9punkt - Die Debattenrundschau

Diese Bilder müssen gezeigt werden

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.05.2024. Die Angehörigen der Hamas-Geiseln bringen ein bisher nicht veröffentlichtes Video heraus, das zeigt, wie einige junge Frauen von Hamas-Terroristen festgehalten und misshandelt werden. Ayelet Levy Shachar, Mutter der Geisel Naama Levy, erklärt auf CNN, warum sie zugestimmt hat. Wir binden beide Videos ein. Israel wird unterdessen der Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt, richtig so, meint der Rechtshistoriker Stefan Talmon in Spiegel online. Studenten der Humboldt Uni rufen "Resistance is Justified" und besetzen ein Institut. Die Uni sucht den "Dialog". 75 Jahre Grundgesetz: "Man kann nicht kolonisiert worden sein, wenn man selbst durch ein Beitrittsgesuch ausdrücklich zugestimmt hat", sagt der Rechtshistoriker Jan Thiessen in Zeit online an die Adresse angeblicher Kolonisierungsopfer in den Neuen Ländern.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.05.2024 finden Sie hier

Politik

Die Familien der Hamas-Geiseln haben gestern ein bisher unbekanntes Video freigegeben, das junge, von Hamas-Terroristen festgehaltene und misshandelte Frauen zeigt. Es handelt sich um unbewaffnete Wehrpflichtige, die im Schlaf von den Terroristen überrascht wurden, mehr etwa in der Jüdischen Allgemeinen. Das Video wurde aufgenommen, nachdem bereits einige ihrer Kameradinnen erschossen worden waren. In der Erläuterung zum Video heißt es: "Dieses Video, das von den body cameras der Hamas-Terroristen am 7. Oktober aufgenommen wurde, wurde bearbeitet und geschnitten, um die verstörendsten Szenen auszulassen, wie etwa die Bilder zahlreicher ermordeter junger Männer und Frauen auf dem Stützpunkt Nahal Oz und in dem Bunker, aus dem die Beobachterinnen entführt wurden."

Auch Fania Oz-Salzberger gibt auf Twitter Erläuterungen zu diesem Video. Hier als Screenshot einer jener Antwortposts, gegen die sie sich wehren muss.



Auf Twitter kursiert auch ein anderes Video, das die Situation vor dem oben gezeigten Video zeigt und das wir nur per Link einbinden. Den Frauen wird in diesem Moment klar, dass sie in der Falle sitzen und die israelische Armee sie nicht retten wird. Einige der Frauen, die hier zu sehen sind, sind in dem oben gezeigten Video bereits tot.

Ob das oben gezeigte Video wirklich an die Öffentlichkeit gehört, ist umstritten. Der französische Philosoph Raphael Enthoven befürwortet es auf Twitter: "Diese Bilder müssen gezeigt werden... Um den Begriff des 'Widerstandes' oder des 'legitimen Aufstands' besser ermessen zu können. Man muss diese Bilder zeigen, weil es Menschen gibt, die sagen, dass der 7. Oktober nicht einmal Terrorismus war."

Bei CNN begündet Ayelet Levy Shachar, Mutter der Geisel Naama Levy, warum sie der Veröffentlichung des Videos zugestimmt hat - unter anderem, weil israelische Regierungsmitglieder es nicht hatten sehen wollen. Die Angehörigen der Geiseln wollen den Druck auf die Regierung weiter erhöhen:


Antiisraelische Studenten der Humboldt Universität haben gestern das Institut für Sozialwissenschaften besetzt. Ihre Parolen sahen so aus:


Die Leitung der Humboldt-Uni erklärt sich laut dpa (hier in der SZ) zum "Dialog" bereit.

