9punkt - Die Debattenrundschau

Ein zusätzlicher Ansteckungseffekt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.08.2023. Unter den zahlreichen Politikern die Wladimir Putin im Westen korrumpierte, fiel besonders die ehemalige österreichische Außenministerin Karin Kneissl auf, die vor Putin niederkniete. Die FAZ schildert ihre weitere Karriere. Saudi Arabien setzt laut einem Bericht von "Human Rights Watch" neue Akzente in der Menschenrechtspolitik, indem es Flüchtlinge an seinen Grenzen schlicht erschießt - die FAZ berichtet. Die Medien fallen allzuoft auf die Provokationen der AfD herein, meint Politikberater Johannes Hillje im Tagesspiegel.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.08.2023 finden Sie hier

Europa

Die Liste der von Wladimir Putin korrumpierten westlichen Politiker ist lang. Ein besonderer Fall war die österreichische Außenministerin Karin Kneissl, die 2017 bei ihrer Hochzeitsfeier vor ihrem Ehrengast Putin niederkniete. Über ihre weitere Vita informiert heute Friedrich Schmidt in der FAZ: Sie scheint inzwischen mehr oder weniger nach Russland emigriert zu sein. "Das Hochzeitspaar trennte sich im Frühjahr 2020, Kneissl erklärte sich zum 'politischen Flüchtling' und klagte über Todesdrohungen, zog nach Frankreich und im vergangenen Jahr weiter nach Libanon. Es blieb die Verbindung zu Russland mit regelmäßigen Auftritten im Staatsmedium RT. Im Frühjahr 2021 zog Kneissl zudem in den damals vom früheren deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) geführten Aufsichtsrat von Rosneft ein." Inzwischen leitet sie in Sankt Petersburg ein "Geopolitisches Observatorium für Russische Schlüsselthemen".

Deutschland hat seinen Bedarf an Zuwanderern bisher damit kompensiert, dass es "in Europa gewildert hat", sagt der Osteuropa-Historiker Philipp Ther, der zum Thema vor sechs Jahren auch das Buch "Die Außenseiter. Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa" veröffentlicht hat, im Welt-Gespräch: "Aber diese europäischen Herkunftsländer trocknen demografisch. Man braucht künftig Migranten, die noch von viel weiter herkommen und uns dann vielleicht auch kulturell, sprachlich fremder sind, wo es auch schwieriger wird, dass sie Deutsch lernen, sich gesellschaftlich integrieren und die auch dann viel sichtbarer sein werden. Und das kann als Gegenreaktion den Nationalismus unter Einheimischen verstärken." Dennoch plädiert er dafür, den Fachkräftemangel nicht durch Flüchtlinge aus der Ukraine zu lindern: "Das wäre schlecht für die Ukraine. Wenn sie noch mehr ausblutet als bisher, dann könnte sich Russland langfristig durchsetzen. Eigentlich bräuchte man jetzt Rückkehrprogramme. Nur bitte anders als bei den Bosniern in den Neunzigerjahren. Man müsste denen, die zurückgeben wollen, Geld in die Hand geben, damit sie sich ihr Haus oder ihre Wohnung reparieren können und vielleicht auch einen kleinen Betrieb gründen. Aber das wäre eine Abkehr von der bisherigen Flüchtlingspolitik."
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Politik

Der "globale Süden" setzt neue Akzente in der Menschenrechtspolitik. Während Tunesien Flüchtlinge gern in der Wüste aussetzt, um sie verdursten zu lassen (unsre Resümees), lässt Saudi Arabien äthiopische Flüchtlinge an der Grenze zum Jemen einfach erschießen - so behauptet es zumindest ein Bericht, den "Human Rights Watch" zum allgemeinen Entsetzen gestern veröffentlichte. In der FAZ reümiert Christoph Ehrhardt. "Die Täter: saudische Grenzschützer. Die Autoren sprechen von Massenmord und 'gezielten Tötungen', von Hängen, die mit Leichnamen übersät gewesen seien. Mindestens 655 Todesopfer gelten als gesichert, es könnten aber deutlich mehr sein. Die Gegend ist entlegen und kaum zugänglich, ein Niemandsland zwischen den saudischen Kräften und ihren Feinden, den jemenitischen Huthi-Rebellen. Die Dokumentare des Horrors sind auf Aussagen Überlebender, Videos, Fotos und Satellitenbilder angewiesen."

