9punkt - Die Debattenrundschau

Wenn das Inkassobüro klingelt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.09.2023. "Der Blick, den Peking auf Demokratien hat, ist grundsätzlich konfrontativ", meint der Sinologe Frank Dikötter, der in der FR daran erinnert, dass US-Außenminister John F. Dulles China von seinem Plan einer "friedlichen Evolution" ausgeschlossen hatte. Von der Grundschule bis zum Uniabschluss wird Chinesen seit diesem Semester Xi Jinpings Lehre eingetrichtert, berichtet die FAZ. In der SZ erzählt die ukrainische Verlegerin Julia Orlowa, wie sensibel sie in Kriegszeiten beim Verlegen von Büchern vorgehen muss. Und die taz glaubt: Es ist die allgemeine Unsicherheit, die die Menschen in die Fänge von Rechtspopulisten treibt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.09.2023 finden Sie hier

Politik

Buch in der Debatte

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In Bezug auf China ist der Westen immer noch auf einem Auge blind, meint der niederländische Sinologe Frank Dikötter, der auch ein Buch zum Thema verfasst hat, im FR-Gespräch mit Michael Hesse. Lange hoffte man auf eine Liberalisierung der Weltmacht, aber diese ist allein aus historischen Gründen völlig unwahrscheinlich, so Dikötter: "Im Jahr 1957 hat der damalige US-Außenminister John F. Dulles eine Schrift zur 'friedlichen Evolution' verfasst. Was meint das? Seine Idee war, dass man den Satellitenstaaten der UdSSR ökonomisch helfen muss, wie Polen oder die DDR, um ihre Demokratisierung zu beschleunigen. Nur gegenüber China wollte er das nicht. Warum sollte man einem Regime Hilfe zukommen lassen, das uns aus dem Westpazifik vertreiben will, fragte er. Für Mao war damit klar, dass dieser Plan der 'friedlichen Evolution' eine Gefahr für China sei. Er war überzeugt, dass die USA China auf diesem Weg korrumpieren und unterwandern wolle. Eine friedliche Entwicklung hin zur Demokratie wird seither als die Bedrohung Nummer eins für China angesehen. Von 1989 bis heute ist die Sichtweise, dass der fremde Kapitalismus nur deshalb existiert, um das Land zu infiltrieren und das Land zu unterwandern und die Kommunistische Partei Chinas zu stürzen. Peking hat daher einen klaren Kurs: Einer friedlichen Entwicklung muss widerstanden werden, koste es, was es wolle. Der Blick, den Peking auf Demokratien hat, ist grundsätzlich konfrontativ.".

Mit Beginn des neuen Semesters haben nicht nur Grundschulen, sondern auch Chinas Universitäten ein neues Lehrbuch bekommen, das sich ganz Xi Jinping widmet, berichtet Jochen Stahnke in der FAZ: "Dass an Schulen und Universitäten die Ideen der chinesischen Führer Mao-Tse-tung, Deng Xiaoping, Jiang Zemin und Hu Jintao zusammenfassend gelehrt werden, ist nicht neu und soll beibehalten werden. Aber dass sich Xi gewissermaßen über seine Vorgänger stellt, indem er ein Unterrichtswerk nur über sich selbst lehren lässt, hat es seit Mao nicht mehr gegeben. Von der Grundschule bis zum Universitätsabschluss und darüber hinaus wird 'Xi Jinpings Denken des Sozialismus chinesischer Prägung im neuen Zeitalter' in die Köpfe des Volkes gebracht. Mit 'neuem Zeitalter' ist die Zeit seit Xis Machtübernahme 2012 gemeint. Und seine politische Philosophie ist prüfungsrelevant. Ab Dezember wird das Xi-Denken an den Universitäten erstmals gesondert in den Aufnahmeprüfungen abgefragt." Dies soll jungen Menschen helfen, "'korrekte Weltanschauungen, Lebensansichten und Werte zu entwickeln', so die Staatsmedien".

