Efeu - Die Kulturrundschau

Im Gewande alter Hochkunst

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08.06.2024. Einen so expliziten Warhol hat man selten gesehen, jubeln die Kritiker nach ihrem Besuch in der Neuen Nationalgalerie: Der Welt treibt manches Exponat die Schamesröte ins Gesicht, die FAZ fragt, ob wir nun anders auf Warhol blicken. Der Standard lernt im Wiener Mumok, wie sehr Werke von Frantz Fanon und James Baldwin in der Kunst des Globalen Südens nachwirken. Der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan ist auch aufgrund westlicher Ignoranz der Nationalgarde beigetreten, glaubt die FR. Die NZZ bewundert den Kometen, den der südkoreanische Architekt Minsuk Cho vor der Serpentine Gallery geschaffen hat.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.06.2024 finden Sie hier

Kunst

Eine derart explizite Warhol-Schau gab es selten zu sehen - und besser noch: Die Ausstellung "Andy Warhol. Velvet Rage and Beauty" in der Berliner Neuen Nationalgalerie zeigt einen unbekannten Warhol, jenseits der Pop Art, freut sich Boris Pofalla in der Welt. Stattdessen zeigt die Schau, wie die Sexualität des schwulen Künstlers, der sich nie outete, sein Werk prägte. Mitunter äußerst offenkundig, wie in der Serie "Sex Parts", die fast die Grenze zur Pornografie überschreitet: Die Serie "zeigt Geschlechtsteile, Hintern, gefesselte Handgelenke und verschiedenste Formen der Penetration, was die Neue Nationalgalerie für die nächsten Monate zu einem herausfordernden Ort für den sonntäglichen Familienbesuch macht. (…) Die 'Sex Parts' sind aber dennoch Kunst. Der leichthändige Strich, mit dem Warhol einst anfing, war Ende der 1970er immer noch da, als habe es die glatten Kommerzarbeiten nie gegeben. Zu Lebzeiten ausgestellt wurden die 'Sex Parts' zwar, dann aber in den früheren Warhol-Retrospektiven unter den Teppich gekehrt." Eine "enorm erhellende Ausstellung, die viel über die Wechselbeziehung von Begehren und Kreativität aussagt, vor allem über den Umgang mit Homosexualität im 20. Jahrhundert", sieht Nicola Kuhn im Tagesspiegel.

Ob man den Kuratoren der Ausstellung, Direktor Klaus Biesenbach und Lisa Botti, darin folgen muss, dass sich durch das Wissen um Warhols Sexualität etwas an der Wahrnehmung der Kunst ändert, bezweifelt FAZ-Kritiker Stefan Trinks allerdings. Nicht alles muss auf "anhaltende Sublimation" zurückgeführt werden, meint Trinks. In einigen Phasen erscheinen Warhols Werke subtiler, bei aller Obsession mit Männern taucht "schwule Nacktheit" insgesamt eher selten offensichtlich auf. Seit den Sechzigerjahren etwa wendet Warhol die Methode an, "Momente sexueller Lust im Gewande alter Hochkunst zu camouflieren": "1964 zeigt er in einem Video 35 Minuten lang ausschließlich das orgastisch entrückte Gesicht des idealschönen DeVeren Bookwalter, der innerhalb dieser Zeitspanne, für den Betrachter unsichtbar, einen 'Blowjob' erhält - was der Arbeit auch ganz unverblümt den Namen leiht. Der schräg gelegte, zusätzlich stark beleuchtete Kopf wirkt im harten Schwarz-Weiß des Videobildes wie ein Marmorhaupt. Die Assoziation mit dem ebenfalls ekstatisch verzückten Gesicht der marmornen Teresa von Avila von Bernini, deren Körper unter der Gewandfülle verschwindet, sodass ihr Gesicht die Szene beherrscht, ist mehr als plausibel." In der FAS empfiehlt Niklas Maak parallel zu Warhol die Ausstellung "Picabias Frauen" in der Berliner Galerie Werner.