Währenddessen sieht sich Israel mit einer Klage des Internationalen Strafgerichtshofs wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit konfrontiert. Und die EU-Länder Irland, Spanien und Norwegen entschließen sich, Palästina als Staat anzuerkennen, ohne dass dieser Anerkennung ein Friedensschluss oder eine Vernichtung der Hamas vorangeht. "Die Anerkennung zäumt das Pferd von hinten auf. Zu viele Fragen bleiben offen", meint Lisa Schneider in der taz. Eine der vielen von den friedensbemühten EU-Staaten offen gelassenen Fragen: "Was soll mit den politischen Kräften in Palästina geschehen, die - im Gegensatz zur PLO - bis heute Israel nicht als Staat anerkennen? Was passiert, wenn diese Kräfte - wie bereits 2006 mit dem Wahlerfolg der Hamas geschehen - das Ruder in Palästina übernehmen? Und: Soll Palästina ein demilitarisierter Staat sein? Oder das Recht auf eigene Streitkräfte haben?" Aber die Hamas hat bereits ihre Freude über die Anerkennung bekundet, berichtet eine Autorenteam in der taz: "Die Anerkennung sei ein wichtiger Schritt 'zur Gründung eines palästinensischen Staates mit Jerusalem als Hauptstadt'."

Der Völkerrechtler Stefan Talmon begrüßt die Klage des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Netanjahu im Gespräch mit Francesco Collini von Spiegel online: "Es gibt erhebliche Anhaltspunkte für die vorgeworfenen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ich selbst bin der Meinung, dass in diesem Fall das Kriegsverbrechen des vorsätzlichen Aushungerns der Zivilbevölkerung vorliegt. Diese Meinung wird auch von vielen anderen Juristinnen und Juristen geteilt."
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Stichwörter: 7. Oktober, Hamas, Gazakrieg

Ideen

Im Interview mit Zeit online erklärt der Rechtshistoriker Jan Thiessen, warum es nach 1989 keine neue Verfassung gab, obwohl die bundesrepublikanische bis zur Wiedervereinigung eigentlich immer als Provisorium gedacht war: Das Zeitfenster war zu klein, zumal der Sieg der von der CDU unterstützten Allianz für Deutschland bei den letzten freien Wahlen in der DDR dem Verfassungsentwurf des Runden Tisches viel von seiner Legitimation nahm, meint er. Schon deshalb findet es Thiessen auch unsinnig, von einer "Kolonisierung" Ostdeutschlands zu sprechen wie es zuletzt Grit Lemke tat. "Man kann nicht kolonisiert worden sein, wenn man einem solchen Prozess selbst durch ein Beitrittsgesuch ausdrücklich zugestimmt hat. Diesen Begriff zu wählen, ist so falsch wie zu sagen, dass Israel ein weißes, kolonialistisches Projekt ist. Schon gegenüber den Gesellschaften, die wirklich Opfer von Kolonialismus geworden sind, ist es einfach eine Geschmacklosigkeit. Das heißt andererseits nicht, dass die bis heute bestehenden Unterschiede im Eigentum, Vermögen, Bildungschancen, Aufstiegschancen, Repräsentanz in Führungspositionen nicht das Zusammenwachsen behindern. Aber das als Kolonialisierung zu beschreiben, geht völlig am Thema vorbei."

"Geschichte lehrt uns zu differenzieren und zu kontextualisieren. Vergleichen ist hierbei ein wesentlicher Teil. Aber vergleichen heißt nicht gleichsetzen", meint im Interview mit der SZ der Historiker Frank Trentmann, der grundsätzlich dafür ist, neben den Opfern des Holocaust auch derer des Kolonialismus zu gedenken. Denn jetzt laufe einiges falsch in der viel gerühmten deutschen Erinnerungskultur: "Bei Gedenkstättenbesuchen von Schulklassen mit Kindern mit Migrationshintergrund kommt es häufig zu paternalistischen Konstellationen: Wir Deutschen haben eine erfolgreiche Erinnerungspolitik etabliert. Jetzt erklären wir euch, wie man sich richtig an den Vernichtungskrieg und den Holocaust erinnert. Aber das wird Menschen gesagt, die zum Teil selbst Fluchterfahrungen in der Familie oder Rassismus am eigenen Leib erfahren haben und von denen viele ja nun auch deutsche Staatsbürger sind. Ihnen wird es schwer gemacht, sich dazu zu äußern, weil sofort der Vorwurf kommt: Halt, stopp, stellt euch nicht auf eine Stufe mit den ermordeten Juden. Da muss die Erinnerungspolitik flexibler werden und sich stärker mit aktuellen Krisen, Kriegen und Fluchtbewegungen auseinandersetzen."
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Gesellschaft