Der Kopftuchzwang lässt sich im Iran kaum noch durchsetzen, zuviele Frauen widersetzen sich den Vorschriften und gehen an der Sittenpolizei, die wieder aktiv ist, achtlos vorbei, berichtet Friederike Böge in der FAZ. Nun soll aber ein Gesetz verabschiedet werden, das "nicht nur Strafen für die betreffenden Frauen vorsieht, sondern auch für Unternehmen und Dienstleister, die Frauen ohne Kopftuch bedienen oder beschäftigen". Die iranische Statsmacht verhält sich dabei aber erstaunlich mutlos: "Anders als üblich wurde das 'Gesetz zum Schutz der Familie durch Förderung der Kultur der Sittsamkeit und des Kopftuchs' nicht öffentlich im Plenum des Parlaments verhandelt. Das weist darauf hin, dass das Vorgehen sogar innerhalb des von Hardlinern dominierten Parlaments umstritten ist. 'Die Abgeordneten wollen sich nicht öffentlich zu dem Gesetz bekennen, weil sie wissen, dass ihre Wähler dagegen sind', sagt ein Politikwissenschaftler in Teheran, der aus Angst vor Repressionen nicht namentlich genannt werden will. 'Die gleichen Abgeordneten unterstützen das Gesetz hinter verschlossenen Türen, um ihre Loyalität gegenüber dem Obersten Führer zu zeigen.'"
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Gesellschaft

Die taz-Modekolumnistin Hengameh Yaghoobifarah will "Heterosexuellen cis Männern" zwar nicht glauben, dass sie zu Feministen werden, nur weil sie sich die Fingernägel lackieren, aber letztlich, warum nicht? "Eine trans Freundin von mir erzählte mir mal, dass das Tragen von Nagellack ihr erster Schritt aus der cis Männlichkeit gewesen ist - um die Gewässer auszutesten. Ich halte es deshalb nicht für sinnvoll, fremde Menschen als 'Männer mit Nagellack' zu labeln und sich über sie lustig zu machen, weil man hinter der Person einen Möchtegernfeministen vermutet. Männer, egal ob cis oder trans, mit Nagellack, was soll man schon groß dagegen einwenden?"

Knut Cordsen, Autor des Buchs "Die Weltverbesserer - Wie viel Aktivismus verträgt unsere Gesellschaft?"  legt in der FAZ eine Archäologie des Begriffs "Aktivismus" und "Aktivist" vor, der ihm in der "Letzten Generation" in alter Frische begegnet, der aber bis in die Weimarer Zeit zurückgeht - einer seiner Erfinder war der frühe Mitbegründer der deutschen Schwulenbewegung Kurt Hiller. "Die Mehrheiten, die der Aktivismus schon damals zu organisieren sich nicht in der Lage sah, verachtete er vorsorglich. 'Mehrheitsfähig' ist ein Schimpfwort unter Aktivisten. 'Dem Interesse des Volkes ist am besten gedient, wenn nicht die Mehrheit, sondern die Gesellschaft der sittlich und geistig Besten in ihm herrscht - : die demophilste Staatsverfassung ist die aristokratische', so Kurt Hiller 1924. Ein aristokratisches Selbstmissverständnis kennzeichnet auch den heutigen Aktivismus - zu seinem eigenen Schaden."