Zudem müssen sich Forscher der chinesischen Akademie der Wissenschaften künftig in einem neuen Verhaltenskodex zu Parteitreue verpflichten, berichtet Fabian Kretschmer in der taz: "Von der internationalen Medienöffentlichkeit nahezu unbemerkt, erneuerte die mit nahezu 80.000 Angestellten größte Forschungseinrichtung der Welt ihren Verhaltenscodex, dem jedes Mitglied unterliegt. Künftig müssen die Wissenschaftler unter anderem 'die Liebe zur Partei vorleben', 'der nationalen Sicherheit dienen' und auch 'im Einklang mit der Politik des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas stehen'. (…) Neben eingangs erwähnter Gesinnungstreue wird den WissenschaftlerInnen zudem verboten, ihre akademischen Ansichten zu Themen zu äußern, die außerhalb ihres Fachgebiets liegen." In einem weiteren Artikel berichtet Ralf Pauli von zunehmender chinesischer Einflussnahme an deutschen Unis.
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Gesellschaft

Es ist vor allem das Gefühl von Unsicherheit, das viele Menschen in die Fänge von Rechtspopulisten und Demagogen treibt, meint Robert Misik in der taz: "Das Unsicherheitsgefühl frisst sich überall hinein. Immer mehr Menschen haben die Sorge: Kann ich in vier Monaten noch meine Rechnungen bezahlen? 'Why Does Everyone Feel So Insecure All the Time?' - 'Warum fühlen sich alle permanent so unsicher?', fragte die New York Times vor zwei Wochen in einem großen Essay der Autorin, Filmemacherin und Aktivistin Astra Taylor. Das Schamgefühl, wenn das Inkassobüro klingelt oder gar der Gerichtsvollzieher vor der Tür steht; der Adrenalinschub, wenn die nächste Miete fällig ist; die Angst, wenn man an die Rente denkt, die sowieso nicht reichen wird. Taylor lenkt die Aufmerksamheit auf 'fabrizierte Unsicherheit'. Unsicherheit wurde vorsätzlich verstärkt, um Menschen agiler zu machen, damit innerbetriebliche Solidarität untergraben wird, damit sie im Job spuren."

Die Letzte Generation als "Klimaterroristen" zu bezeichnen, hält Jürgen Kaube zwar für "maßlos", wie er heute im Aufmacher des FAZ-Feuilletons schreibt. Eine "Kausalität" oder gar Legitimität ihrer Aktionen sieht er aber nicht: "Die Letzte Generation suggeriert durch die Verwendung des Begriffs 'Druck' in ihren Selbstauskünften eine solche Kausalität. Sie kommt sich als Auslöser von Veränderungen vor." Das Brokdorf-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1985 mag diese Ansicht befördert haben, so Kaube, als es feststellte: "in einer Gesellschaft mit sehr ungleichen Zugängen zu den Medien wirke der zivile Protest politischen Ohnmachtserfahrungen und einer ungleichen Entwicklung politischer Willensbildung entgegen. Soll heißen: Wenn wir anders nicht in die Nachrichten kommen, dann eben durch öffentliche Störaktionen. Ob dieses Argument durch die sozialen Medien und eine erhebliche Verbreiterung des Markts für politische Kommunikation nicht obsolet geworden ist, muss gefragt werden."

Im Feuilleton der SZ ist Hilmar Klute zwar latent genervt von der Letzten Generation, das beschmierte Brandenburger Tor stört ihn aber nicht: "Am Denkmal entzündet sich nach wie vor die Empörung, sobald ein Klecks darauf geworfen ist. Unser Gedächtnis benötigt irgendetwas in Stein Gehauenes, auch wenn wir nicht mehr so genau wissen, für was das Ding nochmal dasteht."
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Kulturmarkt

