Efeu - Die Kulturrundschau

Hoffnung für die Kunst in finstersten Zeiten

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14.08.2023. So nihilistisch hat man Iran im Kino noch nicht gesehen wie in Ali Ahmadzadehs "Critical Zone", der in Locarno den Goldenen Leoparden gewonnen hat, staunen die Kritiker. Christoph Marthaler hat mit seinem Zigarre qualmenden "Falstaff" bei den Salzburger Festspielen das Publikum erzürnt - so schlimm war es gar nicht, finden die Kritiker. Die SZ ruft modernen Architekten zu, sich von der Bauhaus-Utopie inspirieren zu lassen. Außerdem gratulieren die Feuilletons Wolf Wondratschek zum Achtzigsten.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.08.2023 finden Sie hier

Film

Nihilistischer Blick auf Iran: "Critical Zone" von Ali Ahmadzadeh

Das Filmfestival Locarno ist mit einem Goldenen Leoparden für den iranischen Film "Critical Zone" zu Ende gegangen. Regisseur Ali Ahmadzadeh konnte den Preis nicht entgegennehmen, da er in seiner Heimat festgehalten wird (unser Resümee). "Selten hat das Wort vom Underground-Film mehr Wahrheit besessen", schreibt Daniel Kothenschulte in der FR über den mit versteckten Kameras und Laiendarstellern trotz Berufsverbot realisierten Film. "Zentraler Spielort ist das Auto eines Drogenkuriers, dessen gefährliche Fracht zu tragisch-begehrten Fluchten verhilft. ... Es ist ein sensationeller Film. Wie lange haben westliche Festivals der iranischen Diktatur immer wieder den Gefallen getan, sie mit ihren offiziellen Produktionen liberaler aussehen zu lassen, als sie ist. Oscar-Preisträger Asghar Farhadi verließ erst im vergangenen Jahr vorsichtig seinen offiziellen Kurs, als er die Straßenproteste unterstützte. Doch zu welcher Kunst haben unterdessen die verfemten Regiestars Jafar Panahi und Mohammad Rasoulof den filmischen Untergrund geführt.  Nun einen jüngeren Regisseur mit jungen Darstellern diesen Weg weiterzugehen und diese minimalistische Ästhetik vervollkommnen zu sehen, weckt Hoffnung für die Kunst in finstersten Zeiten.

"Selten war das iranische Kino derart nihilistisch", ergänzt Patrick Wellinski im Tagesspiegel. "Die Verachtung gegenüber einem mörderischen Unterdrückersystem lässt sich kaum hoffnungsloser und resignierter erzählen." Dabei ist dieser Film "mehr als ein bloßes Statement des Ungehorsams unter erschwerten Produktionsbedingungen", schreibt Marian Wilhelm im Standard und bewundert "eindrückliche atmosphärische Bilder." Michael Ranze resümiert in der FAZ den aus seiner Sicht unausgeglichenen Wettbewerb des Festivals: "Da konkurrierten schwarz-weiße gegen bunte, lange gegen kurze, enttäuschende gegen meisterliche Filme. Mal standen Frauen im Mittelpunkt, mal Männer, mal ging es um Gewalt, mal um Trauer und Verlust. Ein roter Faden ließ sich nicht ausmachen."

Weitere Artikel: Rüdiger Suchsland spricht für den Filmdienst mit Asli Özge über ihren Paranoia-Film "Black Box". Besprochen werden Regina Schillings im ZDF gezeigter Essayfilm "Diese Sendung ist kein Spiel" (taz, mehr dazu hier), die NeoCowboy-Serie "Yellowstone" (Jungle World), die dritte Staffel von "Only Murders in the Building" (Zeit), die ARD-Serie "Everyone is f*cking crazy" (FAZ) und der ZDF-Sechsteiler "Das Mädchen und die Nacht" (FAZ).
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Kunst

