9punkt - Die Debattenrundschau

Die einen wie die anderen zündeln

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.06.2024. Die Direktoren von Berliner NS-Erinnerungsorten fordern die Berliner Universitäten auf, Antisemitismus auf ihrem Campus zu benennen. Der Westen ist so bedroht wie selten zuvor, auch von innen, warnt Heinrich August Winkler in der SZ. ZeitOnline erinnert Europas Konservative, die mit den Rechten anbändeln, derweil an die Geschichte. Der Vorsitzende der Giordano-Bruno-Stiftung Michael Schmidt-Salomon fordert die Abschaffung des "Gotteslästerungsparagrafen". In der NZZ gibt Dmitri Bykow die Hoffnung auf ein Ende des russischen Faschismus in den 2030er Jahren nicht auf.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.06.2024 finden Sie hier

Ideen

Der Vorsitzende der Giordano-Bruno-Stiftung Michael Schmidt-Salomon kritisiert die späten und etwas schlappen Reaktionen auf das Messerattentat in Mannheim, berichtet hpd. Zumal die Warnungen von Ex-Muslimen und liberalen Muslimen vor den Gefahren des Politischen Islam jahrelang ignoriert wurden. Ein Anfang für Veränderungen wäre für Schmidt-Salomon eine Abschaffung des sogenannten "Gotteslästerungsparagrafen" 166 StGB: "Paragraf 166 ist verantwortlich dafür, dass islamkritische Kommentare in den sozialen Medien gelöscht werden, da der Blasphemieparagraf explizit im 'Netzwerkdurchsetzungsgesetz' aufgeführt wird. Die Betreiber der Plattformen sind daher bestrebt, alles zu entfernen, was islamischen Fundamentalisten übel aufstoßen könnte. So zum Beispiel ein Bild zweier küssender Männer vor dem Hintergrund der Kaaba, das als 'antimuslimische Hassbotschaft' gedeutet wurde. Ich meine, dass ein solcher Zensurparagraf nicht ins 21. Jahrhundert gehört und dass es durchaus eine Signalwirkung für die offene Gesellschaft hätte, wenn er endlich aus dem deutschen Strafgesetzbuch verschwände!"
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Politik

Im SZ-Interview erneuert Heinrich August Winkler seine Forderung nach einer Aufarbeitung der SPD-Ostpolitik, auch hinsichtlich des "verklärten" Bildes von Willy Brandt. Neben "mehr Pistorius und weniger Scholz" fordert er zudem, "zusammen mit den anderen europäischen Mitgliedern der Nato unsere konventionellen Rüstungsanstrengungen erheblich" zu steigern, denn der Westen sei bedroht wie selten zuvor: "Insgesamt ist die innere Bedrohung des Westens mindestens so bedeutsam wie die äußere, vielleicht noch bedeutsamer", denn wir könnten heute leider "nicht mehr sagen, dass die Demokratie in den USA noch so stark ist wie damals. Die Erosion dieser amerikanischen Demokratie ist unter anderem durch die autoritäre Transformation der Republikanischen Partei so weit fortgeschritten, dass wir mit dem Schlimmsten rechnen müssen. Umso größer ist die Verantwortung der europäischen Demokratien, die wissen müssten, was für sie auf dem Spiel steht, wenn in immer mehr Ländern der Nationalpopulismus triumphieren würde."

Narendra Modi und seine hindunationalistische BJP haben bei den Parlamentswahlen massive Verluste erlitten - das zeigt Gina Thomas (FAZ) vor allem eins: die indische Demokratie lebt. Auch wenn der "unerwartete Rückschlag bloß einen Anfang bei der Zurückdrängung jener polemischen, zersetzenden Hindu-Ideologie bedeutet, die sich auf alle Bereiche - von den staatstragenden Institutionen über den öffentlichen Dienst, die Medien und den sogenannte Spezi-Kapitalismus bis zu Kultur und Bildung - ausgedehnt hat. ... Die Genugtuung, dass die Wähler das ständige Gerede über Tempel und Moscheen, das der seinen Hang zum Despoten in eine Aura von priesterlichem Mystizismus kleidende Premierministers betrieb, leid waren und stattdessen Maßnahmen zur Bekämpfung von Inflation, Arbeitslosigkeit und sozialer Ungleichheit verlangten, geht mit der Hoffnung einher, dass Modis Übergriff aufs Gewebe der Nation nun durch die Notwendigkeit eines stärkeren Konsenses eingedämmt wird, den eine Koalitionsregierung verlangt."
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Europa

Nicht nur Ursula von der Leyen bändelt mit den Rechten an, "quer durch die Europäische Union haben Konservative die Kontaktscheu abgelegt", warnt Ex-Zeit-Chefredakteur Roger de Weck auf Zeit Online: "Alle umwerben derzeit Giorgia Meloni, sowohl die Reaktionären als auch die Konservativen, die in ganz Europa nach rechts rücken. Viktor Orbán und Marine Le Pen flirten mit ihr genauso wie Ursula von der Leyen oder Markus Söder; zu Besuch in Rom sah der bayerische Ministerpräsident 'viele Gemeinsamkeiten'. Und schon wird eine Postfaschistin zum Dreh- und Angelpunkt der Europapolitik. Die europäische Geschichte kennt zwei Konstanten, nämlich dass in Krisenzeiten viele Konservative ins Reaktionäre kippen und ihrerseits viele internationalistische Linke zu Nationalisten mutieren wie Sahra Wagenknecht oder Jean-Luc Mélenchon mit seiner Partei La France insoumise (...). Die einen wie die anderen zündeln und beteuern, sie wollten den Brand löschen."

