9punkt - Die Debattenrundschau

Wer weiß denn sowas XXL

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.04.2024. 8,5 Millionen Flüchtlinge, Abertausende Tote, eine grassierende Hungersnot, Gewalt und Grausamkeit: Aber in diesem Fall ist die Öffentlichkeit eher desinteressiert, denn es handelt sich um die Krise im Sudan, die im Tagesspiegel aufgegriffen wird. Der iranische Angriff auf Israel löst unterschiedliche Reaktionen aus: Hat Israel ihn provoziert? Im Observer erzählt Kenan Malik, wie aus Antirassismus Identitätspolitik wurde. Die FAZ attestiert Claudia Roth "umfassendes kulturpolitisches Versagen".
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.04.2024 finden Sie hier

Politik

Das Wochenende war geprägt von dem iranischen Angriff auf Israel. Symmetrisch war er nicht - sondern disproportional, wenn man den mutmaßlichen israelischen Angriff auf die iranische Botschaft als Auslöser nimmt, meint Nikolas Busse in der FAZ: "Iran hat sich nach einer langen Phase, in der es durch seine Schattenarmeen handelte, aus der Deckung gewagt und seinem Israelhass Lauf gelassen. Das schafft für die Führung in Jerusalem eine schwierige Lage: Kurzfristig wäre es klüger, sich auf die Hamas und Gaza zu konzentrieren, statt in einen Mehrfrontenkrieg in der gesamten Region einzusteigen. Mittel- bis langfristig wird Israel aber nicht mit der ständigen Gefahr aus Iran leben wollen, vor allem dann nicht, wenn noch Atomwaffen hinzukommen könnten."

Während Israels Abwehrkrieg gegen die Hamas im Zentrum einer empörten Weltöffentlichkeit stand, war weitgehend aus dem Blick geraten, "dass der Auslöser für die gegenwärtige Eskalation die größte antijüdische Mordaktion seit dem Holocaust war, begangen von der Hamas mit - mindestens - der Rückendeckung des iranischen Regimes", schreibt Richard Herzinger in seinem Blog: "Dieses steht überdies in einer engen, strategischen Allianz mit Russland - weswegen der mörderische Terrorangriff der Hamas und der russische Vernichtungskrieg gegen die Ukraine nicht isoliert voneinander betrachtet werden dürfen."

Vor zehn Jahren wurden 276 überwiegend christliche Mädchen aus einer weiterführenden Schule in Chibok in Borno, Nigeria, entführt. Täter war eine Terrorgruppe, die "westliche Bildung" (Boko) "verboten" (haram) findet. Für kurze Zeit war die Welt auch hier empört. Bis heute sind viele dieser Mädchen verschwunden, viele wohl ermordet berichtet die Westafrika-Korrespondentin der taz, Katrin Gänsler, die über das Wüten des Islamismus in dem bevölkerungsreichsten Land Afrikas aber sonst wenig mitteilt. Nur soviel: "Einen Boom erlebt das Entführungsbusiness seit 2020. Nach Angaben der Sicherheitsfirma Beacon Consulting mit Sitz in Abuja wurden alleine vergangenes Jahr mehr als 4.000 Menschen entführt und knapp 10.000 ermordet. So wurden Anfang März im Bundesstaat Kaduna mehr als 280 Schüler:innen vom Hof der dortigen staatlichen Schule verschleppt. Die Motivation dafür ist längst nicht mehr eine ideologische, sondern eine wirtschaftliche. Der Naira ist abgestürzt, die Inflation liegt bei knapp 32 Prozent, und nach Angaben der Weltbank wird die Wirtschaft 2024 gerade einmal um 3,4 Prozent wachsen. Die Bevölkerung nimmt hingegen jährlich um rund fünf Millionen zu."

