Intervention

Von Russland aufgesogen

Von Richard Herzinger
05.03.2024. Belarus hat als souveräner Staat faktisch zu existieren aufgehört. Es wird von Moskau gleichsam in Reserve gehalten für eine weitere Intensivierung seines Vernichtungskriegs gegen die Ukraine, aber auch für bevorstehende Aggressionen gegen NATO-Staaten wie Polen und Litauen. Die belarusische demokratische Opposition, oder vielmehr das, was von ihr übrig geblieben ist, befindet sich heute in einer tragischen Situation. Der Westen hat die Entwicklung nur geschehen lassen. Im Moment kommt es vor allem darauf an, alles für die politischen Gefangenen zu tun.
Im Schatten des russischen Vernichtungskriegs gegen die Ukraine ist die Lage in Belarus aus dem Blickfeld der Weltöffentlichkeit geraten. Und damit das Schicksal der politischen Gefangenen, die im Zuge der brutalen Niederschlagung des Volksaufstandes gegen das Lukaschenka-Regime willkürlich zu hohen Haftstrafen verurteilt wurden. Dabei geben die Bedingungen, unter denen sie festgehalten werden, zu den schlimmsten Befürchtungen Anlass.

Führende Köpfe der demokratischen Opposition sind in der Gefangenschaft vollständig von der Außenwelt isoliert. So gibt es zu Maria Kalesnikava, dem strahlenden Gesicht der Demokratiebewegung von 2020, seit einem Jahr keinerlei Kontakt mehr. Die Sorge ist groß, dass das Regime des Putin-Vasallen Lukaschenka sie nicht mehr lebend aus seinen Fängen lassen will - und ihr ein ähnliches Ende droht wie Alexej Nawalny.

Während die belarusische Opposition weitgehend in Vergessenheit geraten ist, hat sich die "Russische Föderation" das Land faktisch vollständig einverleibt. Nach der russischen Ankündigung, dort Atomwaffen zu stationieren, war die Installierung von Kämpfern der "Wagner-Gruppe" des - mittlerweile von Putin aus dem Weg geräumten - Söldnerführers Prigoschin als eine Art parallele militärische Struktur zur regulären belarusischen Armee ein weiteres untrügliches Zeichen dafür, dass Belarus als souveräner Staat zu existieren aufgehört hat. Es wird von Moskau gleichsam in Reserve gehalten für eine weitere Intensivierung seines Vernichtungskriegs gegen die Ukraine, aber auch für bevorstehende Aggressionen gegen NATO-Staaten wie Polen und Litauen.

Dass Belarus derartig reibungslos in die Hände von Putins Russland fallen konnte, ist nicht zuletzt der verfehlten Politik des Westens angesichts der demokratischen Massenbewegung von 2020 und ihrer brutalen Unterdrückung geschuldet. Zwar rang sich die EU damals - eher zögerlich - zu Sanktionen gegen das Lukaschenka-Regime durch, doch an den Kern des Problems wagte man sich nicht heran. Sträflicherweise verzichtete man darauf, Putins Russland für seine massive Einflussnahme in Belarus zu sanktionieren. Dabei musste jedem einigermaßen informierten Beobachter frühzeitig klar sein, dass sich Lukaschenka ausschließlich dank der Unterstützung und Anleitung durch den putinistischen Repressionsapparat an der Macht halten konnte.

Statt dessen aber kursierte in deutschen und anderen westlichen Medien lange Zeit die naive Vorstellung, der Kreml sei der belarusischen Demokratiebewegung womöglich mehr gewogen als dem Freiheitskampf der Ukraine, da sie nicht den Beitritt zur EU anstrebe. Manch ein westlicher Kommentator verstieg sich gar zu der Mutmaßung, Moskau könnte zum Verbündeten bei der Durchsetzung von Reformen in Belarus werden, sei dem Kreml doch bewusst, dass Lukaschenka in seinem Volk keinen Rückhalt mehr besäße. Leider wurden diese Illusionen in den guten Willen des russischen Verbrecherstaats auch von großen Teilen der belarusischen Opposition selbst geteilt.

Als Folge solcher Fehleinschätzungen behandelte die westliche Politik die Ereignisse  so, als ginge es dabei um eine rein innerbelarusische Angelegenheit - und nicht etwa um einen Teilkonflikt im Rahmen der epochalen Konfrontation zwischen dem demokratischen Europa und dem russischen Despotismus. So wurde die Gefahr einer Übernahme von Belarus durch Russland unterschätzt, und es blieb unterbelichtet, welche fatalen sicherheitspolitischen Konsequenzen dies für das freie Europa insgesamt haben würde.

Die belarusische demokratische Opposition, oder vielmehr das, was von ihr übrig geblieben ist, befindet sich heute in einer tragischen Situation. Im Inneren so gut wie vollständig aufgerieben, kann sie nur noch aus dem Exil agieren und muss mehr oder weniger tatenlos zusehen, wie ihr Land von Russland aufgesogen und in einen verbrecherischen Angriffskrieg hineingezogen wird. Aus eigener Kraft nicht in der Lage, diese Entwicklung aufzuhalten, kann die Opposition, um das Blatt noch einmal im Sinne der Fortexistenz der belarusischen Nation zu wenden, nur auf den Sieg der Ukraine hoffen. Denn der würde den russischen Terrorstaat in seinen Grundfesten erschüttern, wodurch sich auch der Würgegriff lösen könnte, in dem Belarus vom Kreml gehalten wird.

Aktivistinnen wie Tatsiana Khomich, Maria Kalesnikavas Schwester, betonen unterdessen, dass die Rettung des Lebens der politischen Gefangenen für die Bestrebungen der belarusischen Opposition wie für die Belarus-Politik des Westens oberste Priorität haben müsse. Dazu sollten Kommunikationskanäle mit dem Minsker Regime offen gehalten werden, mittels der pragmatische Lösungen zur Freilassung der Inhaftierten eruiert werden könnten. Überhaupt dürfe Belarus nicht vollständig isoliert werden, um zu verhindern, dass seine Bevölkerung ausschließlich der russischen Propaganda und Desinformation ausgesetzt ist.

Doch obwohl Khomich einräumt, dass der Dialog mit der Lukaschenka-Diktatur nicht um den Preis der Aufweichung von Sanktionen geführt werden dürfe, ist ihre Position innerhalb der belarusischen Opposition höchst umstritten. Wie mit dem Machthaber in Minsk verhandelt werden könnte, ohne ihn aufzuwerten, leuchtet in der Tat nicht ein. Zumal dieser Ansatz offenbar von der irrigen Vorstellung ausgeht, das Regime Lukaschenkas verfüge noch über einen eigenständigen Entscheidungsspielraum jenseits des Diktats seines Schutzherren in Moskau.

Das Dilemma, das in Khomichs Position aufscheint, ist dasselbe, mit dem sich auch die westliche Politik gegenüber Belarus konfrontiert sieht. Obwohl das Land selbst Opfer des russischen Expansionismus geworden ist, darf es unter den gegebenen Umständen nicht anders behandelt werden denn als ein Bestandteil der putinistischen Aggressionsmaschinerie. Umso mehr gilt es aber, die mutigen Frauen und Männer nicht im Stich zu lassen, die in belarusischen Gefängnissen und Straflagern dafür büßen müssen, an vorderster Front für demokratische Freiheitswerte gekämpft zu haben - und damit auch für die Sache aller freien Europäer.

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. Hier der Link zur Originalkolumne.