Efeu - Die Kulturrundschau

Ist er ein Vogel? Ist er ein Freund?

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21.05.2024. Die Filmkritiker genießen in Cannes Blutduschen in Coralie Fargeats Body-Horror-Thriller "The Substance" und balancieren mit Andrea Arnold auf Dachfirsten heruntergekommener Hochhäuser. Das HKW hat die Statuten des Literaturpreises verletzt und die Öffentlichkeit belogen, verteidigt sich Juliane Liebert in der Berliner Zeitung. Das Verhältnis zwischen West- und Ostdeutschland spiegelt den Konflikt der Eliten weltweit wider, erklärt Jenny Erpenbeck in der SZ ihren Erfolg im englischsprachigen Ausland. Monopol erschrickt vor den lebendigen Porträts von Julie Wolfthorn.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.05.2024 finden Sie hier

Film

Szene aus Andrea Arnolds Film "Bird". Foto: Courtesy Festival de Cannes.

Die Kritiker berichten vom langen Festival-Wochenende in Cannes und teilen ihre Highlights: Ein Juwel ist für FAZ-Kritikerin Maria Wiesner Andrea Arnolds Film "Bird", in dem es um die in prekären Verhältnissen aufgewachsene Bailey geht, die eines Tages auf "Bird" (Franz Rogowski) trifft und ihn "fortan entdeckt, wie er auf den Dachfirsten der heruntergekommenen Hochhäuser balanciert. Ist er ein Vogel? Ist er ein Freund? Entstammt er ihrer Fantasie? Arnold hat darauf eine geniale Antwort gefunden. Nicht nur stofflich wagt sie viel, auch formal. Um Baileys Sicht der Welt zu zeigen, wechselt die Kamera manchmal ins schmale Hochformat ihrer Handyvideos, findet Schönheit auf Graffitiwänden, staunt über Wind, der durch Gräser fegt, zeigt Möwen, die in der Luft stillstehen. Diese Augenhöhe mit den Figuren verhindert Herablassung und lotet Menschlichkeit bis zum Grund hin aus - oft heftig, schrecklich, schön und sehr wahr." Auch Andreas Busche ist im Tagesspiegel begeistert von Arnolds Film, eigenwillig sind die Filme der Regisseurin aber schon: "Man muss sich auf ihre Fantasie einlassen oder kann mit ihrem Kino wenig anfangen."

Weiteres aus Cannes: Ziemlich bleich sahen die Zuschauer nach Coralie Fargeats Body-Horror-Thriller "The Substance" aus, schreibt David Steinitz begeistert in der SZ: "Der Film ist eine böse, smarte Satire, neben vielen Schockmomenten gibt es auch sehr komische Szenen. Das blutige Finale, in dem die Demi-Moore-Mutantin mehr oder weniger explodiert vor ihrem TV-Publikum, lässt alle berühmten Blutszenen der Filmgeschichte (die Blutdusche in 'Carrie', die Blutwelle in 'Shining') sehr blass aussehen." In der NZZ lobt Andreas Schreiner Yolande Zaubermans Dokumentarfilm "La Belle de Gaza", der von arabischen Transfrauen erzählt, und den er ganz besonders queeren Palästina-Freunden ans Herz legt.

Kevin Costners "Horizon". Foto: Courtesy Festival de Cannes 2024/Warner Brothers

Kevin Costners Western-Projekt "Horizon" fiel hingegen weitgegend durch: Der erste Teil von Costners auf vier Episoden angelegter "amerikanischer Saga" ist für Welt-Kritiker Hanns-Georg Rodek ein Zeichen, dass der Western nun wirklich tot ist. Der Film erzählt von der "Landnahme" im amerikanischen Westen des 19. Jahrhunderts durch weiße Siedler, aber die Perspektive der Native Americans komme kaum vor, klagt Rodek: "Doch dies ist ein weißer Film, was sich schon im Titel zeigt: Die Siedler haben sich alle wegen eines Flugblatts mit der Überschrift 'Horizon' auf den Treck gemacht. Sie versprechen sich einen offenen Horizont und unendliche, unbesiedelte Weiten. Es ist, als würde man die deutsche Kolonialgeschichte in Südwestafrika weitgehend aus der Sicht der Siedler erzählen, die sich in 'unbesiedelte' Weiten eines neuen Kontinents aufmachen: Ja, da gab es ein paar unerfreuliche Ereignisse, aber im Wesentlichen feiern wir die Pioniere!"

