Efeu - Die Kulturrundschau

So lösen sie also das Problem

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23.05.2024. Das HKW hat seinen Literaturpreis selbst beschädigt, meint Ronya Othmann im Tagesspiegel. Sie kenne keine einzige Quote für einen Literaturpreis,  erklärt hingegen Mithu Sanyal in der Zeit. Die Filmkritiker liegen Birgit Minichmayr zu Füßen, die in Anja Salomonowitz Biopic als Maria Lassnig Ameisen aus der Badewanne rettet. Der Standard latscht in Wien nackt und derangiert durch Scherbenhaufen von Gregory Crewdson. Und die taz erinnert sich, wie Dieter 'Otze' Ehrlich räudigen DDR-Underground-Punk aus seinen Eingeweiden presste.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.05.2024 finden Sie hier

Literatur

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Die Feuilletons gratulieren Jenny Erpenbeck zum Booker Prize für "Kairos": Auf Zeit Online feiert Volker Weidermann, der Erpenbeck bereits 2021 nach einem Treffen für den Literaturnobelpreis vorschlug, den Roman erneut: "Kairos von Jenny Erpenbeck ist ein Roman und keine Anklageschrift; und Jenny Erpenbeck ist keine Ostalgikerin. Aber der Antrieb, der diesem Roman die Energie verleiht, ist die Kraft der Trauer und des Verlustes. Wie viele Jahre hat man vor allem im Westen den endgültigen Wende-Roman gefordert. Hat sich empört gezeigt, dass dieser historische Epochenbruch nicht sofort Weltliteratur hervorgebracht hat. Aber Literatur hat ihre eigene Zeit. Und es musste ein Land wie die DDR vielleicht erst einmal so restlos verschwinden, um literarisch wieder aufzuerstehen." In der SZ hofft Marie Schmid, dass der Roman eine Debatte über das westdeutsche "Unrechtssystem" nach der Wende anstößt. Die Berliner Zeitung konstatiert mit Erpenbeck, dass "sich an den Spitzen der großen deutschen Feuilletons kein einziger Ostdeutscher finde. Genau wie in den großen Buchpreisjurys des Kairos-Jahrgangs 2022." Ebenfalls in der Berliner Zeitung erinnert Maritta Adam-Tkalec an Erpenbecks Großvater, den Schriftsteller und Theatermann Fritz Erpenbeck, der zu den Mitbegründern der Berliner Zeitung gehörte. In der FR schreibt Judith von Sternburg, im Tagesspiegel Gerrit Bartels.

Nach ihrer Kollegin Juliane Liebert rechtfertigt Ronya Othmann heute im Tagesspiegel-Gespräch die vor einer Woche in der Zeit erhobenen Vorwürfe. (Unsere Resümees) Schon im vergangenen Jahr hätten sie dem HKW im Rahmen der Preisvergabe eine kritische Mail geschrieben, erzählt Othmann, erst eine Woche später kam es dann zu Gesprächen, bei dem das Haus den Eindruck vermittelte, "dass es das Prozedere verbessern will. … Als wir erfuhren, dass wir für die nächste Jury nicht wieder ausgewählt wurden, dachten wir: Okay, so lösen sie also das Problem. Die halten die Kriterien nicht ein - Kriterien, die unter anderem besagen, nicht nach Nationalität oder ethnischer Zugehörigkeit zu bewerten, politische und religiöse Ansichten außen vor zu lassen. Wir sprechen das an, wollen darüber diskutieren - und sind dann einfach draußen. (…) Es wird jetzt immer von der Beschädigung des Internationalen Literaturpreises des HKW gesprochen durch uns. Aber beschädigt hat sich der Preis selbst im vergangenen Jahr, das HKW mit der Missachtung der eigenen Kriterien."

In der Zeit befragt Ijoma Mangold die Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal, die selbst Teil von Jurys war und vor zwei Jahren mit "Identitti" einen satirischen Blick auf identitätspolitische Auswüchse warf, zu den Vorwürfen. Sie habe nicht den Eindruck, dass in Jurys identitätspolitische Kriterien höher gewichtet würden als literarische, widerspricht sie: "Ich habe Juryarbeit, zumindest vom Ergebnis her, oft als wertkonservativer erlebt als die Feuilleton-Berichterstattung. Texten, die ich hervorragend finde, wird oft mangelnde literarische Qualität vorgeworfen, weil die Autoren in irgendeiner Form markiert sind. (…) Ich kenne keine einzige Quote für einen Literaturpreis. Leute, die es schaffen zu schreiben, sind in der Regel bereits privilegiert. Aber wir sollten uns immer mit unseren unsichtbaren Erkenntnisschranken auseinandersetzen. Und da geht es nicht nur um Identität. Was ist etwa mit Leuten, die Texte mit ganz vielen Rechtschreibfehlern einreichen? Diese Texte können ja trotzdem großartig sein."

