Efeu - Die Kulturrundschau

Angst, Sehnsucht, Irrsinn, Erotik

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.03.2024. Die Musikkritiker trauern um Aribert Reimann, der alles einfing, was Menschen fühlen können, in einer Musik frei von Takt und Metrum. Die SZ blickt gnadenlos auf die Berliner Volksbühne, die zum Selbstbedienungsladen einiger Künstler verkommen sei. Die taz vermisst die Sprengkraft in Kim Gordons neuem Album. Feminismus im Kino war schon mal klüger als "Barbie", denkt sich der Guardian. Die Welt schwärmt vom Lamborghini Miura, dessen Schöpfer Marcello Gandini gerade gestorben ist.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.03.2024 finden Sie hier

Bühne

Aribert Reimann, 2010. Foto: Aldus Rietveld, unter CC-Lizenz


Der Komponist Aribert Reimann ist gestorben. Die Zeitungen sind voller bewundernder Nachrufe: Denn Reimann war ein durch und durch moderner Komponist, für den dennoch der Mensch das Maß aller Dinge blieb, als "singend sich äußernde und entäußernde Kreatur", schreibt Stefan Mösch in der FAZ. "Damit unterscheidet sich Reimann von vielen Komponisten seiner Generation. Bei den Darmstädter Ferienkursen, die in den 50er- und 60er-Jahren den Ton der Neuen Musik bestimmten, war er nur ein einziges Mal und fuhr befremdet nach Hause. Er hatte nichts gegen Selbsterneuerungswillen, auch nichts gegen Reihen und serielles Denken, aber er entwickelte daraus eine andere künstlerische Physiognomie. Vor allem glaubte er an die menschliche Stimme, die damals in Avantgarde-Kreisen verpönt war. Er konnte sich zur Expressivität bekennen, weil er souverän genug war, nicht aus einem Vorrat verfügbarer Ingredienzien zu schöpfen. Ausdruck entwickelte sich bei ihm aus stets neu geschaffenen Erlebnis- und Kommunikationsbezirken."

Das zeigte sich vor allem bei seiner Oper "Lear", die 1978 in München uraufgeführt wurde. Eine Sensation, erinnert sich in der Berliner Zeitung Peter Uehling. "Es erklang eine Musik von großer dramatischer Wucht und Ausdruckskraft, die zu ihrer Wirkung jedoch keinerlei stilistische Zugeständnisse an die Spätromantik machte, wie sie zu dieser Zeit, etwa bei Hans Werner Henze oder Wolfgang Rihm, gang und gäbe waren. Das Werk vermochte neue Orchesterklänge zu prägen wie zuletzt vielleicht die 'Elektra' von Strauss: Die Exzesse der Sturmmusik oder die gläsern-stockenden Streicher, die den Narren begleiten, sind vielleicht die letzten schlagenden Beispiele charakterisierenden Instrumentierens in der Musikgeschichte überhaupt."

Weitere Nachrufe von Christian Wildhagen in der NZZ, Gregor Dotzauer im Tagesspiegel, Manuel Brug in der Welt, Judith von Sternburg in der FR und Reinhard J. Brembeck, der sich in der SZ erinnert, dass Reimann Melodien schreiben konnte, "die nie an Bekanntes erinnern, immer aber Träger von Ausdruck und Emotion sind. Angst, Sehnsucht, Irrsinn, Erotik, Unsicherheit. Jubel: Alles, was Menschen fühlen, konnte Reimann in seinen oft ins Endlose zielenden Melodien einfangen. Wobei diese Melodien sich als organische Gebilde entfalten, völlig frei von Takt und Metrum, an die sich zu binden Reimann langweilig und reizlos fand."

Hier die Cordelia-Arie aus Aribert Reimanns "Lear", mit Hanna-Elisabeth Müller



Mit der Berliner Volksbühne geht es bergab - nicht erst seit Rene Pollesch Intendant wurde, aber seitdem noch steiler, meint in der SZ Peter Laudenbach, der - bei aller Liebe zu dem Regisseur Pollesch - hart mit dem Intendanten abrechnet: "Polleschs Behauptung einer kollektiven Intendanz war ein gut gemeinter Selbstbetrug und ein Missverständnis: Pollesch wollte Intendant sein, ohne den Intendanten geben zu müssen. Das öffnete Räume für groteske Selbstbedienungsmanöver jenseits professioneller Mindeststandards. Die Tochter einer Bühnenbildnerin will mal Regie führen und blamiert sich mit ihren Freunden mit dilettantischen Hilflosigkeiten. Die Witwe von Bert Neumann braucht einen Job und wird Marketingchefin, nebenbei verdient sie sich etwas dazu, indem sie vor überschaubarem Publikum aus ihren Lieblingsbüchern vorliest. Die Freundin von Martin Wuttke gibt die Chefdramaturgin. Persönliche Seilschaften werden zur Kernkompetenz. Jeder darf mal." Laudenbach plädiert dafür, Matthias Lilienthal als Interimsintendanten ans Haus zu holen und für die Zeit danach Nikolas Stemmann.