"Könnte es sein, dass hierzulande das Interesse am Land und die Empathie und Verbundenheit mit allen dort Lebenden weit weniger groß ist als in den Debatten ständig behauptet?", fragt in der FR der Slawist Wolf Iro, Autor des Buchs "Nach Israel kommen", der aus der Debatte um Fabian Wolff schließt, "dass es anstelle von Israel und Judentum in den Diskussionen in Wahrheit eigentlich nur um deutsche Befindlichkeiten geht?". Auch Felix Klein kritisiert er. Für ihn sei klar: "Wer Israel Apartheid unterstellt, delegitimiert den Staat und handelt somit antisemitisch. Genau als das aber, das heißt als Apartheid, wird die Situation in den besetzten Gebieten (wohlgemerkt nicht in Israel selbst) in einem von mehr als 1.500 insbesondere jüdischen Akademikerinnen und Akademikern und Intellektuellen getragenen und kürzlich unter dem Titel 'The Elephant in the Room' erschienenen Aufruf beschrieben. Und nun? Will Klein etwa hochverdienten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern wie Omer Bartov, Dan Diner, Saul Friedländer, Avishai Margalit, Shulamit Volkov, Yfaat Weiß oder auch den mehr als ein Dutzend unterzeichnenden Rabbinern ernsthaft unterstellen, dass sie den Staat Israel zu delegitimieren trachten? Saul Friedländer, der Holocaust-Überlebende und Verfasser des mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Werks 'Das Dritte Reich und die Juden'- für Klein ein Antisemit?" Äußerst dankbar hatte schon Charlotte Wiedemann, postkolonialistische Kolumnistin der taz, auf das Wort "Apartheid" aus so jüdischem Munde reagiert.
Archiv: Gesellschaft

Kulturpolitik

Peter Higgs, ein ehemaliger Kurator des British Museum, wird beschuldigt, antike Kunstgegenstände aus dem Museum über Ebay verscherbelt zu haben. Gina Thomas resümiert die Vorwürfe in der FAZ: "Ittai Gradel, ein in Dänemark ansässiger Wissenschaftler und Kenner antiker Gemmen und Kameen, der auch damit handelt, war schon vor einigen Jahren aufgefallen, dass antike Schmuckstücke, die ihm aus alten Katalogen des Britischen Museums bekannt waren, zu Spottpreisen auf Ebay verscherbelt wurden. Der Gesamtwert der entwendeten Objekte soll sich auf einen zweistelligen Millionenbetrag belaufen." Das Museum scheint bisher recht unbeholfen auf die Enthüllung des Skandals zu reagieren.
Archiv: Kulturpolitik
Stichwörter: British Museum, Dänemark

Internet

"GPT ist im Grunde der Tsunami der Kosmopolitismus-Debatte": GPT forciert mit "neuer Wucht die Klärung universell gültiger Werte", meint der Medienwissenschaftler Roberto Simanowski, der in der NZZ von den Herausforderungen berichtet, KI Moral zu lehren. Ein Buch zum Thema hatte er bereits vor drei Jahren veröffentlicht. "Was die Moral von Sprach-KI betrifft, so ist diese vor allem amerikanisch geprägt. Das ergab eine Studie, die GPT-3 einen australischen Entwurf für schärfere Waffengesetze zusammenfassen ließ. GPT sah darin einen Angriff auf das Recht der Selbstverteidigung und riet den australischen Staatsbürgern, ihre Abgeordneten zum Einspruch gegen das Gesetz aufzufordern. Die Sicht von GPT war geprägt vom Zweiten Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung aus dem Jahre 1791, wonach das Recht auf den Besitz und das Tragen von Waffen nicht eingeschränkt werden dürfe. Der Aufsatz, der im März 2022 über diese Verzerrung berichtet, trägt den Titel: 'Der Geist in der Maschine hat einen amerikanischen Akzent: Wertekonflikt in GPT-3.' Wenn dieser Geist per GPT in alle Welt getragen wird und heikle Fragen wie Abtreibung, Meinungsfreiheit, Sterbehilfe auf seine Weise beantwortet, kommt das einem heimlichen Kulturexport per Technik gleich. Es ist, wie Wolfram Eilenberger formulierte, die Fortsetzung des Kulturimperialismus mit KI-Mitteln."