Weitere Artikel: Susan Vahabzadeh bespricht in der SZ Gus Van Sants Serie "Feud" über Truman Capote. Helmut Hartung hat sich für die FAZ den Entwurf für das neue Filmförderungsgesetz angesehen über das sich vor allem die Produzenten freuen können (und sonst niemand). Christiane Peitz, Inga Barthels Claudia Reinhard schauen sich für den Tagesspiegel nochmal die Cannes Gewinner-Filme der letzten fünfzig Jahre an.
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Literatur

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Heute abend wird in London der Booker Prize verliehen, nominiert ist auch Jenny Erpenbeck mit ihrem Roman "Kairos" (Unsere Resümees). Es gebe "ein großes Bedürfnis danach, zu erfahren, welche konkreten Auswirkungen das, was im Moment des Mauerfalls wie ein Happy End aussah, tatsächlich auf die Biografien der Menschen im Osten hatte", versucht sich Erpenbeck ihren außergewöhnlichen Erfolg im englischsprachigen Ausland im SZ-Gespräch zu erklären: "Das, was oft als Konflikt zwischen links und rechts beschrieben wird, ist ja im Grunde genommen weltweit eher ein Konflikt zwischen den Eliten und den abgehängten Rändern der Gesellschaft. Und der findet sich auch im Verhältnis zwischen dem Westen und dem Osten Deutschlands wieder. (…) Durch den Mauerfall haben damals viele Menschen im Osten ihre Arbeit verloren, ganze Industriezweige wurden abgewickelt, Führungspositionen konsequent neu mit Leuten aus dem Westen besetzt. Viele Menschen mussten sich neu orientieren, haben das vielleicht sogar geschafft, sind aber bis heute von der Teilhabe an Entscheidungspositionen ausgeschlossen. Deren Unzufriedenheit ähnelt durchaus der Unzufriedenheit der Trump-Anhänger in den USA." Im Tagesspiegel geht Gerrit Bartels der Frage nach Erpenbecks Erfolg nochmal nach.

Hart wurden Juliane Liebert und Ronya Othmann in den Feuilletons dafür angegangen, dass sie einen Blick hinter die Kulissen der Vergabe des Internationalen Literaturpreises des HKW gewährt hatten (Unsere Resümees). Ihnen sei keine andere Wahl geblieben, als die Interna offenzulegen, rechtfertigt sich Liebert im Gespräch mit der Berliner Zeitung, denn: "im vorliegenden Fall hat das HKW zugesehen, wie die Statuten des Preises offen verletzt wurden. Die betreffenden Mitglieder der Jury haben sich nicht einmal Mühe gegeben, es zu verbergen. Das HKW wird (soweit ich weiß) aus Steuergeldern finanziert. Die Öffentlichkeit darf erwarten, dass es sich an seine eigenen Regeln hält. Wenn es das nicht tut, kann man das nicht einfach ignorieren. Wir haben versucht, das Problem intern zu klären, und das HKW darauf angesprochen. Anschließend hat das HKW erst auf subtilen Druck hin überhaupt das Gespräch mit uns gesucht, und dann den Rest der Jury belogen. Das waren eben keine 'normalen' Machtspielchen, Hahnenkämpfe und Lobbykonkurrenzen, wie sie in jeder Jury vorkommen. Sondern es war die offene Missachtung des Primats der Literatur. Über die man anschließend die Öffentlichkeit belügt, wohlgemerkt."

