Intervention

Blauäugigkeitsvorfälle

Von Wolfram Schütte
22.01.2024. Letzte Woche druckte die SZ unter dem Rubrum "In eigener Sache" eine Rüge des Presserats ab, die zwei Falschbehauptungen dieser Zeitung kritisierten. In beiden Rügen ging es um wohlmeinende Verfälschungen der Migrationsstatistik. Wenn sich Linke fragen, warum die Rechte wächst - könnte es auch mit klammheimlicher Leugnung der Realität und zögerlicher Transparenz "in eigener Sache" zu tun haben?
Unter dem Rubrum "In eigener Sache" veröffentlichte die Printpresse üblicherweise Nachrichten, die nur sie selbst betreffen. Am liebsten öffentliche Auszeichnungen oder redaktionelle Veränderungen. Deshalb ist der längere Text, den die Süddeutsche Zeitung am 16. Januar 2024 "In eigener Sache" veröffentlichte, so ungewöhnlich. Denn er ist eine Rüge des Deutschen Presserats und bezieht sich auf Texte, die am 4. und 8. September vergangenen Jahres (!) in der SZ erschienen waren (hier und hier).

In dem einen Beitrag wurde behauptet, Migrationsflüchtlinge kämen "manchmal ohne Pass" in Deutschland an. Das erzeuge den falschen Eindruck, die Zahl der passlosen Migranten sei gering, monierte der Deutsche Presserat. Tatsächlich seien dies aber, gemäß offiziellen Statistiken, mehr als 50 Prozent.

In dem anderen vom Presserat gerügten Beitrag war es um die Frage gegangen, ob es einen Zusammenhang zwischen migrantischer Herkunft der Täter von Messerattacken gebe oder, wie die SZ behauptet hatte, deren Anteil im Wesentlichen gleich mit den Messerattacken nichtmigrantischer Täter sei. Hier bestehe die SZ-Falschaussage darin, dass bei dem statistischen Vergleich nicht die wesentlich geringere Zahl der Migranten an der Gesamtbevölkerung in Betracht gezogen worden sei. Daraus folgt logischerweise, dass Migranten bei Messerattacken vergleichsweise häufiger beteiligt gewesen sind.

Die Missbilligungen des Presserats betrafen mithin zweimal Falschaussagen der SZ über Verhaltensweisen von Migranten. Diese Fehlinformationen aus dem September 2023 waren geeignet, bei SZ-Lesern den Eindruck zu erwecken, in beiden Fällen seien in der Öffentlichkeit Migranten zu Unrecht "negative" Verhaltensweisen unterstellt worden. Anscheinend wollten die Redakteure der SZ, die diese Meldungen verfasst haben, Migranten vor vermeintlich übler Nachrede in Schutz nehmen - eine wohlmeinende Besorgnis, die von vielen im linksliberalen Lager geteilt worden ist.

Sie hatte jedoch als Kehrseite die klammheimliche Leugnung der Realität: einmal durch eine semantische Umschreibung, ein andermal durch eine scheinlogische Statistikinterpretation. Und schon schloss man, mit Christian Morgensterns Worten, "messerscharf, dass nicht sein kann, was nicht sein darf". Fataler aber als die auf Dauer nicht haltbaren Behauptungen wider unerwünschte Tatsachen war die damit einhergehende argumentative Selbstlähmung, weil die vom Presserat monierten und jetzt erst von der SZ akzeptierten Korrekturen bislang als politisch rechtslastige Verleumdungen inkriminiert worden waren. Derart fiel die real(istisch)e Wahrnehmung prekärer Fakten der Migrationsbewegungen in die xenophobe Verfügungsgewalt der faschistischen AfD und anderer identitärer politischen Idiotien.

Dabei ist es doch anthropologisch ganz selbstverständlich, dass aus der krisenhaften existentiellen Situation notwendigerweise Konfrontationen zwischen den Einheimischen und Migranten entstehen, die aber durch illusionslosen, fairen, gesetzestreuen Umgang miteinander regulierbar sein dürften. Die jahrelange (links-liberale) Leugnung problematischer strukturell bedingter Verwerfungen durch Migration und Migranten (zugunsten einer harmonischen Weltsicht des Laissez-faire, laissez aller) führte bei einer wachsenden Zahl sozial und politisch orientierungslos Gewordener zum Eindruck einer ohnmächtigen Hinnahme, beziehungsweise Duldung von realen Konflikten - und zwar von Seiten des demokratischen Staates und seiner Parteien, anstatt dass von diesen aktiv Regularien und Grenzsetzungen für das gesellschaftliche Problemfeld Migration-Asyl-Integration erlassen und deren Einhaltung strikt besorgt worden wäre. So konnte eine demokratiefeindliche autoritäre Bewegung, die sich immer offener national-sozialistisch artikuliert, als tatkräftige totalitäre "Alternative für Deutschland" sich gerieren oder gar mehr Zulauf in Aussicht haben, als für den nazi-kontaminierten Bodensatz der politischen Rechten zu erwarten wäre.

Warum aber war das Faktum, dass über 50 Prozent der nach Deutschland drängenden Migranten ohne Pass kommt, so beschweigenswert? Weil diese Migranten ihre Identitätspapiere zielbewusst entweder zurückgelassen oder vernichtet haben, damit die deutschen Behörden keine Handhabe haben, sie als abgewiesene Asylbewerber in ihre Herkunftsländer rückzuführen - falls das überhaupt möglich sein sollte. Wer ernstlich um Asyl nachsucht, hat seine Identitätspapiere bei sich.

Die Zunahme von Messerattacken ist ohne Zweifel ein kulturkriminelles Mitbringsel von Migranten aus maghrebinischen, machistischen Gesellschaften, wo es in manchen Teilen noch immer zum guten Ton gehört, als Mann ein Messer bei sich zu haben - wie es in Teilen der ländlichen USA ja üblich ist, nicht ohne eine Pistole auszugehen.

Die SZ beschließt ihre Offenbarungen "In eigener Sache" mit folgender Nachbemerkung:

"Die Süddeutsche Zeitung ist nicht verpflichtet, diese Missbilligungen zu veröffentlichen. Wir haben aber entschieden, dies zu tun, weil wir Wert legen auf Transparenz - auch wenn es um Kritik an unserer Berichterstattung geht".

Es gibt keinen Grund an der Aufrichtigkeit dieser Selbstaussage zu zweifeln. Allerdings ist es auch klug von der SZ, die peinlichen "Missbilligungen" des Beschwerdeausschusses des Deutschen Presserates selbst zu veröffentlichen - bevor ihr Konkurrenten und politische Gegner öffentlich vorgeworfen hätten, es nicht getan zu haben. So kann sie zum einen ob ihrer konsequenten Haltung, auch vor der eigenen Tür zu kehren, sich selbst loben, weil sie auf "Transparenz Wert legt"; zum anderen erlaubt es ihr aber, diese (übrigens für Nichtkenner schwer verständliche) Bekanntmachung zu nutzen, um ihren Lesern durch die Blume mitzuteilen, dass sie vier Monate nach den beiden Blauäugigkeitsvorfällen sich nun "ehrlich gemacht" hat, dank der Publikation ihrer Rügen durch den Deutschen Presserat.

Es sollte mich nicht wundern, wenn diesem jüngsten Akt einer realistischen Wahrnehmungskorrektur heftige Diskussionen in der (Chef-)Redaktion vorausgingen.  

Wolfram Schütte