sind erst recht alle verschieden. Gleichwohl existieren, Demographie und Soziologie werden das bestätigen können, Muster. Zum Beispiel topografische: Viele Omas wohnen draußen auf dem Land. In Orten mit Namen, die außerhalb der nächsten Umgebung niemand kennt. Spoldershagen zum Beispiel, ein Nest im Norden Vorpommerns, selbst gemeinsam mit den Nachbardörfern kommt die Gemeinde nicht über 500 Einwohner. Ausgestorbene Landstraßen, vereinzelte, oft baufällige Häuser. Längst nicht hinter jedem Fenster wohnt jemand. Und doch gibt es hier Leben, je genauer man hinschaut, desto mehr. Die Welt bei Oma ist gleichzeitig eine grüne Welt, eine blühende Welt, eine Welt der Wiesen, Felder, Blumen, der Hunde, Igel, Vögel; und eine Welt der Vergangenheit, des alten Krams, der Fotoalben, der Erbstücke - und der Jagdtrophäen. Jede Menge Jagdtrophäen. Nicht nur an der Wand hängen welche, offenbart der Kameraschwenk, sogar die Lampe ist mit Geweihen geschmückt.

Was wir bei Oma suchen und finden, ist gerade keine linear durchsortierte Ursprungserzählung, sondern ein wildes Durcheinander. Die eigene Kindheit vermischt sich mit fremden Kindheiten, mit den Kindheiten der Eltern zum Beispiel. Aber auch die eigene Kindheit ist nicht mit sich selbst identisch; was man spätestens dann bemerkt, wenn einem eine alte Videokassette in die Hände fällt, auf der eine alte Weihnachtsfeier aufgezeichnet wurde. Dieser riesenhafte Weihnachtsmann, der sich da auf der grisseligen Uraltaufnahme vor mir auftürmt: wie konnte ich diesen Anblick jemals überwinden?


Hier tritt, nicht selten, das Kino auf den Plan. Heimvideomaterial ist ein gefundenes Fressen für Filmemacher, die sich der - eigenen oder fremden - Vergangenheit zuwenden. Aus solchen spontan, ohne weitergehende Zurichtung entstandenen, die Texturen veralteter Medientechnik mitschleifenden Bewegtbildern spricht, so scheint es, die Tiefe der Zeit selbst. Es öffnet sich ein grob texturiertes, verschliertes Fenster in die Vergangenheit, in die wir von der High-Definition-Gegenwart aus nostalgisch zurückblicken und dabei vielleicht sogar die eine oder andere Lektion über unsere eigene Zeit lernen können. Das ist das geläufige Prinzip der - auch literarisch seit Jahren schwer angesagten - Autofiktion: Kehren wir, momenthaft, distanziert, in die Vergangenheit zurück, auf dass wir herausfinden, wie wir zu denen wurden, die wir sind.

Christian Wittes "Ein Wochenende bei Oma" funktioniert - zum Glück - ganz anders. Im neuen Film des Youtube- und Off-Kino-Auteurs wird die Gegenwart von der Vergangenheit nicht erklärt, sondern infiziert. Sein ebenso simpler wie genialer Trick besteht darin, die Differenz zwischen Archivmaterial - aus den 1990er Jahren, hauptsächlich - und neu gedrehten Szenen einzuebnen: "Ein Wochenende bei Oma" ist komplett in Handkamera und auf VHS-C gedreht. Ein Home-Movie, das Home-Movies umschließt. Erinnern kann man sich ohnehin nur im Hier und Jetzt, deshalb ist jeder Versuch, dem Archivmaterial eine "tiefere" Wahrheit zu entlocken, sinnlos. Der Kartoffelsalat der Gegenwart birgt ebenso viele Geheimnisse wie das Erdbeereis der Vergangenheit. 

Christian Witte besucht also seine Oma. Ein Wochenende lang wird gefilmt, was das Zeug hält. Material kommt genug zusammen, der finale Cut mit seinen 74 Minuten Laufzeit ist nur die Spitze des Eisbergs. Manche Omas sind schweigsam, schließen die Vergangenheit in sich ein; diese nicht. Mindestens eine ganze Menschheitsgeschichte steckt in ihr und in diesem Film. Auf einem Präsentierteller Fundstücke vom lokalen Acker: Das hier ist ein Faustkeil (tatsächlich behauptet Wikipedia über Spoldershagen: "Die Gegend wurde schon in der Steinzeit besiedelt, davon zeugen entsprechende Funde" - welche Funde sind das wohl? Am Ende die auf Omas Teller?), und das hier daneben, eine Adlerfigur, die ist vom Hitler. Nach dem Krieg kommen dann neben Russen auch "Mongolen" ("mit Säbeln") ins Dorf. Die Bauern der Gegend werden wiederum reihenweise an Laternenpfählen erhängt (beziehungsweise, O-Ton Oma: "aufgebommelt"). Als dann später in Berlin die Mauer hochgezogen wird, sind in Spoldershagen gerade fast alle verkatert. Nach der Wende wiederum setzen sich Grafen und Gräfinnen ins Wohnzimmer der Familie, um Ossis anzuschauen, wie im Tierpark.

Bei Oma kann man allem begegnen: furzenden Bürgermeistern, kopulierenden Igeln, oder auch Stiftzähnen, die verschluckt, ausgekotet, abgewaschen und wiedereingesetzt werden. Warum auch nicht, teuer genug sind die Dinger ja. Eins fügt sich ins andere, als Kitt dient jedoch nicht historische oder auch nur lebensweltliche Kohärenz (zwischendurch taucht schon mal ein "Heiler" auf und rettet praktisch der halben Verwandtschaft per Hand-aufs-Foto-Legen das Leben), sondern die unverwüstliche gute Laune der Oma. Die Brandwunden der Tochter nach einem Feuerwerksunfall waren schlimm, aber jetzt sind sie verschwunden (der "Heiler"...), dem Typ mit der abgebrochenen Glasflasche, der die ganze Familie umbringen wollte, hatte man bereits tags darauf vergeben. Zwischendurch unternimmt die Kamera Ausflüge durchs auratische Omahaus, begleitet von schummrigen Low-Fi-Klängen. Jederzeit könnte "Ein Wochenende bei Oma" in einen Horrorfilm umschlagen - das zweite Genre, das aus dem "Home Movie"-, beziehungsweise "Found Footage"-Look Kapital zu schlagen versteht. Aber diesmal nicht, diesmal gibt es lecker Sahnetorte und hinterher entspannen wir uns auf dem Gartensofa.

Oma spricht, auch das ermöglicht die Heimvideotechnik, nicht für die Kamera, sondern aus ihrem Alltag heraus. Dass der Enkel bei seinem Besuch mit Videotechnik hantiert, stört sie nicht groß. Sie ist nichts anderes gewöhnt. Hinterher abgesegnet hat sie das Filmprojekt natürlich, der Regisseur zeigt "Ein Wochenende bei Oma" öffentlich nur mit ihrer Erlaubnis. Es lohnt sich, nach solchen Vorführungen Ausschau zu halten.

Lukas Foerster

Ein Wochenende bei Oma - Deutschland 2023 - Regie: Christian Witte - Laufzeit: 74 Minuten.