Weitere Artikel: In der FAZ erzählt Ingrid Gilcher-Holtey, wie Brecht in Paris zum Klassiker wurde. Besprochen werden unter anderem Marek Edelmans "Erinnerungen an das Warschauer Ghetto" (Zeit), Ursula K. Le Guins Opus magnum "Immer nach Hause" (taz), Carl-Christian Elzes Gedichte "panik/paradies" (FR) und Colm Toibins Roman "Brooklyn" (FAZ). Mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr.
Archiv: Literatur

Film


Szene aus: "Mit einem Tiger schlafen" von Anja Salomonowitz. AUT 2024, Forum © coop99 Filmproduktion


Der Malerin Maria Lassnig ging es in ihrer Kunst um "Body-Awarness" - und zwar, lange vor den "Achtsamkeitsexpertinnen des 21. Jahrhunderts", schreibt Josef Grübl in der SZ. Die österreichische Regisseurin Anja Salomonowitz hat ein Biopic über die verschrobene Künsterlin gedreht, deren Bilder erst wirklich erfolgreich wurden, als sie schon recht alt war. "Mit einem Tiger schlafen" ist mehr als ein herkömmliches Biopic, so Grübl, wirklich aufregend wird es aber durch die Hauptdarstellerin, findet er: "Der Film- und Bühnenstar Birgit Minichmayr ist großartig in diesem assoziativen Künstlerinnen-Porträt, mit wenigen Hilfsmitteln (wie etwa Gehstöcken oder entsprechender Garderobe) verkörpert sie Lassnig als Neunzigjährige ebenso wie als Siebenjährige. Das ist Schauspiel in seiner reinsten Form - über Gestik, Stimme und Imagination."

Gunda Bartels teilt im Tagesspiegel ihre Lieblingsszene aus dem Film, in der Lassnig nach einer Ausstellungseröffnung von allen allein gelassen wird: "Dass die reduzierten Schwarzweiß-Malereien namens 'Stumme Formen' den Kunststil Informell in Österreich mitbegründen, kratzt zu der Zeit niemanden. Bis auf die Ameisen. Unter ihnen hat sich offenbar herumgesprochen, dass Maria Lassnig schon in ihren Mädchentagen in Kärnten kein Insekt zerquetscht hat, sondern im Gegenteil Ameisen und Spinnen als Gefährten betrachtet, die es aus Badewannen zu retten gilt. Also kommen die Ameisen angetrippelt und tragen das schwankende Gemälde neben der beladenen Künstlerin her. Es ist das schönste Bild des Künstlerinnendramas, das - quasi in dokumentarischen Einschüben - immer wieder Lassnig-Gemälde zeigt." Taz-Kritikerin Katrin Bettina Müller braucht für die vielen Zeitsprünge im Film etwas Geduld.


Szene aus "Furiosa: A Mad Max-Saga"

Zurück in Cannes: Hier lief der fünfte "Mad Max"- Film an. Fans werden sich freuen, meint SZ-Kritiker Tobias Kniebe, entdeckt im Prequel von George Miller, dass die Vorgeschichte der Motorradfahrenden Rächerin "Furiosa" erzählt, allerdings einige Logiklöcher und findet - so ganz haut das alles nicht hin: "Als Einzelstück ist er eine Studie übers Überleben im Extremzustand, mit interessanten Gedanken über Kampf- und Anpassungsstrategien und die Notwendigkeit der Kooperation unter machthungrigen Psychopathen. Ganz überzeugend ist er nicht. Wie er als Double-Feature mit 'Fury Road' funktioniert, in einer vielstündigen Kinonacht mit Ohropax und höchster Oktanzahl - das werden die Mad Maxianer unter uns nun sehr bald herausfinden."

Im Perlentaucher Thomas Groh ist hingegen überrascht - Dieser "Mad Max" interessiert sich zur Abwechslung mal mehr für Menschen als für Autos: "So viel Plot, so viel persönliches Drama, so viel Shakespeare'sche Tragödie gab es im Franchise nicht mehr seit dem allerersten 'Mad Max' (damals noch der damaligen Gegenwart verpflichtet, die von Punk und Metal informierte Fantasy-Welt, die heute mit dem Franchise in Verbindung gebracht wird, war eine Erfindung des Sequels). War 'Fury Road' ein Glanzstück der Tugend 'Show, don't tell'...ist 'Furiosa' ein Stationendrama, das Millers einst sehr wandelbare, nun aber offenbar durchdefinierte Postapokalypse mit viel World Building ausstattet."