Hito Steyerl, 2019. Foto: Dominik Butzmann / re:publica unter CC-Lizenz
In einem ausführlichen Interview mit Jörg Häntzschel spricht Hito Steyerl in der SZ unter anderem über "art washing", die Förderung von Kunstprojekten durch große Konzerne, die lediglich der eigenen "Reputationspflege" dient: "Wir haben es gerade erst erlebt mit Palantir bei der Leipziger Ausstellung 'Dimensions'. Die haben das genutzt, um aggressiv ihre neuen Produkte, ihre militärische KI anzupreisen. Es gibt in Deutschland viele große Konzerne, die teils in der Nazizeit gegründet worden sind oder damals große Teile ihres Vermögens erwirtschaftet haben, und jetzt über ihre Stiftungen in Kunst- und Wissenschaftsförderung involviert sind." Außerdem blickt sie zurück auf den Skandal bei der Documenta: "Ich habe unterschätzt, wie erbittert dieser Kulturkampf um den BDS ausgefochten wird. Da geht es nur vordergründig um Israel oder Palästina. Das sind Vorwände für Machtkämpfe zwischen Fraktionen der deutschen Kultur-Bürokratie, auch um den Bundestagsbeschluss. Wenn man Rassismus gegen Antisemitismus ausspielt, kann nichts Gutes rauskommen, zumal in Deutschland."

Der Münchner Kunstverein wird zweihundert Jahre alt: in der taz unterhält sich Tal Sterngast mit der Direktorin Maurin Dietrich und dem ehemaligen Leiter Bart van der Heide.
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Literatur

Wolf Wondratschek auf der Leipziger Buchmesse 2011. Foto: Lesekreis, unter CC-Lizenz
Die Feuilletons gratulieren Wolf Wondratschek zum Achtzigsten. Seit den späten Sechzigern wurde seine "gänzlich ungealterte Lyrik ... zur Identifikationslektüre nicht nur seiner und einer nachfolgenden Generation", schreibt Rose-Maria Gropp in der FAZ. Seine "Gesänge über die Männer und die Frauen (es stimmt einfach nicht, dass Wondratschek dabei im ständigen Kampfmodus war), über das ungelebte Leben und die Sehnsucht, also kurz: über die Liebe - und sei sie sein Hingezogensein zur Unterwelt und ihrem Personal, zum Boxen oder zur Corrida - machten ihn zum Star. Daran war Wondratschek nicht unschuldig, ließ es mindestens geschehen. Einige Etiketten, die ihm angehängt wurden, verdiente er sich redlich, loner oder, wenn's der Wahrheitsfindung dient, auch Macho." Aber er "brachte das Kunststück zustande, sich trotz seines Erfolges dem Literaturbetrieb zu verweigern und seinen eigenen Weg zu gehen", ergänzt Christoph Winder im Standard. "Viel Zeit ist seither verflossen, aber in den neuen, in freier Versform geschriebenen Gedichten ist alles noch da: Wondratscheks Sound, sein sprachlicher Punch, die Sensibilität, die Distanz zu jedem Klischee, der Sinn für das Paradoxe und für das, was wirklich zählt im Leben. Und natürlich die Rauchschwaden, die seit Jahrzehnten verlässlich durch sein Werk ziehen."

Will Winkler seufzt in der SZ: Der einstige "Popdichter" wurde irgendwann zum Podichter, der sich irgendwann einfach nur noch durchs Milieu schrieb, je nachdem, wer ihm gerade Geld für Auftragsarbeiten auf den Tisch legte. "Der einst die Gesellschaft von Hans-Jürgen Krahl und Angela Davis suchte, erschrieb sich damit konsequent einen Peinlichkeitsstatus. ... Mit wachsender Verzweiflung bekam er den abnehmenden Ruhm zu spüren. So groß, wie er sich durch die Selbstschmähung 'Bin ich das Arschloch der Achtziger Jahre?' machte, war er nicht, er hatte sich nur erfolgreich in einem Gehege mit Zuhältern, Nutten und Großsprechern verheddert, ein für die Literatur schier hoffnungsloser Fall, dem auch mit der Rückkehr zum Endreim und zum klassischen Sonett nicht mehr zu helfen war."