Besprochen werden Clemens Maria Schönborns Inszenierung von Calderons Versdrama "Das Leben ein Traum" an der Berliner Volksbühne (in der FAZ singt Simon Strauß ein kleines Liebeslied an Darstellerin Sophie Rois: Ihr "Singsang ist es, der den Abend trägt. Auch dann noch, als er zum Ende hin arg ausfranst und sich in Kalauern erschöpft. ... die Rois reißt alles raus. In ihren Singsang verliebt sich das Ohr stets aufs Neue. An ihrem herben Gesicht kann man sich nicht sattsehen. Dass ihr schöner Sigismund je 'müde und einsam durchs Leben schreiten' könnte, kann man sich beim besten Willen nicht vorstellen.") Sarah Kohrs' Inszenierung von Rossinis "Cenerentola" an der Oper Kiel (nmz), Mieczysław Weinbergs "Die Passagierin" in der Inszenierung von Tobias Kratzer an der Bayerischen Staatsoper (nmz) und Wolfgang Rihms "Die Hamletmaschine" am Staatstheater Kassel (nmz).
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Literatur

Besprochen werden unter anderem Anke Feuchtenbergers Comic "Genossin Kuckuck" (taz), Hans Jürgen von der Wenses "Routen I" (online nachgereicht von der FAZ), Daria Shualys "Lockvogel" (FR), Luna Alis "Da waren Tage" (Tsp), die Berliner Ausstellung "Das Fotoalbum der Familie Kafka" (NZZ, mehr dazu bereits hier) und der Schlüsselroman "Geheimnisse, Lügen und andere Währungen" von Andreas Scheuers Ex-Sprecher Wolfgang Ainetter (SZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Stichwörter: Feuchtenberger, Anke

Film

Beatrice Loazya ist im Guardian gar nicht zufrieden mit dem Zustand des Feminismus im Kino: Sind Filme wie "Barbie" (unsere Kritik) und "Poor Things" (unsere Kritik) wirklich das ganz große feministische Happening als das sie verkauft werden? Oder handelt es sich einfach nur um Malen-nach-Zahlen fürs Ego-Boosting? Und war früher vielleicht doch alles besser? "Die Siebziger erlebten einen Aufschwung des feministischen Filmemachens. Es gab feministische Filmkollektive, die Dokumentarfilme über Frauenrechtsfragen drehten. Hollywood ging Risiken ein und ließ mehr Frauen Filme inszenieren und schreiben. Eine Handvoll Indie-Filme kamen heraus, die sich auf völlig neue Art mit der weiblichen Erfahrung befassten ('Girlfriends', 'Jeanne Dielman, 23 Quai du Commerce, 1080 Bruxelles'). Die feministischen Filme der Vergangenheit zeigen uns komplexe und belebende neue Sichtweisen auf Geschlecht, Genderbeziehungen und Hausarbeit auf und sie forderten das Publikum heraus, neu über das nachzudenken, was sie für selbstverständlich hielten. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Streitkultur heute möglich wäre, wenn sich unsere Auffassung von feministischer Stärke auf die niedrighängenden Früchten von Sex-Positivity und akurater Repräsentation fokussiert."

Im NZZ-Kommentar ärgert sich die Schriftstellerin Mirna Funk über Jonathan Glazers Oscarrede und im Zuge auch über seinen Film "The Zone of Interest" (unsere Kritik): Dem Filmemacher "ist der Holocaust in seiner Singularität vollkommen egal. Damit ist er Teil eines Problems, das wir seit Jahren schon an den Universitäten und Institutionen beobachten können: der Versuch von Wissenschaftern und Historikern, den Holocaust zu verallgemeinern. ... Glazer zeigt nicht nur keine Shoah-Opfer, er erinnert auch in seiner Rede nicht an sie. Das liegt daran, dass er einen Film machen wollte, in dem es um den Holocaust geht, ohne von ihm zu erzählen. Das Ziel Glazers ist, eine vermeintliche Lehre zu vermitteln, die konturlos jederzeit und auf jeden politischen Konflikt angewendet werden kann. Der Sprung zum gegenwärtigen Nahostkonflikt ist denn bei Glazer kurz: Geschichtliche Zusammenhänge oder Fakten werden ignoriert."

