9punkt - Die Debattenrundschau
Die Nachbarn, der Stamm, der Kollege bei der Arbeit
Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Europa
Daniel Zylbersztajn staunt in der taz über die immer neuen Belege für Antisemitismus in der Labour-Partei und vor allem bei Jeremy Corbyn selbst: "Was in Bezug auf Corbyn mit Vorwürfen begann, sich mit Hamas- und Hisbollah-Funktionäre zu befreunden, endet nun an den Gräbern von Personen, die für den Terror bei den Olympischen Spielen 1972 mitverantwortlich waren. Und jeden Tag werden Corbyns Gegner erneut fündig. Vergangene Woche kam heraus, dass der Labour-Chef sich 2011 gegenüber dem iranischen TV-Sender Press TV beschwerte, das britische BBC-Fernsehen sei zugunsten des Existenzrechts Israels parteiisch. Diese Woche ging es um Spenden von Hamas-Freunden für seinen Wahlkampf um die Labour-Führung 2015."
Gesellschaft
Im NZZ-Interview mit Johannes Böhme spricht Michael Ignatieff, derzeit Rektor der Central European University (CEU) in Budapest, über seine gescheiterte Präsidentschaftswahl in Kanada im Jahr 2011, Viktor Orbans Versuch, die von George Soros finanzierte CEU zu schließen und die Tendenz, aus Angst vor der Globalisierung Halt in lokalen Identitäten zu suchen: "Es gibt zwischen 1,2 und 1,5 Milliarden Menschen, die zu einer globalen Mittelschicht zählen, die Handys benutzen, die lange Reisen machen und mehrere Sprachen sprechen. Sie sind die Treiber der ökonomischen Globalisierung, einer welthistorischen Umwälzung. Aber ich bin sehr erstaunt darüber, wie lokal ihre Loyalitäten geblieben sind. Auch ihre Vorstellungen davon, was richtig und falsch ist. Ein Beispiel: Die Sprache der Menschenrechte wird von ihnen kaum benutzt. Sie rechtfertigen sich nicht vor 'der Menschheit', sondern vor ihrer Familie, vor den Nachbarn, dem Stamm, den Kollegen bei der Arbeit."
Politik
Thomas Gebauer und Ilija Trojanow schreiben in der FAZ über den "Teufelskreislauf" der Hilfe, dem NGOs und Entwicklungspolitik ausgesetzt seien und beschreiben ihn so: "Die Verhältnisse (in Pakistan leiden vierzig Prozent der Kinder an Unterernährung) bedingen mehr Hilfe, als sie je leisten könnten. Sie hegen keine Illusionen über die begrenzte Wirkung ihrer Aktionen. Zur nachhaltigen Bekämpfung von Hunger würde es grundsätzlicher Eingriffe in bestehende Ungleichheiten und Machtverhältnisse bedürfen. Sie engagieren sich aber trotzdem für den Tropfen auf den heißen Stein."
Ideen
Colin Crouch vom Max-Planck- Institut für Gesellschaftsforschung hält die Idee einer linken Sammlungsbewegung in der Zeit für nicht so gut. Stattdessen möchte er die Sozialdemokratie reparieren. Zwar "wäre es eine Gefahr für die sozialdemokratische Linke, sich allein auf die abgehängte Arbeiterklasse zu konzentrieren: Diese Klasse wird niemals wieder aus sich heraus eine Mehrheit stellen." Die Arbeiter bei Amazon und Co. müssten es darum richten: "Die sozialdemokratische Linke muss ihre starke Verbindung zu Sozialstaat und Gewerkschaften wiederaufleben lassen. Dazu muss sie die neuen, oftmals mit großer beruflicher Unsicherheit konfrontierten Arbeitnehmer im privaten Dienstleistungssektor davon überzeugen, dass sie ebenso sehr wie Handarbeiter und Staatsbedienstete eine Vertretung ihrer Interessen durch Gewerkschaften benötigen."
Auf den Kulturseiten, ein bisschen weiter hinten klagt ein weiterer Vordenker der Kapitalismuskritik, David Graeber, über die vielen "Bullshit-Jobs", die sich diese Gesellschaft offenbar leisten kann: "Wenn wir die Arbeit betrachten, die in den Dreißigerjahren verrichtet wurde, dann ist davon die meiste verschwunden - oder in andere Länder abgewandert. Als Gesellschaft hat uns das vor die Frage gestellt: Sollen wir die Zahl der Wochenarbeitsstunden massiv reduzieren? Das wäre die beste Lösung gewesen. Wir haben uns für eine andere entschieden: Jemand hat sich sinnlose Berufe ausgedacht, um uns weiterzubeschäftigen. Jetzt sitzen viele von uns in Büros herum, sie basteln Katzen-Meme und sind unglücklich, weil sie sich nicht mehr als selbstwirksam erleben."
Und noch eine weitere Idee wird in der Zeit gleich doppelt erwogen: Sind die globalen Probleme und die Flüchtlingskrise tatsächlich eine Frucht des Kolonialismus, wie Gero von Randow neulich behauptete? Nein, rufen gleich drei Autoren: Die Idee des Dschihad im Islam sei zum Beispiel gut 800 Jahre älter als der Kolonialismus. Und im Feuilleton ergänzt die Philosophin Maria-Sibylla Lotter unter dem Titel "Der Wille zur Schuld": "Nach dieser Logik könnte freilich auch jemand argumentieren, dass Hitler ohne den Versailler Vertrag wohl kaum an die Macht gekommen wäre und daher die Siegermächte des Ersten Weltkrieges schuld an den Nazigräueln gewesen seien."
Au0erdem: Michael Hüther und Knut Bergmann vom Institut der deutschen Wirtschaft antworten in der FAZ auf Wolfgang Streecks Aufruf für eine linke Sammlungsbewegung (unser Resümee) und raten der SPD, "sich noch rückwirkend mit ihren eigenen Erfolgen der Schröder-Zeit auszusöhnen".
Medien
Weitere Artikel: "A Free Press Needs You", titelt die New York Times zum heutigen Aktionstag der amerikanischen Presse gegen Donald Trumps Fake-News- und Feind-Parolen. In der SZ glaubt Heribert Prantl, dass sich die journalistische Tragödie von Gladbeck trotz Pressekodex zumindest in den sozialen Medien wiederholen könnte. (Denn was die Journalisten können, können die Bürger schon lange, oder wie meint er das?) Im Tagesspiegel schreibt der Journalistik-Dozent Bernd Gäbler zum Thema.