Weitere Artikel: Ute Büsing porträtiert die Schriftstellerin Emily St. John Mandel, die in ihren Romanen Science-Fiction und historischen Roman kreuzt. Die Welt spricht mit Jean-Luc Fromental, der Edgar P. Jacobs' "ligne claire"-Comicklassiker "Blake & Mortimer" mit neuen Abenteuer fortsetzt - soeben erschienen: der neue Band!

Besprochen werden unter anderem Kathrin Rögglas "Laufendes Verfahren" (Standard), Tina Makeretis "In der Tiefe der Wurzeln beginnt ein Singen" (online nachgereicht von der FAZ), Carolin Miltenburgers "Luisentor" (Tsp), Elle McNicolls "Wie unsichtbare Funken" (TA), Anthony Powells "Täuschung und Selbsttäuschung" (Zeit), eine Neuausgabe von Ivo Andrićs "Das Fräulein" (NZZ) und Seishi Yokomizos Krimi "Mord auf der Insel Gokumon" (FR).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Mathias Mayer über Durs Grünbeins "Aphoristiker":

"Es sind die kleinen Gesten,
die größer werden aus der Entfernung.
..."
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Architektur

Das "Haus am Horn" in Weimar. Foto: Klassik Stiftung Weimar.

Vor 100 Jahren wurde das "Haus am Horn" als Musterbeispiel für die Bauhaus-Architektur errichtet. Die Ideen von damals sollten sich heutige Architekten hinter die Ohren schreiben, ruft Gerhard Matzig in der SZ: "Schön ist es nicht, aber das Utopische daran, die Vision eines besseren Lebens ist bis heute spürbar. Deshalb liegt die Frage nahe: Was hat uns das Bauhaus noch zu sagen? Viel. Der Garten (unfertig) sollte auch der Selbstversorgung dienen; das Haus sollte sich an unterschiedliche familiäre Konstellationen anpassen können; die Wärmedämmung war hypermodern; Wohnraum sollte günstig und für alle erschwinglich werden. Letzteres hat schon mal nicht geklappt. Auch damals herrschte Wohnungsnot in Deutschland. Das modular gedachte (Öko-)Haus war eine Pioniertat, auch wenn es als 'öffentliche Latrine' und 'Nordpolstation' beschimpft wurde."

Die Schlosskulisse, mit der vor 30 Jahren vor dem Palast der Republik für den Wiederaufbau des Hohenzollern-Schlosses geworben wurde, entstand nicht aus dem reaktionären Geist von "Preußen-Nostalgikern", stellt Nicolaus Bernau, der damals mitkuratierte, im Tagesspiegel richtig: "Wilhelm von Boddien - egal, wie man zu seinem Wiederaufbauprojekt steht, diese Ehrlichkeit muss sein - propagierte es eben nicht als Teil einer politischen Preußen-Renaissance, sondern als rein ästhetisches Projekt der Stadtrekonstruktion."
Archiv: Architektur

Bühne

Szene aus "Falstaff" bei den Salzburger Festspielen. 