Außerdem: In der FR teilt Daniel Kothenschulte seine Eindrücke aus Cannes. In der taz berichtet Tim Caspar Böhme. Im Tagesspiegel meldet Christiane Peitz, dass das Bundeskabinett den Entwurf zum neuen Filmförderungsgesetz absegnete. Besprochen werden Ali Abbasis Trump-Film "The Apprentice" (Welt, FAZ, tsp) und Jennifer Podemskis Serie "Little Bird" (auf Arte zu sehen) (taz).
Archiv: Film

Kunst

Gregory Crewdsons unbetitelte Familienfotografie. Bild: Freud Museum / Crewdson

Werke von Jeff Wall, Louise Bourgeois oder Cindy Sherman hat das Wiener Sigmund-Freud-Museum zusammengetragen, um in einer kleinen, feinen Ausstellung zu zeigen, wie Freuds Theorie des Unheimlichen Niederschlag in der zeitgenössischen Kunst fand, staunt Stefan Weiss im Standard, etwa mit Blick auf eine Fotografie von Gregory Crewdson: "Es ist eine Familienaufstellung der unheimlichen Art: Vater und Sohn sitzen einander am Esstisch feindselig angespannt gegenüber, die jüngere Tochter blickt verstört ins Leere, die Mutter betritt nackt und derangiert durch einen Scherbenhaufen latschend das biedermeierlich austapezierte Zimmer. Im Hintergrund stapelt sich bedrückend der Abwasch. Unausgesprochene Konflikte, Spannung, Aggression und Frustration, all das liegt förmlich in der Luft. Jedes Detail in Gregory Crewdsons unbetitelter Fotografie einer schrecklich typischen Kleinfamilie öffnet Türen zur psychoanalytischen Interpretation."

Weitere Artikel: Der amerikanische Maler Kehinde Wiley, der 2018 das Porträt von Barack Obama malte, wird des sexuellen Übergriffs beschuldigt. In der Zeit fragt Hanno Rauterberg, ob sich Obama "nach einem anderen Künstler umschauen muss, nach einem, der für ihn nachträglich ein neues offizielles Präsidentenporträt malt, dann hoffentlich einwandfrei in jeglicher Hinsicht?" Im Tagesspiegel freut sich Bernhard Schulz, dass die Berliner Akademie der Künste die Schwejk-Zeichnungen von George Grosz erworben hat und bald austellen wird. Laut Guardian-Recherchen sollen mindestens tausend Werke aus Damien Hirsts "Currency"-Serie entgegen Hirsts Angaben später als 2016 entstanden sein: "Fünf mit der Entstehung der Werke vertraute Quellen, darunter einige der Maler, die die Punkte zu Papier brachten, teilten dem Guardian jedoch mit, dass viele von ihnen in den Jahren 2018 und 2019 in Massenproduktion hergestellt worden seien."

Besprochen werden die Ausstellung "Mehr als Gold - Glanz und Weltbild im indigenen Kolumbien" im Zürcher Museum Rietberg (Tsp) und die Ausstellung "Wand und Figur - Fritz Klemm, Barbara Klemm, Franz Bernhard" im Franz Bernhard Haus in Karlsruhe (FAZ).
Archiv: Kunst

Bühne

Szene aus "Ein Sommernachtstraum"

Patrick Bahners ist in der FAZ vom ersten Moment an fasziniert von Jan Bosses Inszenierung von Shakespears "Ein Sommernachtstraum" am Schauspiel Köln. Der zauberhafte Wald ist hier schon abgeholzt, tote Baumstämme stapeln sich auf der Bühne: "Jetzt könnte man einen gewaltigen Schreck bekommen und geloben, nachher zu Hause gleich eine Spende an die Letzte Generation zu überweisen. Stattdessen bestaunt man den Theatereffekt, den nonchalanten Aufwand des Aufschichtens der starken Scheite, und ist sofort verzaubert von der unheimlich idyllischen Stimmung. Das Waldsterben ist vollendet und daher angehalten. Die Zeit steht still. Doch nein, sie bewegt sich unmerklich, sacht, wiegend, auf Feenzehenspitzen. Es dauert, bis die Reihen sich gefüllt haben, und wo der kollektive Abgang nach dem Ende der Aufführung regelmäßig Stress produziert, obwohl man sich auf die Staus am Gang einstellen kann, da breiten sich hier im Zuge des umgekehrten Prozesses Geduld und Entspannung aus. Rechts vorne auf der Bühne sitzt Puck und singt in Endlosschleife ein Auftrittslied."

