Efeu - Die Kulturrundschau

Schluss mit den Vertraulichkeiten

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31.05.2024. In den Deichtorhallen bahnt sich ein Eklat an, schreibt der Tagesspiegel: eine indigene Künstlergruppe garniert ihren Beitrag zur Ausstellung "Survival in the 21st Century" mit einem antisemitischen Manifest, der Direktor setzt auf "Dialog". Wie man im Bombenhagel noch klassische Konzerte veranstalten kann, lernt die SZ vom Charkiwer Dirigenten Vitali Alekseenok. Die Shortlist für den Internationalen Literaturpreis ist da, nach der großen Jury-Kontroverse ist die SZ zufrieden mit der Auswahl. Die Zeitungen trauern um den Dokumentarfilmer Thomas Heise.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 31.05.2024 finden Sie hier

Kunst

In der Ausstellung "Survival in the 21st Century" in den Hamburger Deichtorhallen sollte es um die Frage gehen, wie Kunst mit aktuellen Krisen wie Klimakollaps, Flucht, Krieg oder kolonialhistorischer Verantwortung umgeht, nun steht eine andere Debatte im Vordergrund, ärgert sich Maxi Broecking im Tagesspiegel: Das US-amerikanische Indigenen-Kollektiv New Red Order garniert sein Werk, das sich mit den Folgen gewaltsamer Vertreibung der nordamerikanischen Urbevölkerung durch weiße Kolonialisten auseinandersetzt, mit einem propalästinensischen Manifest, in dem nicht nur Kulturinstitutionen aufgerufen werden, sich gegen Israel zu stellen, sondern auch eine Linie "vom Völkermord an den amerikanischen Ureinwohnern über den Völkermord an den Herero und Nama durch deutsche Kolonialtruppen, zum Holocaust, dann zur Vertreibung der arabischen Palästinenser 1948, der 'Nakba', und dem 'Völkermord' in Palästina heute" gezogen wird. Für Bröcking ist die Kunstfreiheit überschritten, der Direktor des Hauses, Dirk Luckow, setzt indes auf Dialog: "In einer daneben hängenden Wandtafel distanzieren sich die Deichtorhallen von Inhalt und Aussagen des Manifests, verweisen aber gleichzeitig auf die Kunstfreiheit."

Bereits vor eine Woche kommentierte Daniel Kaiser im NDR: "Die Deichtorhallen machen es sich ein bisschen leicht. Denn es ist nichts anderes als eine antisemitische Verschwörungserzählung, die da in der Ausstellung hängt. Der Massenmord an den Indigenen in den USA, die Shoa in Nazideutschland und die israelische Politik von heute seien strukturell alles dasselbe. Israel trage allein die Verantwortung für den Nahostkonflikt." Auch Deichtorhallen-Chef Dirk Luckow äußert sich im NDR zu dem Papier (das man im Netz offenbar nirgends lesen kann). Man habe sich ja distanziert. Aber das Papier findet er halt doch irgendwie sehr wichtig: "Auf diesem Papier geht es vor allen Dingen um den Grunddiskurs des weißen Suprematismus - um das mal aus Künstlerperspektive anzusprechen -, dass der ganze Kolonialismus als Quelle die weiße Kolonialgeschichte im Hintergrund hat. Und diese Kolonialgeschichte sehen sie eins zu eins in einer Linie mit dem Holocaust - und das ist natürlich aus der deutschen Erinnerungskulturperspektive untragbar. Aus deutscher Perspektive ist das ein nicht vergleichbares, einzigartiges Verbrechen."
Martha Hoepffner: Selbstporträt im Spiegel.

Als "dringend notwendige Ergänzungen des Bekannten" nimmt Freddy Langer für die FAZ die Werke in der Schau "Stadt der Fotografinnen - Frankfurt 1844 bis 2024" im Frankfurter Historischen Museum wahr. Weniger um einen dezidiert weiblichen Blick gehe es als vielmehr um "eine Art alternative Fotogeschichtsschreibung, von den frühen Atelieraufnahmen der Kaiserzeit bis zu zeitgenössischen Installationen. Kaum ein Genre fehlt und kaum ein maßgeblicher Stil, der die Fotografie im Laufe der vergangenen 180 Jahre bestimmt hat. Dabei staunt man über die gleichbleibend hohe Qualität aller Aufnahmen, einerlei, ob klassisches Porträt oder experimentelle Arbeit, und gewinnt nirgendwo den Eindruck, dem Kuratorinnenteam um Dorothee Linnemann sei es vor allem um einen möglichst umfangreichen Bestandskatalog gegangen, den es mit enzyklopädischem Eifer füllte. Vielmehr wünschte man jeder der ausgewählten Positionen eine eigene Ausstellung. Immerhin lässt sich mit den mehr als dreißig in einer Handbibliothek zusammengetragenen Katalogen der Eindruck vertiefen." Die Arbeiten von vierzig verschiedenen Fotografinnen von Annegret Soltau bis Mara Eggert sind noch bis zum 22. September zu sehen.