Derweil tritt die Dramatikerin Enis Maci im Monopol-Magazin nochmal ordentlich gegen Othmann und Liebert, die sie nur "O." und "L." nennt, nach: "Wieso all das erst jetzt? Ist es wirklich die Enttäuschung über die ausgebliebene Juryeinladung 2024? Halten sich nach Björn Höcke nun auch O. und L. für Wiedergängerinnen Julian Assanges? Aus ihrem Text spricht zumindest eins: der unerschütterliche Glaube, unter ominösen, irgendwie ausländischen Kultureliten die vernünftige Minderheit darzustellen, die Mutigen, die jede Wahrheit braucht, um ausgesprochen zu werden, besonders die mehrheitsfähige."

Weitere Artikel: Der Standard führt ein Geburtstagsgespräch mit Martin Pollack zum Achtzigsten. Besprochen werden unter anderem Philipp Felschs "Der Philosoph: Habermas und wir" (FR),  Karl-Markus Gauß' "Schiff aus Stein" (FR), T.C. Boyles Roman "I Walk Between the Raindrops" (NZZ, Tsp), Stephan Wackwitz' "Das Geheimnis der Rückkehr" (taz) und neue Hörbücher, darunter: Charles Dickens' "Sketches by Boz" (FAZ). Mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr.
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Bühne

Szene aus "Maria Stuart" am Müncher Residenztheater. Foto: Sandra Then.

Ziemlich klug findet nachtkritiker Martin Jost, was Nora Schlocker aus Schillers Königinnen-Drama "Maria Stuart" am Residenztheater in München gemacht hat: Hier haben nämlich beide Schauspielerinnen beide Rollen gelernt und jeden Abend wird neu ausgelost, wer wen spielt. Damit kehrt die Regisseurin für Jost heraus, wie ähnlich sich die Feindinnnen eigentlich sind: "Das Spiel der beiden Hauptfiguren ist exzentrisch. Von den fünf Männerrollen, die einen manierierten Höflings-Habitus pflegen, unterscheiden die Königinnen sich deutlich. Stieglers Maria Stuart ringt mit ihrem Körper um Kontrolle wie eine Marionette im Freiheitskampf. Ihr Gesicht zeigt Grimassen, als hätte sie ein verdorbenes Stück Luft abgebissen. Elisabeths Bewegungen spiegeln diejenigen Marias, aber in dem breiten Reifrock, den sie mittlerweile trägt, wirken sie viel gefährlicher für die Umstehenden. Nur in Elisabeths schwachen Momenten hält ihr Kronrat sie wie eine Puppe (Choreografie und Körperarbeit: Sabina Perry)." Auch SZ-Kritiker Egbert Tholl findet das Konzept brillant, leider führt eine kluge Idee "nicht zwangsläufig zu einem sinnlich aufregenden Erlebnis": Das Ganze ist ihm zu "spröde" geraten, das exzentrische Spiel der Königinnen überdeckt häufiger die Nuancen des Textes, bemängelt er.

Weitere Artikel: Das Berliner Theatertreffen ist zu Ende - die Kritiker resümieren: In der SZ ist Peter Laudenbach erleichtert, dass das Festival dieses Jahr "halbwegs unfallfrei" ablief, nur die neue Leiterin Nora Hertlein-Hull hat sich ein bisschen blamiert, findet er, in dem sie die Klimaaktivistin Luisa Neubauer eingeladen hat - dafür nicht einen einzigen Theaterschaffenden aus dem Osten. Im Tagesspiegel ist Rüdiger Schaper sehr zufrieden mit der diesjährigen Auswahl: Besonders das Solo-Stück "Laios" mit Lina Beckmann hat es ihm angetan. Den Alfred-Kerr-Darstellerpreis hat dieses Jahr der Schauspieler Nikita Buldyrski gewonnen - der Tagesspiegel druckt die Laudation von Ursina Lardi.