Bild: Atul Dodiya, Volunteers at the Congress House - August 1931, 2014. Courtesy of the artist and Chemould Prescott Road. © Anil Rane

Nach fünf Monaten Schließzeit eröffnet das Wiener Mumok mit der Ausstellung "Avant-Garde and Liberation" - und Standard-Kritiker Stefan Weiss ackert sich durch viele arg theoretische Kunst und Texte aus und über den Globalen Süden. Aber er lernt hier auch, "wie sehr die Theorien des französischen Dekolonisierungsvordenkers Frantz Fanon noch heute Kunst aus Nordafrika (Mohamed Bourouissa) beeinflussen, welchen Stellenwert Mahatma Gandhi nach wie vor in Indien hat (Atul Dodiya) oder wie stark das schriftstellerische Werk des US-Bürgerrechtlers James Baldwin nachwirkt: Die amerikanische Künstlerin Zoe Leonard hat 53 Exemplare von Baldwins Buch The Fire Next Time von 1963 zu einem als Tipping Point betitelten Stoß aufgestapelt - Symbol für die ewige Wiederkehr der immer gleichen Kämpfe, wenn man etwa an die Polizeigewalt gegen Schwarze denkt, die an mehreren Stellen Thema ist."

Weitere Artikel: Mark Siemons resümiert für die FAS die Tagung des Kulturausschusses des Bundes zur Documenta (Unser Resümee). Im Tagesspiegel spricht Nobert Bisky, der ein Plakat zur Europawahl gestaltet hat, über politische Kunst, den Erfolg der AfD im Osten und das Männerbild von Rechtsextremen: "Die Gewalt in Ostdeutschland hat bis 1989 nie eine Unterbrechung gefunden. (...) Die DDR basierte auf der Unterdrückung von Abweichlern, schrägen Vögeln, Schwulen, Spinnern, Künstler:innen." In der SZ weiß Kathleen Hildebrand nun, wie es sich anfühlt, morgens im Louvre Sport zu machen. Der in Lagos aufgewachsene und in Berlin lebende Fotograf Akinbode Akinbiyi erhält den Hannah-Höch-Preis für sein Lebenswerk, die Berlinische Galerie richtet ihm ab heute unter dem Titel "Seeing. Seeing. Wandering" eine große Retrospektive aus. Für den Tagesspiegel porträtiert Elke Linda Buchholz Akinbiyi. Die NZZ lässt ihre heutige Ausgabe von der Schweizer Künstlerin Pamela Rosenkranz gestalten. Philipp Meier porträtiert die Künstlerin, die die Schweiz im Jahr 2015 auf der Biennale in Venedig vertrat. Benedict Neff spricht mit Rosenkranz über Louise Bourgeois, Bücher und politische Kunst.

Besprochen werden die Ausstellung "spring show" mit Arbeiten von Ann Veronica Janssens in der Berliner Galerie Esther Schipper (Tsp), die Ausstellung "Expressionists: Kandinsky, Münter and The Blue Rider" in der Londoner Tate Modern (SZ) und die große Martha-Jungwirth-Retrospektive im Guggenheim Museum in Bilbao (Standard).
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Literatur

Der Schriftsteller Serhij Zhadan ist der ukrainischen Nationalgarde beigetreten. Das ist auch eine Folge der allenfalls unentschlossenen Solidarität, die der Ukraine aus dem Westen zukommt, schreibt Christian Thomas in der FR. "Es walten im freien Westen politische Ignoranz und humane Indolenz und werden verwaltet: beides, Zhadan hat es zuletzt noch einmal ausdrücklich betont, bewogen ihn zu seinem ultimativen Schritt. ... Wer Zhadans Schritt durch eine flotte historische Analogie glaubt erklären zu können, seinen Entschluss in die Tradition tumber Kriegsbegeisterung einreiht", der "versucht bloß, einen bis heute nicht verwesten Nachlass wiederzubeleben. Ein Erbe aus Diffamierung bis hin zum Rufmord, das sich seit 2014, als die Ukraine begann sich gegen die russische Aggression zu wehren, aus den Arsenalen der Infamie bedient."

Bernhard Heckler hat für die SZ die Schriftstellerin Sibylle Berg, die bei der morgigen EU-Wahl auf Listenplatz 2 hinter Martin Sonneborn für Die Partei kandidiert, bei Wahlkampfveranstaltungen und Lesungen begleitet - und dabei eine schüchterne, verletzliche Person erlebt. "Sollte ein so empfindsamer Mensch an einem architektonisch gruseligen, reizüberfluteten, grauen Ort wie dem EU-Parlament seine Arbeit aufnehmen? Nach der Verabschiedung in Schwerin, bei der Berg sagt, 'jetzt guck doch nicht so traurig', bleibt festzuhalten: Europa würde es nicht schaden. Ob es ihr selbst zu wünschen wäre: nicht sicher."