Das Auktionshaus Christie's wird von Hackern unter Druck gesetzt, was der Öffentlichkeit aber bisher verschwiegen wurde. Erst nach den erfolgreich beendeten Mai-Auktionen hat das Klientel durch die Hacker davon erfahren, ärgert sich Philipp Bovermann in der SZ. Die Angreifer wollen persönliche Daten der meist mächtigen Kunden online stellen, Bovermann meint, das Auktionshaus habe sich dabei nicht korrekt verhalten: "Dass Unternehmen versuchen, Cyberattacken zu verheimlichen, ist nicht ungewöhnlich. Der potenzielle Schaden für die Reputation überwiegt oft den finanziellen, deshalb gehen Experten von einer hohen Dunkelziffer in einem rasant wachsenden Feld der Onlinekriminalität aus. Die Datenschutzgrundverordnung der EU schreibt allerdings vor, dass Unternehmen innerhalb von 72 Stunden nach Bekanntwerden eines Hackerangriffs die zuständigen Datenschutzbehörden informieren müssen, wenn die Gefahr besteht, dass Kundendaten abgeflossen sind. Ansonsten drohen Geldstrafen von bis zu 20 Millionen Euro oder vier Prozent des Jahresumsatzes. Hat Christie's das getan, oder das Risiko einer Strafe eingepreist? Das Auktionshaus teilt auf Anfrage mit, es informiere 'gegenwärtig' Behörden und 'in Kürze' betroffene Kunden."

Weiteres: Der Deal zum Verkauf von Caspar David Friedrichs "Karlsruher Skizzenbuch" ist geplatzt, berichtet die Berliner Zeitung, das "sehr umstrittene Kulturgutschutzgesetz" kam zum Einsatz, das Skizzenbuch muss "unter allen Umständen im Land verbleiben", heißt es. Die Zeit interviewt die russische Exil-Künstlerin Anna Jermolaewa.

Besprochen werden: "Faszination Rom. Maarten van Heermskerck zeichnet die Stadt" im Berliner Kulturforum (Tagesspiegel) und "(Un)Seen Stories. Suchen, Sehen, Sichtbarmachen" im Berliner Kupferstichkabinett (Berliner Zeitung).
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Bühne

Zeit Online und SZ resümieren die Preisverleihung in der Konrad-Adenauer-Stiftung an den Schauspieler Ulrich Matthes, die Laudatio hielt Matthes' gute Freundin Angela Merkel. Das Van Magazin lässt eine Opernsängerin vom Neid auf und hinter der Bühne schreiben.

Besprochen werden: Die auf dem gleichnamigen Kafka-Roman basierende Oper "Amerika" von Roman Haubenstock-Ramati an der Oper Zürich (Welt), die neue Spielzeit im Staatstheater Wiesbaden (FR), "Searching for Zenobia" von Lucia Ronchetti auf der Münchner Musiktheater-Biennale (SZ), "Sancta" von Florentina Holzinger am Mecklenburgischen Staatstheater (Van) und "Haus ohne Ruhe" auf Basis der "Orestie" von Zinnie Harris am Theater Ingolstadt (Nachtkritik).
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Musik

Der ukrainische Dirigent Vitali Alekseenok organisiert in Charkiw allen russischen Bombardements zum Trotz weiterhin Konzerte. Ort des Geschehens ist ein Bunkerkeller unter dem Opernhaus. Dieses Jahr war es besonders gefährlich: "Ich bin unter Bomben angereist", erzählt er Tomas Avenarius im SZ-Gespräch, "kam eine Stunde nach dem Angriff auf das Druckhaus in Charkiw an. Noch am selben Abend haben wir gespielt. Das hatte etwas Absurdes. Aber es ist enorm wichtig, dass wir auch in dieser Lage musizieren, die ukrainische Kultur pflegen. ... Dass wir für den heutigen Abend ein Orchester mit 50 Musikern zusammenstellen konnten, ist außergewöhnlich in dieser Situation. Es ist das erste Mal seit Kriegsbeginn, dass wir ein so großes Orchester auf die Bühne bringen. Und fast alle sind aus Charkiw, nur einige wenige sind aus Kiew gekommen. Einer hat abgesagt: Er musste zur Armee, in den Krieg. Wir spielen daher ohne Tuba. In ganz Charkiw gibt es keinen weiteren Musiker, der dieses Instrument spielt."