Ziemlich sauer war das Publikum nach Christoph Marthalers Inszenierung von Verdis Oper "Falstaff" bei den Salzburger-Festspielen. Marthaler lehnt das Stück an ein Filmprojekt von Orson Welles an und lässt auf der Bühne ein Filmteam auftreten unter der Regie eines dickbäuchigen, zigarrerauchenden Falstaff alias Welles. Es wird dann noch ziemlich kompliziert, meint Egberth Tholl in der SZ, musikalisch ist die Inszenierung aber durchaus gelungen, "gerade der Schluss des zweiten Akts - jene Szene, in der sich der auf Freiersfüßen befindliche Falstaff in einem Korb versteckt und schließlich in der Themse landet - wird bei Marthaler zur perfekten Umsetzung der Musik. Bei Verdi plappern alle in höchster Verwirrung wie wild drauflos, die Worte haben keine Bedeutung mehr, werden zur Musik, hier auf der Bühne bricht das totale Chaos aus, die Ebenen verschwimmen." Vielleicht ist das alles eine "Spur überinszeniert", gibt Anja Rosa-Thöning in der FAZ zu, aber für "die Offenheit gegenüber neuen Gedanken auf Basis des Werkes" ist sie dankbar. Judith von Sternburg kann den Frust des Publikums schon verstehen: "Alle sind betrogen, aber nicht nur von ihren Eitelkeiten, ihren Dummheiten und von einander, wie es im Text steht, sondern auch von einer überkomplizierten Regieidee, durch die sich das Regieteam passenderweise selbst betrogen hat."

Weitere Artikel: Die Feuilletons melden, dass Kay Voges der neue Intendant am Schauspiel Köln wird. SZ-Kritiker Dorion Weickmann hat in der ersten Woche des "Tanz im August"-Festival in Berlin ein "herrliches Utopia der Multikulturalität" erlebt. Till Briegleb teilt dort seine Eindrücke vom internationalen Sommerfestival-Kampnagel. In der FAZ berichtet Patrick Bahners über die Ambitionen des Kölner Kulturdezernenten Stefan Charles.

Besprochen werden Georges Aperghis' instrumentales Theaterstück "Die Erdfabrik" bei der Ruhrtriennale (SZ).
Archiv: Bühne

Musik

Ulrich Rüdenauer schwärmt in der FAZ von dem in Chicago ansässigen Jazz-Label International Anthem, dessen künstlerische Relevanz für die Gegenwart er ähnlich hoch einschätzt wie die von Impulse in den Sechzigern und Black Saint in den Siebzigern. Es geht um "radikale musikalische Entwürfe", um "Musik, die Grenzen überschreitet. Das kann sich um wild-deklamatorische Free-Jazz-Meditationen wie bei Irreversible Entanglements handeln, um collagenartige Klangexperimente von Makaya McCraven oder psychedelisch-unberechenbare Progressive-Jazz-Funk-Fusionen von Ben LaMar Gay. Was diese unterschiedlichen musikalischen Positionen zusammenhält, hat viel mit der Vorstellung einer eng verbandelten Community zu tun: Freundschaften herstellen über gemeinsame Projekte, Haltungen entwickeln durch gegenseitige Unterstützung und politischen Aktivismus. McNiece und Allen verstehen sich nicht als Geschäftsleute - sie sind zuallererst Freunde der Musiker, dann Kuratoren, Ermöglicher, Produzenten, Prozessteilnehmer, Fans." Die Bandcamp-Seite des Labels lädt zum Stöbern ein, empfehlen kann uns Rüdenauer unter anderem Asher Gamedzes Album "Turbulence and Pulse".



Außerdem: Timo Posselt von der Zeit sitzt gemeinsam mit der Schweizer Band Crème Solaire im Tourbus. Ogulcan Korkmaz schreibt in der taz einen Nachruf auf Erkin Koray (mehr zu dessen Tod bereits hier).

Besprochen werden der Auftakt der gemeinsamen Tour von Daniel Barenboim, Igor Levit und dem West-Eastern Divan Orchestra  (FAZ), ein von Riccardo Muti dirigierter Bruckner- und Verdi-Abend der Wiener Philharmoniker (Standard), das von Paavo Järvi dirigierte Eröffnungskonzert des Luzerner Sommerfestivals (TA, NZZ), Lori McKennas Album "1988" (FR), das Konzert des Greek Youth Symphony Orchesters beim Berliner Festival Young Euro Classic (Tsp), Andreas Reizes erste Aufnahme als neuer Thomaskantor mit Johann Sebastian Bachs h-Moll-Messe (FAZ) und das neue Album "Other Doors" von Soft Machine (FAZ). Hier der Titeltrack:

Archiv: Musik