In der SZ berichtet Philip Bovermann von den Klagen gegen das "Internet Archive", das nicht nur Websites speichert, sondern auch Kulturerbe digitalisiert und wie eine Leihbibliothek anbietet: Ganze Bücher, Livekonzerte, eine Viertelmillion Videos und Games sind hier zu finden - Ziel ist es, möglichst die gesamte Kulturgeschichte zu digitalisieren. Erst klagten die Verlage, nun mehrere Plattenfirmen: "Im Archiv befinden sich rund 3000 Musikstücke aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die mit dem charakteristischen Knacken alter Schellackplatten aufgezeichnet wurden, aber auch auf Streamingdiensten angeboten werden - digital gereinigt, ohne Knacken. Stücke von Frank Sinatra sind darunter, auch traditionelle Lieder auf Jiddisch und Tschechisch. (…) Die Plattenfirmen sehen einen entstandenen Schaden von bis zu 412 Millionen US-Dollar - eine Summe, die eine spendenfinanzierte Organisation wohl kaum bezahlen könnte, selbst wenn die Kläger nur teilweise recht bekämen. Das Internet Archive erhöht jetzt den Einsatz. Es hat angekündigt, Berufung einzulegen gegen die Einigung mit den Verlagen, die es gerade erst ausgehandelt hat."
Archiv: Internet

Medien

Die Medien machen derzeit wieder den gleichen Fehler, den sie in der Gründungsphase der AfD gemacht haben: Sie fallen auf die Provokationen der AfD rein und setzen sich zu wenig mit den "multifaktoriellen Ursachen des AfD-Aufstiegs" auseinander, meint der Politikberater Johannes Hillje, der in seinem Buch "Das 'Wir' der AfD" die Kommunikationsstrategien der Rechtspopulisten untersucht, im Tagesspiegel-Gespräch: "Es gibt … Studien, die eine Korrelation zwischen medialer Aufmerksamkeit und demoskopischem Aufstieg der AfD zeigen. Es ist auch plausibel, dass die zahlreichen Berichte über 'Rekordwerte' und 'Höhenflug' der AfD zu einem zusätzlichen Ansteckungseffekt führen. Das bedeutet, dass Menschen, die bisher nicht zur AfD tendierten, den Eindruck bekommen, dass sich diese zwanzig Prozent in den Umfragen ja nicht täuschen können, die AfD also normaler und wählbarer erscheint. Im Übrigen: Nicht zu lesen sind derzeit Schlagzeilen über das Ende des Aufstieg der AfD, der bei den meisten Instituten mittlerweile längst eingesetzt hat."
Archiv: Medien
Stichwörter: Hillje, Johannes, AfD

Ideen

Für die SZ hat Andrian Kreye mit der Ernährungswissenschaftlerin Hanni Rützel gesprochen, die gerade mit dem Frankfurter Zukunftsinstitut den "Food Report 2024" veröffentlicht hat und mit Blick auf die Klimakrise eine "kopernikanische Wende der Esskultur" fordert: Die Lebensmittelproduktionsketten müssen neu erfunden werden, meint sie und plädiert für mehr Regionaliät: "Die Globalisierung ist sowieso durch. Corona und jetzt der Krieg haben uns die Sollbruchstellen in der ganzen Kette vor Augen geführt. Weltweit hat die Pandemie dazu geführt, dass man versucht hat, die Region zu stärken. (...) Aber mit einer Reform des globalen Kapitalismus wäre es gar nicht getan. Das Wetter wird sich nicht beruhigen. 'Mit dem Klimawandel brauchen wir auch andere Sorten, die Starkregen und Dürreperioden leichter wegstecken. Bei der Entwicklung von Sorten sind wir in Europa wahnsinnig spezialisiert mit wenigen Weizensaaten, mit wenigen Maissorten. Da geht es immer noch primär um Ertrag, Spritzmittel, und die Bodenqualität wird vernachlässigt. Da brauchen wir viel mehr Forschung. Und da landen wir ganz schnell in der Gentechnikdebatte.' Noch so ein diskursives Minenfeld in Zentraleuropa. Noch eine Front im Kampf um die kopernikanische Wende der Esskultur."
Archiv: Ideen