"Fast 70 Prozent der 18- bis 24-Jährigen in Großbritannien glauben, dass es ein Fehler war, die EU zu verlassen", entnimmt der britische Schriftsteller Edward Docx in der SZ jüngsten Umfragen: "Die nächste Alterskohorte liegt nicht weit dahinter: Immerhin 66 Prozent der 25- bis 49-Jährigen halten das rückblickend für eine grauenhafte Idee." Kein Wunder, ist die Liste der Schäden für das Land doch "schier endlos", so Docx: "Personalengpässe in den Krankenhäusern und im Gastgewerbe. Endlose Lkw-Schlangen an den Grenzübergängen. Einwanderungszahlen, die sogar noch einmal gestiegen sind, weil das neue System der Arbeitsvisa zu einem Zuwachs an Nicht-EU-Immigranten geführt hat, der größer ist als die Zahl der Europäer, die vorher ohne Visum ins Land kamen. Dies wiederum führt zu der nicht enden wollenden Schleife an politischen Unsinnigkeiten und Ablenkungsmanövern in Bezug auf die Migranten, die mit dem Boot über den Kanal kommen und die Sunak nun postwendend nach Ruanda abschieben will."

"In Russland hat man stets versucht, mir Scham und Schuldgefühle einzuflößen. In Russland gibt es überhaupt die Tendenz, dem Mitmenschen weiszumachen, dass er nicht richtig lebe, dass er sich falsch ernähre, dass er die Heimat nicht genug liebe, dass er seine Kinder nicht richtig erziehe", sagt der russische, seit 2022 im Exil lebende Schriftsteller Dmitri Bykow im NZZ-Gespräch, in dem er auch über Diskriminierung und Zensur in Russland und einen "vom Teufel besessenen Putin" spricht. Und doch hat er ein wenig Hoffnung für die Zukunft: "Man hat die Erfahrung gemacht, dass der Faschismus seine zeitlichen Grenzen hat. Das 'Tausendjährige Reich' hat zum Glück nur zwölf Jahre gedauert, und auch der russische Faschismus wird nicht ewig sein. Die Situation des gegenseitigen Misstrauens, des Hasses und des Krieges ermüdet die Menschen. Jetzt müssen wir noch ein paar Jahre warten. In den 2030er Jahren wird es dann viel zu tun geben in Russland."
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Kulturpolitik

Gestern fand das von Claudia Roth mit den Leiterinnen und Leitern der deutschen Gedenkstätten anberaumte Gespräch zu Roths "Rahmenkonzept Erinnerungskultur" statt (Unsere Resümees) - und es lief friedlich ab, meldet Jörg Häntzschel in der SZ: Roth besänftigte den "Zorn der Historiker, indem sie anbot, das wieder voneinander zu trennen, was in ihrem Papier nach deren Ansicht in unzulässiger Weise zusammengerührt wurde: Es soll nun ein Konzept für die Arbeit der bestehenden Gedenkstätten ausgearbeitet werden, das auch auf Finanzierung und andere konkrete Fragen eingeht. Und ein allgemeineres erinnerungspolitisches Konzept, in dem die Notwendigkeit erläutert wird, in einer diverseren, von Einwanderung geprägten Gesellschaft und angesichts der aktuellen Gefahren für die demokratische Gesellschaft, das Spektrum um Felder jenseits von NS und DDR zu ergänzen."
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Gesellschaft

Die Direktoren von Berliner NS-Erinnerungsorten, darunter Deborah Hartmann von der der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz und Andrea Riedle vom Dokumentationszentrum Topographie des Terrors, fordern in einem knirschtrockenen Kommentar die Berliner Universitäten auf, Antisemitismus auf ihrem Campus zu benennen und geben ganz nebenbei einige sehr konkrete Beispiele für antisemitische Sprüche, die bei Besetzungen gerufen wurden. Auch den Boykott akademischer Beziehungen zu Israel finden sie inakzeptabel: "Universitäten und andere Bildungseinrichtungen sollten Orte einer offenen, demokratischen Debattenkultur sein. Von den Protestierenden wurde die Anerkennung eines vermeintlichen israelischen Genozids zur Voraussetzung für weitere Gespräche mit den Universitätsleitungen gemacht, beispielsweise am 22. Mai 2024 gegenüber der Präsidentin der Humboldt-Universität, Prof. Julia von Blumenthal. Hierin zeigt sich deutlich eine israelfeindliche Ideologie, die sich einer kritischen Einordnung der Gegenwart verweigert. In der veröffentlichten Stellungnahme von Berliner Lehrenden zu den Besetzungen an der FU Berlin und anderen Universitäten vom 8. Mai 2024 ging es jedoch vor allem darum, das Recht von Studierenden auf 'die Besetzung von Uni-Gelände' zu verteidigen. Mit keinem Wort erwähnt wurden ihre jüdischen oder israelischen Studierenden oder andere Studierende, die diese Haltungen ablehnen bzw. sich durch die Proteste eingeschüchtert und bedroht fühlen."