Außerdem: Albrecht Selge berichtet für VAN vom Klavierfestival Berlin. Für die FAZ spricht Robin Passon mit dem Bratschisten Lawrence Power über dessen Arbeitsweise und die Musik von Cassandra Miller. Jeffrey Arlo Brown denkt in VAN mit Kafkas letzter Kurzgeschichte "Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse" über die Kunst des Singens nach. Jakob Thaller porträtiert für den Standard den Salzburger Rapper Young Krillin, der einst den Cloud Rap mit auf den Weg brachte. Lucien Scherrer spricht für die NZZ mit dem Popstar Gigi D'Agostino, dessen Song "L'Amour Toujours" gegen seinen Willen als rechtes Propaganda-Mem eingedeutscht wurde. Mina Brucht liefert in der taz Hintergründe dazu, dass der Leipziger Club Institut für Zukunft schließen muss. Die taz sammelt Stimmen aus der Berliner Szene zum Tod von Monika Döring, die das Berliner Nachtleben seit den Achtzigerjahren prägte. Jürg Zbinden staunt in der NZZ über den durch Social Media befeuerten, internationalen Erfolg von Bodo Wartke und Marti Fischer und ihrem Song "Barbaras Rhabarberbar".

Besprochen werden ein Konzert von Grigory Sokolov in Frankfurt (FR), Ibibio Sound Machines Album "Pull the Robe" (taz), ein Konzert von Eric Plandé Unit mit Musik von Joachim Kühn (FR), zwei von Mirga Gražinytė-Tyla und Marie Jacquot dirigierte Konzerte der Dresdner Staatskapelle in Wien (Standard), ein Auftritt von Mitski in Frankfurt (FR) und ein neues Album von Hermanos Gutiérrez (NZZ).

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Film

Der Essay- und Dokumentarfilmemacher Thomas Heise ist überraschend im Alter von 68 Jahren gestorben. In der DDR war er ein Unangepasster, der sich wegen eines Studentenfilms, der ein bisschen zu genau auf die soziale Wirklichkeit blickte, auch schon mal mit der Filmhochschule anlegte, schreibt Peter Laudenbach in der SZ. "Sein Stil schon damals: Cinéma-Vérité, beobachten statt werten, spröde und direkt. Der Titel des Studentenfilms nimmt die absehbare Ablehnung der Filmhochschul-Aufseher sarkastisch vorweg: 'Wozu denn über diese Leute einen Film?'" Heise wurde zum "wichtigsten Dokumentarfilmer der DDR-Endzeit und der Härten der Nachwendejahre. Seine dokumentarische Genauigkeit verzichtet sehr konsequent auf effektvolle Spannungsdramaturgie, auf Kommentar und atmosphärische Weichzeichner. Heises sachlicher, voyeurismus-freier Blick steht quer zu Medienformaten, die auf irritationsfreie Eingängigkeit zielen. Die Redakteure der öffentlich-rechtlichen Anstalten waren von Heises Arbeiten genauso überfordert wie die Funktionäre der DDR-Filmhochschule."

Susanne Lenz erinnert sich in der Berliner Zeitung an ihr letztes Gespräch mit Heise, in dem er auch daran erinnerte, wie er in den frühern Achtzigern seiner Exmatrikulation von der Filmhochschule "Konrad Wolf" zuvor kam: "Seine Rechnung ging auf. Er konnte zu DDR-Zeiten tatsächlich noch Filme machen, für die Staatliche Filmdokumentation, die das Leben in der DDR für spätere Generationen dokumentierte. ... Zu DDR-Zeiten zu sehen waren diese Filme nie, Heise hatte dann Hoffnung, im vereinigten Deutschland damit herauskommen zu können. 'Zehn Jahre bin ich damit in der Bundesrepublik rumgerannt', sagt er. Dass es so lang gedauert hat, hat ihn enttäuscht. Er erkannte darin auch ein Desinteresse des Westens am Osten. Thomas Heise passte ohnehin in keines der Systeme, weder in die DDR noch in die BRD. Er legte wohl auch keinen Wert darauf."