Vor einem Jahr brach der Krieg im Sudan aus, der schon lange keine Medienaufmerksamkeit mehr bekommt. Dabei wurden hier 8,5 Millionen Menschen aus ihrer Heimat vertrieben, eine große Hungerkatastrophe bahnt sich an, konstatiert eine Gruppe von UN-Funktionären im Tagesspiegel. "Die Gewalt hat Tausende von Menschen getötet, Millionen entwurzelt und eine humanitäre Katastrophe ausgelöst. Der Zusammenbruch im Sudan trägt zu den Aufständen in den Nachbarländern der Sahelzone bei und droht, die Region zu destabilisieren. Die erschreckenden Angriffe auf die Zivilbevölkerung sind alarmierend. Dazu gehören Hunger, wahllose und ethnisch motivierte Tötungen in Darfur und sexualisierte Gewalt. All das hat zur weltweit am schnellsten wachsenden Vertreibungskrise geführt." Letztlich fordern die Autoren eine diplomatische Lösung, die das Leid in der Region beendet.

Außerdem: Frauke Steffens wirft für die FAZ einen Blick auf die politischen Stiftungen und Thinktanks der Republikaner in den USA, die immer offener einem Wahlsieg Trumps zuarbeiten und das gemäßigte Erbe der Republikaner fallen lassen. Zu den prominentesten Stiftungen, die das "Projekt 2025" fördern, gehören die einst renommierte Heritage Foundation und das Claremont Institut, "und auch die etablierten Thinktanks in Washington sehen zu, dass sie ihre politischen Vorschläge auf Trump zuschneiden".
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Medien

Auf Twitter polarisiert "Tagesthemen"-Anchorman Ingo Zamperoni wegen seiner Anmoderation zum iranischen Angriff auf Israel

Doch nicht nur Ingo Zamperoni steht nun massiv in der Kritik, schreibt Kurt Sagatz im Tagesspiegel. Auch ARD und ZDF werden dafür kritisiert, nicht von ihrem normalen Programm, "Wer weiß denn sowas XXL" und "Das aktuelle Sportstudio", abgewichen zu sein, hieß es Samstagabend laut Sagatz bei X. "'Deutsche Nachrichtenlandschaft geht weiter nach Plan, weder ntv, Welt24 noch ARD/ZDF interessieren sich für den Angriff des Iran. Bestenfalls unten im Ticker. Man muss BBC oder CNN schauen, um über die aktuelle Lage Infos zu bekommen', bemängelt ein anderer Nutzer, der mit seiner Kritik nicht allein dasteht."

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Europa

Claudius Seidl blickt in der FAZ mit Unbehagen auf die polizeiliche Schließung des antiisraelischen "Palästina-Kongresses" in Berlin zurück: "Auch wenn es stimmt, dass ein Verbot allein wegen der Forderung des Kongresses nach der Vernichtung des Staates Israel nicht statthaft sei; dass also erst eine Straftat geschehen musste, was der Fall war, als der mit Auftrittsverbot sanktionierte Salman Abu Sitta per Video zugeschaltet wurde: auch dann ist die Polizei, so hart und unsensibel, wie sie gegen solche Leute vorging, die außer zuzuhören nichts Böses getan hatten, gewissermaßen in die Falle der Organisatoren gelaufen."

Es gibt auch in Russland neben den verheizten Soldaten ein paar Kriegsopfer, nämlich in Belgorod, nahe der ukrainischen Grenze, schreibt Irina Rastorgujewa in der FAZ. Dabei galt Belgorod in Russland als grünes und klimatisch begünstigtes Rentnerparadies! "Die Belgoroder Raketenabwehranlagen stehen nördlich der Stadt, wo vor dem Krieg 340.000 Menschen lebten. Von dort werden auch Raketen nach Charkiw abgeschossen. Alles, was nach Charkiw fliegt, fliegt also über Belgorod, und auf dem Weg fällt öfter etwas runter. Die Propaganda nennt das 'anormalen Munitionsausfall'. Und alles, was nach Belgorod fliegt, wird nicht vor der Stadt abgeschossen, sondern direkt über ihr. Für die russische Armee ist das bequemer, die Bewohner müssen es ertragen. Wer sich dagegen wehrt, gilt als 'Komplize der Faschisten' und Volksfeind."