Elegant, souverän, klassizistisch: "Ferrari" von Michael Mann

Einfach nur bitter findet es Rüdiger Suchsland auf Artechock, dass Michael Manns "Ferrari" (unsere Kritik) - für ihn "der beste us-amerikanische Film des letztes Jahres" - bei den Oscars komplett ignoriert wurde und in Deutschland gleich von vornherein nicht im Kino gezeigt wird. Er "stellt vergleichsweise biedere Werke wie 'Oppenheimer', 'Maestro' oder 'Killers of the Flower Moon' und auch exaltierte akademische Manifeste wie 'Poor Things' in seiner Eleganz, seiner Souveränität und seinem Klassizismus weit in den Schatten, und hätte unbedingt mehrere Oscar-Nominierungen verdient." An dieser Stelle bespricht Suchsland den Film ausführlicher.

Weitere Artikel: Andreas Busche schreibt im Tagesspiegel über aktuelle MeToo-Proteste in der deutschen Filmbranche. Hanns-Georg Rodek von der Welt hat weiterhin offene Fragen zur Berlinale-Abschlussgala. Andreas Scheiner und Lucien Scherrer sprechen für die NZZ mit dem Autor Samuel Fitoussi, der ein kritisches Buch über Wokeness in der Filmindustrie geschrieben hat. Valerie Dirk spricht für den Standard mit Michael Loebenstein, dem Direktor des Österreichischen Filmmuseums, das dieser Tage seinen 60. Geburtstag feiert. Im ersten Beitrag seiner Jahresreihe für den Filmdienst denkt Leo Geisler über das Wesen von Kuchenfilmen nach, ein Kampfbegriff, der in den späten Sechzigern an der Berliner Filmhochschule dffb entstanden ist. Arno Widmann erinnert in der FR an James Bridges' AKW-Thriller "Das China-Syndrom" aus den Siebzigern. Alex Struwe denkt für 54books über Katastrophenfiktionen im Film nach. Peter Kremski blickt für Artechock zurück auf 25 Jahre Preis der deutschen Filmkritik.

Besprochen werden Catherine Corsinis "Rückkehr nach Korsika" (Perlentaucher, Artechock), neue Kurzfilme von Pedro Almodóvar (Artechock), Georg Maas' Kafka-Film "Die Herrlichkeit des Lebens" (Artechock, FAZ). Maryam Keshavarz' "The Persian Version" (Artechock, Welt), Jade Halley Bartletts "Miller's Girl" (Artechock), Mike Mitchells Animationsfilm "Kung Fu Panda 4" (Standard), die auf Netflix gezeigte, deutsche Science-Fiction-Serie "Das Signal" (FAZ), die Sky-Serie "Helgoland" (FAZ, Welt) und die True-Crime-History-Serie "Nach dem Attentat" (Freitag).
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Design

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Ulf Poschardt schreibt in der Welt einen schwärmerischen Nachruf auf den Autodesigner Marcello Gandini, der einst - "als der Westen Träume hatte" - mit seinem Lamborghini Miura in Sachen Schönheit dem Ferrari Konkurrenz machte, "aber anders als die Renaissance-Schönheiten von Pininfarina eine aufreizende, ja laszive Formsprache hatte. ... Gandini schuf Träume einer besseren, schöneren Welt. Eine Welt, in der Träume, nicht Lebenslügen, den Takt der Modernisierung vorgaben. ...  Wer ein aktuelles Lastenfahrrad neben einen Miura stellt, weiß, dass wir kulturell auf einem morschen, absteigenden Ast sind. Wir transformieren uns in eine ästhetische Hölle."