Die Feuilletons melden: Marco Goecke wird neuer Ballettchef am Theater Basel. Goecke, der seinen Posten am Staatsballett Hannover wegen der "Hundkot-Attacke" (unsere Resümees) auf eine Kritikerin verlor, hat jetzt eine zweite Chance verdient, meint Dorion Weickmann in der SZ. Im Tagesspiegel beklagt Rüdiger Schaper, dass die Debatte über das Verhältnis von Kunst und Kritiker, die das Ereignis auslöste, schnell versandet ist.

Außerdem: Ingrid Gilcher-Holtey erinnert in der FAZ an eine legendäre Aufführung von Bertolt Brechts "Mutter Courage" in Paris im Jahr 1954, bei der er "größten Erfolg seit Ende der Weimarer Republik" feierte. Besprochen werden Milo Raus Inszenierung der Mozart-Oper "La Clemenza di Tito" bei den Wiener Festwochen (nachtkritik) und Immo Karamans Inszenierung von Kaija Saariahos "Emilie" am Staatstheater Mainz (nmz).
Archiv: Bühne

Musik

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In der taz erinnert Ulrich Gutmair, unter anderem weil mit "Magnetizdat DDR" gerade ein Band über Underground-Punk in der DDR erschienen ist, an die Punk-LP "eNDe. DDR von unten", die erste Veröffentlichung von DDR-Undergroundbands auf Vinyl, auf der unter anderem die Malerin Cornelia Schleime mit ihrer Band "Zwistschermaschine" und die von den Brüdern Dieter "Otze" und Klaus Ehrlich mit Andreas "Dippel" Deubach gegründete Band Schleim-Keim zu hören ist: "Schleim-Keim spielen darauf rabiat-räudigen Punk, sehr einfach, aber voller Wucht. Cornelia Schleime hat deren Schlagzeuger 'bewundert, der durch sein Gedresche den ganzen Scheißhaufen DDR zerlegen wollte'. Die Texte, die der schon vor fast zwanzig Jahren in der Psychiatrie verstorbene Sänger Dieter 'Otze' Ehrlich aus seinen Eingeweiden herauspresste, erzählten nichts anderes: 'Du bist zur Norm geboren. Schaffst du keine Norm, bist du hier verloren.' Das Gegenprogramm hieß: 'Untergrund und Anarchie, Untergrund ist stark wie nie.' Kaum war 'eNDe' erschienen, klopfte die Erfurter Stasi bei Schleim-Keim an. Das focht Otze nicht an, selbst wenn er in U-Haft saß, dirigierte er die Geschicke seiner Band." Wir erinnern uns mit:



Im Tagesspiegel verkündet Frederik Hanssen: Chefdirigentin Joana Mallwitz bekommt ab Sommer 2025 mit Tobias Rempe im Berliner Konzerthaus einen neuen Intendanten an ihre Seite: "In einer Gesprächsrunde, die geradezu an ein Love-In erinnert, schwärmen dann alle Beteiligten vom Gleichklang ihrer Herzen und Hirne: Chefdirigentin Joana Mallwitz sieht sich in allen inhaltlichen wie organisatorischen Fragen ganz auf einer Linie mit Tobias Rempe und der Bratschist Matthias Benker vom Orchestervorstand jubiliert beim Blick in die gemeinsame Zukunft: 'Was willste mehr?' Raus in die Stadt soll das Konzerthaus nach dem Willen des neuen Intendanten streben, Kontakt zu verschiedensten Communities suchen, um dann möglichst viele Menschen ins Konzerthaus zu locken, in diesen 'Überwältigungsort', wie es Joana Mallwitz formuliert."

In der Welt singt Michael Pilz eine Hymne auf die Mundharmonika. Das VAN-Magazin resümiert die in französischen Wochenzeitung Le Canard enchaine von sieben Frauen und Männern erhobenen Vorwürfe der sexuellen Belästigung gegen den französischen Dirigenten François-Xavier Roth. Ebenfalls im VAN-Magazin spricht die Dirigentin und Sängerin Barbara Hannigan, die ab der Saison 2025/26 Chefdirigentin und Künstlerische Leiterin des Iceland Symphony Orchestras wird, über ihre Pläne.

Besprochen werden Billie Eilishs neues Album "Hit Me Hard And Soft" (Zeit), die "Pantonale" im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie (taz) und das letzte Shellac-Album "To All Trains", das jetzt nach dem Tod von Steve Albini erschienen ist (Zeit Online). Wir hören rein:

Archiv: Musik