Volker Weidermann erinnert sich in der Zeit wehmütig daran, als die (nun zum Verkauf stehende, unser Resümee) Villa Unseld noch das Epizentrum des deutschen Geisteslebens bildete. Die Zusammenkünfte dort waren mitunter allerdings auch Schlangengruben, hält Paul Jandl in der NZZ fest: Die "Suhrkamp-Villa war ein Ort der Distinktionsgewinne von Anfang an" und mitunter auch "ein Ort sanfter Verschwörungen".

Weitere Artikel: Fürs "Literarische Leben" der FAZ spricht Ursula Scheer mit der Schriftstellerin Ann Patchett. In der digitalen "Bilder und Zeiten"-Beilage der FAZ erzählt der Schriftsteller Jan Wilm von seinem Besuch in der Toskana auf den Spuren von Gregor von Rezzori. Michael Pilz erzählt in der WamS von dem Tag, den er die Comiczeichnerin Josephine Mark begleitet hat.

Besprochen werden unter anderem Marie Darrieussecqs "Das Meer von unten" (taz), Levin Westermanns "Zugunruhe" (taz), Martin Beckers "Die Arbeiter" (FR), Fang Fangs "Glänzende Aussicht" (FAZ) und Marianna Kijanowskas Gedichtband "Babyn Jar" (SZ).

Und der Standard bringt ein weiteres Gedicht von Clemens J. Setz:

"Einige haben versucht
mit ihr zu verhandeln
durch improvisierte Gesten ..."
Archiv: Literatur

Bühne

An diesem Wochenende beginnt der zweite Wiener Prozess im Rahmen der von Milo Rau kuratierten Wiener Festwochen, angeklagt ist diesmal die FPÖ, als Kronzeuge der Anklage tritt Julian Hessenthaler, Macher des Ibiza-Videos, auf, als Verteidigung die ehemalige AfD-Parteivorsitzende Frauke Petry. Der Standard begleitet das Spektakel per Liveticker, Welt-Kritiker Jakob Hayner nötigt Raus Programm, bei aller Befremdung über den "koketten Flirt mit dem Aktivismus", Respekt ab: "Die Höhepunkte sind Theaterabende, die man so schnell nicht vergessen wird: Carolina Bianchi setzt sich mit K.o.-Tropfen außer Gefecht, Angélica Liddell stürzt sich in einen blutigen Stierkampf, Florentina Holzinger lässt nackte Nonnen tanzen. Tim Etchells klamaukige Slapstick-Nummer tourt durch alle Wiener Bezirke. Die letzten Arbeiten von René Pollesch und Peter Brook sind schon jetzt Theatergeschichte."

Von schlechter Auslastung und internen Querelen am Dortmunder Schauspielhaus seit Julia Wissert die Intendanz übernommen hat, berichten in der SZ Alexander Menden und Uwe Ritzer: "Interne Kritiker fühlen sich ... von ihr abgebürstet. Sie sei 'dogmatischer als mancher alte weiße Mann, der hier Intendant war', zitierte die WAZ einen langjährigen Mitarbeiter. 'Es herrschte eine besondere Form von Druck und Angst, eine Form von weicher Gewalt', sagte ein ehemaliges Ensemble-Mitglied der SZ. Zunächst einverstanden damit, namentlich mit diesem und anderen kritischen Sätzen zitiert zu werden, zog die betreffende Person ihre Zustimmung wieder zurück. So ist es häufig, wenn man mit Wissert-Kritikern spricht. Die Angst ist groß, am Ende als alter weißer Mann oder alte weiße Frau gebrandmarkt dazustehen, der oder die auf eine junge schwarze Intendantin losgeht."