Julia Orlowa betreibt den ukrainischen Verlag "Vivat" seit 2013. Im SZ-Gespräch mit Sonja Zekri erzählt sie, was es heißt, während des Krieges Bücher zu verlegen: "In unserer Situation hat jeder verlegerische Fehler einen höheren Preis als sonst und ich rede gar nicht vom Finanziellen. Die Öffentlichkeit ist so aufgewühlt und sensibilisiert, dass wir selbst auf Winzigkeiten achten müssen." So im Fall von Yeva Skalietska, berichtet Orlowa, "einem zwölfjährigen Mädchen aus Charkiw, das ein Kriegstagebuch geführt hat. Sie ist mit ihrer Großmutter nach Großbritannien geflohen, der Harry-Potter-Verlag Bloomsbury hat die Rechte gekauft. Wir wollten es gern auf Ukrainisch veröffentlichen, aber dann brach eine Welle der Wut über uns herein. Die Autorin hatte zum Beispiel geschrieben: 'Oh, wann endet dieser Krieg, wie schrecklich sind die Raketen, am liebsten würde ich zu Oma nach Sotschi fahren.' Die Leserinnen und Leser sagten, wir bedienen das russische Narrativ. Da habe ich begriffen, wie wichtig die Frage ist, ob uns ein Buch vereint oder gegeneinander aufbringt. Ich darf kein Öl ins Feuer gießen. Ich habe an Bloomsbury geschrieben, dass die Ukraine für dieses Buch nicht bereit ist. Ich glaube, sie haben es in 12 Länder verkauft, aber nicht in die Ukraine."
Archiv: Kulturmarkt

Geschichte

In der taz skizziert Johannes Spohr, wie Museen und Geschichtswissenschaft in der Ukraine bereits auf den aktuellen Krieg reagieren. Oral History spielt eine große Rolle, Artefakte aus dem Krieg werden gesammelt und Ausstellungen organisiert, etwa im Nationalen Museum der Geschichte der Ukraine im Zweiten Weltkrieg, das sich derzeit sowohl methodisch als auch inhaltlich neu orientiert: "Künftig soll die ukrainische Nationalgeschichte und der Kampf für Unabhängigkeit im Zentrum einer Erzählung stehen, die im Jahr 1914 mit dem Ersten Weltkrieg begonnen habe und bis in die Gegenwart reiche. 'Im Zweiten Weltkrieg befanden sich zwei Armeen totalitärer Regime auf dem Territorium der Ukraine', beschreibt es die Mitarbeiterin Milena Tschorna. 'Und die Ukrainer*innen befanden sich inmitten eines andauernden Kampfes für Unabhängigkeit, den sie 1919 mit der Niederlage gegen die Bolschewiki verloren hatten.' Eine Gleichsetzung von Wehrmacht und den Streitkräften der Russischen Föderation, die derzeit in der Ukraine wüten, sehen die Mitarbeiter*innen allerdings kritisch. Zu viel unterscheide die Situationen, um so zu Erkenntnissen zu gelangen."
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Internet

In einer kurzen Mitteilung verkündete der Meta-Konzern die Einstellung des Nachrichten-Angebots "Facebook-News", berichtet Welt-Kritiker Christian Meier. Die Begründung: Die Nutzer interessierten sich nicht für politische Inhalte. Das entspricht wohl auch der Wahrheit, denn der Anteil der Nachrichten-Postings auf der Plattform betrug im Herbst letzten Jahres nur drei Prozent, so Meier. Es lässt sich also zum einen eine "bewusste Entpolitisierung der Plattform" beobachten, meint Meier, damit wird "Facebook (wieder oder wieder mehr) zu einem Ort der privaten Banalitäten, des unverkrampft Persönlichen und der möglichst harmlosen Unterhaltung". Zum anderen sei die "Abschaltung auch im Interesse von Meta, die seit Jahren mit Vorwürfen kämpfen müssen, wie ihre Plattformen für politische Desinformation instrumentalisiert werden kann". Aber, für den Konzern bedeute es auch die Loslösung von Medienunternehmen, mit denen es in der Vergangenheit oft zu juristischen Auseinandersetzungen kam: "Ein früher Höhepunkt war der Start von 'Instant Articles', einem Projekt, bei dem sich komplette Artikel innerhalb der Plattform lesen ließen. Schon dieses Vorhaben brachte den teilnehmenden Medienmarken kaum Vorteile - sondern verschaffte vor allem Facebook eine gesteigerte Verweildauer seiner Nutzer. Gesteigerte Werbeerlöse oder gar digitale Abonnements für Medien ließen sich eher nicht erzielen."
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Stichwörter: Meta, Facebook