In der Berliner Zeitung stellt Manuel Almeida Vergara das Werk der in Auschwitz ermordeten Bauhäuslerin Otti Berger vor, über die gerade ein Buch erschienen ist: "Otti Berger. Weaving for Modernist Architecture", herausgegeben von Esther Cleven und Judith Raum. "Anders als viele ihrer berühmten Bauhaus-Kolleginnen, Anni Albers und Gunta Stölzl allen voran, entwarf Berger eben keine farb- und formenstarken Wandbehänge, keine opulent dekorierten Teppiche - keine textilen Kunstwerke. Stattdessen: schlichte Stoffe, allenfalls in Streifen oder Karos gemustert, zweckdienlich, funktional. Und vor allen Dingen industriell reproduzierbar. 'Berger war eine experimentierfreudige Gestalterin, die ihre Materialien kontinuierlich getestet hat unter dem Gesichtspunkt industrieller Produktionsprozesse einerseits und der Nutzungsbedürfnisse andererseits', sagt Esther Cleven. 'Diese beratende und stellvertretende Position einzunehmen, ist ja letztlich die Grundhaltung einer modernen Designerin.'"
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Kunst

In der SZ rollt Marlene Knobloch auf einer ganzen Seite, seltsamerweise offenbar auf Bitten von Johann König, den Fall des Galeristen nochmal auf, der vor zwei Jahren der sexuellen Belästigung beschuldigt wurde und seitdem persona non grata im Kunstbetrieb ist. Angeklagt wurde er nie, und der Artikel mit den Beschuldigungen, den die Zeit damals veröffentlichte, musste zum Teil qua Gerichtsbeschluss um ein gutes Viertel gekürzt werden. Knobloch gibt noch mal alle Gerüchte wieder, hört sich Königs Verteidigung an und weiß am Ende auch nicht mehr. Nur dass ihr die Sache irgendwie unangenehm ist. Muss er sich denn so laut verteidigen? So bitter sein? "König hat eine neue Galerie in Mexico City eröffnet mit Mezcal-Cocktails, blauem Himmel, neuen Leuten. Zwei Wochen nach der Eröffnung schickt er einen Screenshot einer mexikanischen Künstlerin, 'Bitte folgen Sie mir nicht, ich will keine Kommentare von Sexualstraftätern'. Hoffnungslos sei alles, man habe ihn kaputt gemacht, schreibt König. Aber als wer man weiterexistiert, entscheidet man auch selbst. Es ist wie bei einem Bild, es kommt auf die Details an, worauf man sich konzentriert, ob man Fehler zugibt, ob man laut oder leise auftritt, geläutert oder wütend."

Weiteres: Patrick Bahners erkundet für die FAZ die neue Hängung im Düsseldorfer Kunstpalast. Stefan Trinks gratuliert in der FAZ dem Maler Werner Büttner zum Siebzigsten.
Archiv: Kunst
Stichwörter: König, Johann

Musik

Ziemlich enttäuscht ist tazler Dirk Schneider davon, "wie dünn die Gedanken sind", die US-Noiserockerin Kim Gordon beim Webcam-Gespräch anlässlich ihres neuen Solo-Albums "zu ihrer Kunst entwickelt. Dieser Kunst, die ästhetisch so ansprechend ist. Vielleicht etwas zu ansprechend. Es erhärtet sich der Verdacht, dass es sich bei Kim Gordons neuem Soloalbum um wasserdichte, längst etablierte Ästhetik handelt, die zwar Spaß macht, aber eines nicht hat: Sprengkraft. Kim Gordon ist selbst zur Marke geworden."



Außerdem: Tresor-Gründer Dimitri Hegemann freut sich im Gespräch mit der Berliner Zeitung, dass die Berliner Technokultur nun Teil des immateriellen Kulturerbes ist. In der Schweiz hegt und pflegt man die eigene Technokultur schon seit 2017, informiert Philipp Gollmer in der NZZ. Deutlich weniger unter Schutz stehen die der Reihe nach schließenden Musikinstrumente-Fachgeschäfte, um die Tobi Müller auf Zeit Online trauert. Das Rap-Trio Kneecap verklagt die britische Staatssekretärin Kemi Badenoch, weil diese zugesagte Exportfördermittel zurückhält, berichtet Ralf Sotschek in der taz. Im großen SZ-Magazin-Gespräch befragen Thomas Bärnthaler und Jo Metson Scott Nick Cave ausführlich zu dessen im Zuge der Pandemie neu entfachten Liebe zur Keramikkunst. In der FAZ gratuliert Wolfgang Sandner dem Freejazzer Joachim Kühn zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Jan Hecks Kino-Doku "Otze und die DDR von unten" über die DDR-Kultpunkband Schleimkeim (ND) sowie neue Alben von Justin Timberlake (Presse, SZ) und dem Nino aus Wien (Zeit Online).

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Stephan Sura über Paco de Lucías wirklich wunderbare Flamenco-Künste:

Archiv: Musik
Stichwörter: Gordon, Kim, Kulturerbe