Der türkische Staatsislam profitiert vom europäischen Grundsatz der Glaubens- und Gewissensfreiheit, konstatiert der Jurist Emrah Erken in der NZZ. So kann die türkische Religionsbehörde Diyanet ohne Probleme in Europa Moscheen bauen, in denen Wahlkampf für Erdogan gemacht wird: "Das Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit wurde geschaffen, um zwischen verfeindeten christlichen Religionsgemeinschaften eine Friedensordnung herzustellen - und sicher nicht, um einem muslimisch geprägten Staat die Kontrolle über seinen Staatsislam auf europäischem Boden zu gewährleisten. ... Wenn Tariq Ramadan sagt, dass sich die Ziele der Islamisten im Westen besser erfüllen ließen als in vielen islamischen Ländern, meint er genau dies. In einem muslimisch geprägten Staat wäre es nicht möglich, weil sie Herren im eigenen Haus sind. Sie lassen ausländische Prediger grundsätzlich nicht zu und kontrollieren die Ausübung des Islam in ihrem Land. Tariq Ramadan hat leider recht. Die westliche Glaubens- und Gewissensfreiheit gibt den Islamisten eine Narrenfreiheit, von der sie in muslimisch geprägten Staaten nur träumen könnten.".

Der Observer-Kolumnist Kenan Malik empfiehlt eine Dokuserie bei Channel 4: "Defiance - Fighting the Far Right". Sie schildert in drei Folgen die antirassistischen Kämpfe in Großbritannien um 1980. Der brutale Rassismus jener Zeit ist fast vergessen, aber auch der Antirassismus stand unter ganz anderen Vorzeichen als heute, denn "wenige Aktivisten der "Asian Youth Movements" (AYM) sahen sich selbst als 'muslimisch' oder als 'Sikh'. ... Sie betrachteten sich als 'schwarz', was in diesen Tagen ebensosehr ein politisches wie ethnisches Label war." Die Politik reagierte auf die Unruhen, indem sie Repräsentanten der "Communities" mit Geldern und ein bisschen Macht ausstatteten - und halfen damit, die heute überall grassierende Identitätspolitik zu installieren: Dabei hatten AYM-Aktivisten "versucht, nicht nur den Rassismus, sondern auch die Hierarchien innerhalb der Minderheitengemeinschaften in Frage zu stellen, indem sie Traditionalisten in Fragen wie der Rolle der Frau und der Dominanz der Moschee kritisierten. Doch jetzt wurden viele dieser Traditionalisten vom Staat als die 'Guten' und 'Gemäßigten' unterstützt."
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Kulturpolitik

Andreas Kilb attestiert Claudia Roth, der Staatsministerin für Kultur in der Bundesregierung, "umfassendes kulturpolitisches Versagen". Im Leitartikel der FAZ zählt er die Politikfelder auf, in denen sich dieses Versagen manifestierte. Da ist natürlich der Umgang mit Antisemitismus im Kulturbetrieb. Hinzukommen aber auch sehr konkrete Missstände in der Preußen-Stiftung, in der Erinnerungspolitik oder in der Filmförderung. Roth wird einen "Scherbenhaufen des Unvollendeten" hinterlassen, prognostiziert Kilb, und für einen Wechsel an der Amtsspitze sei es zu spät. Für Kilb liegt Roths Versagen in ihrem Politikverständnis begründet: "Die frühere Parteichefin der Grünen sieht das Amt, das sie vor zweieinhalb Jahren angetreten hat, offenbar nicht als kulturpolitische, sondern als aktivistische Aufgabe an. Sie genießt es, vor Publikum über Kunst und Kultur, Demokratie und Vielfalt zu reden, doch die politische Kärrnerarbeit, die solche Predigten erst plausibel macht, ist ihr fremd. 'Wie eine Löwin' wolle sie für ihre Klientel kämpfen, hat Roth gelegentlich erklärt. Aber Kulturpolitik ist nicht die Serengeti, sondern ein Handwerk."
Archiv: Kulturpolitik