In der taz hat Uta Schleiermacher kein Problem damit, dass TU-Präsidentin Geraldine Rauch auf ihrem Posten bleiben will: Wo sie sich doch so schön entschuldigt hat. Da kann man noch was von lernen, meint Schleiermacher: "Ihre Erklärung vor dem Akademischen Senat der Technischen Universität Berlin (TU) enthält, was es für eine ernsthafte, umfassende Entschuldigung braucht. Sie gesteht ihren Fehltritt ein. Sie bittet um Verzeihung - ohne es für gesetzt zu nehmen, dass diese von denjenigen, die sie verletzt hat, auch angenommen wird. Sie zeigt ihre Bereitschaft, dazuzulernen. Sie macht konkrete Vorschläge, um zerstörtes Vertrauen zu kitten. Sie drückt ihre Reue aus. Und sie schont sich selbst nicht: Sie teilt mit, dass sie ein Disziplinarverfahren gegen sich selbst beantragt hat, um alles juristisch zu klären."

In der FAZ sieht Thomas Thiel das ganz anders. Eine Entschuldigung ändert für ihn nichts an "Rauchs Unfähigkeit, politische Konfliktlinien zu erkennen. Das trifft auch auf ihren Kampf gegen Antisemitismus zu. Den jüdischen Studenten nutzt es wenig, dass ihre Präsidentin ihnen künftig Sprechstunden anbieten will. Rauchs Tweets haben gezeigt, dass sie die Form der Judenfeindschaft, der sie auf dem Campus ausgesetzt sind, gerade nicht im Blick hat. Von dem kürzlich von ihr berufenen Antisemitismusbeauftragten Uffa Jensen ist wenig Aufklärung zu erwarten. Jensen macht um den israelbezogenen Antisemitismus einen weiten Bogen und lässt keine Gelegenheit aus, die IHRA-Definition, die ihn kenntlich macht, madig zu machen."

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Als Antwort auf die 2022 von Alice Schwarzer und Chantal Louis bei KiWi veröffentlichte Streitschrift "Transsexualität" haben die Autorinnen Janka Kluge und Julia Monro im gleichen Verlag nun das Buch "Einfach selbst bestimmt. Texte zur Lebensrealität jenseits der Geschlechternormen" publiziert. Im FR-Gespräch begrüßen sie das neue Selbstbestimmungsgesetz, äußern aber auch Kritik. Monro sagt: "Ursprünglich wurde uns versprochen, einen Entschädigungsfonds für trans* Personen einzurichten, die zur Ehelosigkeit gezwungen wurden und sich fortpflanzungsunfähig operieren lassen mussten. Dieses Versprechen wurde nicht erfüllt. Zudem sind das Abstammungsrecht, das Offenbarungsverbot und die Situation für ausländische trans* Personen noch nicht zufriedenstellend geregelt. Auch muss ich kritisieren, dass das Hausrecht nicht entschärft wurde. Diesen Paragrafen hätte man auch trans* inklusiv schreiben können. So wirkt es, als müsste man die Mehrheit vor einer Minderheit schützen, anstatt die Minderheit in die Gesellschaft zu inkludieren." Kluge ergänzt, dass im Fall eines Krieges die Umdefinition von Männern zu Frauen immer noch erschwert werde, "damit der Militärdienst nicht umgangen werden kann".
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Geschichte

Im Tagesspiegel erinnert Konstantin Sakkas an die Operation "Bagration" vor achtzig Jahren, bei der die Rote Armee an der deutsch-sowjetischen Front die deutsche Heeresgruppe Mitte zerschlug. "Sollte man in Deutschland stärker an 'Bagration' erinnern", fragt Sakkas: "Selbst in der DDR, betont etwa der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, standen die sowjetischen Siege bei Stalingrad, Kursk und auf den Seelower Höhen im Zentrum des Gedenkens, nicht die Sommeroffensive 1944, von der heute außerhalb von Fachkreisen kaum jemand etwas weiß. Womöglich liegt dies daran, dass 'Bagration' mehr als die anderen genannten Operationen den Schritt zur sowjetischen Herrschaft über Osteuropa markiert. Aber ebenso war es ein entscheidender und vermutlich unentbehrlicher Beitrag zur Befreiung Europas von der Nazityrannei."
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Stichwörter: Operation Bagration