Seine Dokumentarfilme "glichen auf eine merkwürdige Weise Meditationen, aber solchen, die zu Hochkonzentrationsräumen werden", schreibt Kerstin Decker im Tagesspiegel: "Heise zeigte grundsätzlich Fließbestände." Sein "Blick wird fehlen. Unfähig zu Draufsichten, zu Kurzsichten, öffnete er Zwischen- und Nebenräume. Aber vor allem blieb er 'sub', immer von unten, konnte die Dinge, die Landschaften erzählen lassen über Menschen." In seinem Blog erinnert sich der Filmemacher Christoph Hochhäusler an Heise. Der Dlf führte 2020 ein großes Gespräch mit Heise über Leben und Werk. Auf Vimeo hat er zahlreiche seiner Arbeiten und Skizzen archiviert. Außerdem hält die Mediathek der Bundeszentrale für politische Bildungs viele seiner Filme bereit, darunter auch seinen letzten großen Film "Heimat ist ein Raum aus Zeit" (unsere Berlinale-Kritik).

Außerdem: Hanns-Georg Rodek spricht ind er Welt mit dem polnischen Regisseur Patryk Vega, der aktuell sein mit KI-Einsatz entstandenes Biopic über Putin auf dem Weltmarkt zu verkaufen versucht. Der ziemlich wirre Trailer sendet Postkarten aus dem Uncanny Valley:



Besprochen werden Guy Nattivs Biopic "Golda" über Golda Meir (Artechock, unsere Kritik), Todd Haynes' "May December" (Standard, Artechock, unsere Kritik), die Amazon-Comedyserie "Viktor bringt's" mit Moritz Bleibtreu (FAZ), die Netflix-Serie "Eric" mit Benedict Cumberbatch (Welt) und Katrin Schlössers Dokumentarfilm "Besuch im Bubenland" übers Südburgenland (Standard).
Archiv: Film
Stichwörter: Heise, Thomas, Deutscher Film, DDR

Literatur

Das Haus der Kulturen der Welt hat die Shortlist für seinen Internationalen Literaturpreis bekannt gegeben. Nachdem die früheren Jurymitglieder Juliane Liebert und Ronya Othmann kürzlich in der Zeit sehr glaubhaft und vieldiskutiert dargelegt haben, dass die Juryentscheidungen im letzten Jahr entgegen der eigenen Statuten offenbar nicht rein ästhetischen Kriterien folgten, sondern besonderer Wert auf Herkunft und Hautfarbe gelegt wurde, hat die neue Shortlist einen gesteigerten Aufmerksamkeitswert. Aus dieser Kontroverse "sollte man auch im Haus der Kulturen der Welt in Berlin die Konsequenz ziehen: Schluss mit den Vertraulichkeiten, wenn es um Literatur geht", findet Felix Stephan in der SZ, der mit Blick auf die aktuelle Liste "teilweise Entwarnung" gibt: "Weiße Französin" war diesmal offenbar kein Ausschlusskriterium. "Auf der Shortlist befindet sich mit Adèle Rosenfeld nicht nur eine weiße Französin, sondern mit Victoria Kielland auch noch eine weiße Norwegerin nebst ihrer Übersetzerinnen Elke Ranzinger und Nicola Denis." Alle Titel finden Sie bei eichendorff21.

Besprochen werden unter anderem Saša Stanišics Erzählband "Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne" (FR), Isobel Markus' "Dating-Roman" (Freitag) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Selma Noorts "Das kleine Haus am Fluss" (SZ).
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Architektur

Der Arzt Volker Kielstein hat den Europa-Nostra-Preis 2024 für die Erhaltung europäischen Kulturerbes erhalten, berichtet Rolf Brockschmidt im tagesspiegel. Seit 1997 setzt er sich für den Erhalt des Hauses Schulenburg in Gera ein, gebaut von dem Belgier Henry van der Velde: "Das Anliegen des Unermüdlichen war es, alles so instand zu setzen, wie der Architekt es einst geplant hatte. Im Lauf der Jahre entwickelte Kielstein die Expertise dafür, fand Handwerker aus der Region, er kümmert sich um jedes Detail persönlich. Stolz führt er durch das Haus, verweist auf Stofftapeten, die er nachweben ließ, neu gepolsterte oder nachgebaute Möbel, einen neu gewebten Seidenteppich. Die größte Herausforderung sei die Rekonstruktion des Treppenhauses gewesen, es beherbergt eine elegante Freitreppe, die von zwei Seiten ins Erdgeschoss führt." Das Ziel Kielsteins: "Aus Haus Schulenburg eine europäische Institution zu machen als Ort des kulturellen Austauschs."
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