Besprochen werden das von Alia Luque und dem Trio ACE inszenierte "Kein Sportstück" am Staatstheater Karlsruhe (nachtkritik), Gernot Grünewalds Adaption von Thomas von Steinaeckers Roman "Die Verteidigung des Paradieses" an den Münchner Kammerspielen (nachtkritik), João Turchis Inszenierung "Last Supper" in der Kaserne Basel (nachtkritik).
Archiv: Bühne

Film

Im NZZ-Gespräch mit Andreas Scheiner erinnert sich Jessica Chastain unter anderem an ihre beschwerlichen Anfänge als Schauspielerin. Für die WamS hat Gunnar Meinhardt ausführlich mit dem Schauspieler Joe Bausch gesprochen. Pascal Blum verzweifelt im Tagesanzeiger darüber, dass Haifisch-Horrorfilme immer beknackter werden. Eine Britin verklagt Netflix auf 170 Millionen Dollar wegen Verleumdung, weil sie sich in der Stalkerin in "Rentierbaby" wiedererkannt haben will, berichtet Susan Vahabzadeh in der SZ. Johann Thöming (FAZ) und Harald Eggebrecht (SZ) gratulieren Donald Duck zum 90. Geburtstag. Seinen ersten Auftritt hatte er in Disneys "Silly Symphony"-Cartoon "Wise Little Hen":



Besprochen werden die Netflix-Serie "Eric" mit Benedict Cumberbatch (NZZ) und Balojis "Omen" (Standard).
Archiv: Film

Architektur

Serpentine Pavilion 2024 designed by Minsuk Cho, Mass Studies. Design render, exterior view. Photo © Mass Studies. Courtesy: Serpentine.

Der Serpentine Pavilion in den Londoner Kensington Gardens wird dieses Jahr von dem südkoreanischen Architekten Minsuk Cho gestaltet - und in der NZZ ist Marion Löhndorf begeistert von dem "eklektischen Charakter des Entwurfs": "Wie ein stilisierter Komet mitsamt Schweif breitet es sich vom Haupthaus auf dem davorliegenden Rasen zwischen den Bäumen aus. Die Ausläufer des luftigen Baukörpers mit einem leeren, nicht überdachten Innenhof in der Mitte sind jeweils unterschiedlich gestaltet. Das sternförmig angeordnete Ensemble ist eine Ansammlung von fünf miteinander verbundenen Teilen mit verschiedenartiger Anmutung sowie unterschiedlichen Ausmaßen und Aufgaben. Die dunklen Holzrahmen schaffen eine diskrete optische Verbindung. Von einem zwanzig Meter langen, scheunenartigen Bau, der sich von der Serpentine Gallery aus zum Park erstreckt, gehen die übrigen vier kleineren Module des Ensembles aus."

Auf den Bilder-und-Zeiten-Seiten der FAZ erinnert Matthias Alexander an den heute vergessenen Architekten Gerhard Weber, einst einer der bedeutendsten Architekten der Nachkriegsmoderne, der unter anderem für den Deutschlandfunk-Turm in Köln verantwortlich zeichnet: Weber erwies sich "als Könner aller Bautypen und als geschmeidiger Entwerfer. So wurde er in den Fünfzigerjahren zu einem der führenden Theaterarchitekten des Landes. Beim Wiederaufbau der zerstörten Hamburger Staatsoper rhythmisierte er die Hauptfassade geschickt so, dass sie auch das Repräsentationsbedürfnis konservativer Geister befriedigen konnte. In den Innenraum ließ er auf vier Ebenen Logen wie geöffnete Schubladen weit auskragen - eine kühne Idee mit starker Raumwirkung, wie sie ähnlich auch von Wilhelm Riphahn in Köln gewählt wurde. Für das Nationaltheater Mannheim entschied sich Weber innen wie außen für schlichtere Formen."
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Musik

Thomas Lindemann plaudert für die FAS mit der Berliner Rapperin Haiyti. Gereon Asmuth erinnert in der taz an Herbert Grönemeyers vor 40 Jahren erschienes Album "4630 Bochum". Elmar Krekeler erinnert in der WamS an den einst vor den Nazis nach Indien geflohenen Komponisten Walter Kaufmann, der dort nicht nur lange fürs Radio arbeitete, sondern 1940 mit anderen Migranten aus Deutschland den frühen Bollywood-Film "Prem Nagar" auf die Beine stellte. Eben ist eine CD mit Aufnahmen seiner indischen Miniaturen durch das Rundfunksinfonie-Orchester Berlin erschienen:



Besprochen werden St. Vincents Album "All Born Screaming" (FR), ein von Klaus Mäkelä dirigiertes Konzert des Oslo Philharmonic mit dem Geiger Daniel Lozakovich (Standard) und ein neues Album von Bon Jovi sowie eine Doku über die Band (Presse).
Archiv: Musik