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Buch in der Debatte

Im Interview mit der Berliner Zeitung wünscht sich die Berliner Autorin Sineb El Masrar eine gelassenere Diskussionskultur in Deutschland - ein Thema, dem sie sich auch in ihrem neuen Buch "Heult leise, Habibis" widmet: Zu viel Emotion, zu viel Angstmacherei beherrsche oft die Debatten. Beispiel Gazakrieg: "Man kann mit diesen Menschen sprechen, aber wenn jemand in seinen Wahnvorstellungen bleiben will, kann man mit dieser Person nur über ihre persönlichen Probleme reden. Wir müssen diese Menschen nach ihrer Geschichte fragen: Was hat dieser Konflikt mit dir zu tun? Wieso bist du hier? Was treibt dich an? Und letztlich wird man merken, dass es nicht um Gaza geht. Den Menschen im Gazastreifen ist mit solchen Aktionen nicht geholfen. Die Motivation dieser Leute ist eine durch und durch egoistische. Es geht allein um ihr Gefühl, auf der vermeintlich richtigen Seite zu stehen. Und genau damit muss man sie konfrontieren. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass diese Menschen sich endlich mit ihren persönlichen Problemen auseinandersetzen müssen. Die Weltpolitik ist nur ein Mittel zum Zweck und dieses Verhalten ist verantwortungslos."

Auch Eva Menasse ruft heute in der Zeit zu mehr Gelassenheit auf.
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Europa

Hanna Vasyk hat sich freiwillig als Sanitäterin in der ukrainischen Armee an einem der härtesten Abschnitte der Front verpflichtet. In der FAZ erklärt sie, warum sie das tut und was es für sie bedeutet: "Für Sie sehe ich gesund aus. Ich habe beide Arme und Beine. Bis jetzt. Aber ich habe unsichtbare Verletzungen. Posttraumatische Belastungsstörungen. Eine Gehirnerschütterung, ein geplatztes Trommelfell. Der Platz in der ersten Reihe beim wichtigsten Ereignis der ganzen Welt kostet seinen Preis. Dies ist, was ich bezahle. Bisher nicht übertrieben viel. Denn Tausende von uns haben schon den höchsten Preise bezahlt - und es reicht nicht aus."

In seiner FAZ-Kolumne erzählt Bülent Mumay, wie Recep Tayyip Erdogan die Meinungsfreiheit in der Türkei immer weiter einschränkt. Nun nimmt er sich ein Vorbild an Russland und Georgien: "Das geplante Gesetz gegen ausländische Einflussnahme, wie Russland es bereits 2012 erlassen und wie es in den letzten Tagen Georgien erschüttert hat, wird die Türkei voraussichtlich in ein offenes Gefängnis verwandeln. Wer in der Türkei 'im Auftrag oder im strategischen Interesse eines ausländischen Staates oder einer ausländischen Organisation zum Schaden der Sicherheit oder der außenpolitischen Interessen des Staates' recherchiert oder forscht, wie es vage heißt, ist mit bis zu sieben Jahren Haft bedroht." Wenn das Gesetz durchkommt, "wäre möglich, dass ich angeklagt werde, weil ich diese Kolumne für die FAZ, 'eine ausländische Organisation', geschrieben und 'gegen die Türkei gerichtete Propaganda' betrieben habe."
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Stichwörter: Türkei, Ukrainekrieg