Außerdem: In der Welt freut sich Manuel Brug, dass es mittlerweile immer mehr Operproduktionen von Frauen gibt und porträtiert die Regisseurin Ilaria Lanzino. Besprochen werden Laura Linnenmanns Adaption von Fjodor Dostojewskis Roman "Die Brüder Karamasow" am Schauspiel Frankfurt (nachtkritik, FAZ, FR), Wilke Weermanns Adaption von Sybille Bergs Roman "RCE. #RemoteCodeExecution" am Theater Münster (nachtkritik), Nora Schlockers Inszenierung von Schillers "Maria Stuart" am Münchner Residenztheater (nachtkritik, SZ), Jan Bosses Inszenierung von Shakespears Stück "Ein Sommernachtstraum" am Schauspiel Köln (nachtkritik), Viktor Bodós Adaption von Kafkas Romanfragment "Amerika" am Schauspiel Stuttgart (nachtkritik), Markus Dietzes Inszenierung des Stücks "Nach Peer Gynt" mit Motiven von Henrik Ibsens Drama am Theater Koblenz (nachtkritik), Tim Etchells Stück "L'addition/Die Rechnung" bei den Wiener Festwochen (nachtkritik), Robert Schusters Inszenierung von "Dibbuk - zwischen (zwei) Welten" nach dem Stück von Salomon An-Ski bei den Ruhrfestspielen (nachtkritik), Felix Rothenhäuslers Inszenierung von Goethes "Faust" am Theater Bremen (nachtkritik), das "Theaterspektakel" "Bau auf! Bau ab" im Humboldt Forum Berlin (taz), die Solo-Choreografie für Tänzer im Rollstuhl "an Accident / a Life" von Mark Brew und Sidi Larbi Cherkaoui beim Schweizer Tanzfestival "Steps" in Basel (FAZ) und Robert Carsens Inszenierung der Mozart-Oper "La Clemenza di Tito" bei den Salzburger Pfingstfestspielen (SZ, NZZ).
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Kunst

Julie Wolfthorn: "Rothaarige Frau". Foto: Privatsammlung

Eine große Wiederentdeckung macht Monopol-Kritikerin Ferial Nadja Karrasch im Verein der Berliner Künstlerinnen 1876, der derzeit der 1944 im Ghetto Theresienstadt umgekommenen Berliner Künstlerin Julie Wolfthorn zum 160. Geburtstag eine Ausstellung in Schöneberg widmet. Solche Porträts hat Karrasch lange nicht gesehen: Bei jedem ersten Blick auf ein Porträt gibt es einen "Moment der Überraschung, der einen überkommt, wenn man einer Person unerwartet begegnet. Er ist dem Erschrecken ähnlich. Die Dargestellten sind so präzise, so charakteristisch wiedergegeben, dass man meinen möchte, diese Menschen des letzten und vorletzten Jahrhunderts zu kennen, ihre Gesichtszüge schon hundertmal gesehen zu haben, ihre Bewegungen vorhersagen zu können. Ja, so lebendig sind Wolfthorns Porträts, ganz gleich, ob sie in Öl auf Leinwand, als Aquarell oder als Lithografie gearbeitet sind."

Besprochen wird außerdem die Ausstellung "Accepting the job. Contant Dullaart" im Berliner Office Impart (Tsp).
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Musik

Der Auftritt des "Jerusalem Quartet" im Amsterdamer Concertgebouw war nach antiisraelischen Protesten aus Sicherheitsgründen abgesagt worden, nach Protesten unter anderem von Martha Argerich und Simon Rattle fand das Konzert schlussendlich doch statt, atmet Geertjan de Vugt in der SZ auf, auch weil drinnen nicht der Protestlärm von draußen zu hören war: "Stattdessen hört das Publikum mit offensichtlicher Begeisterung, wie das Quartett die Musik Ben-Haims spielt, und ein wenig liegt in der Luft: als sei es die letzte Gelegenheit. Es ist künstlerisch vielleicht nicht zu gewagt, von einer Wiederentdeckung zu sprechen: Das Stück, op. 21, das der israelische Komponist 1937 geschrieben hat, vier Jahre nach seiner Übersiedlung ins damalige Palästina, wird in den Niederlanden nicht oft aufgeführt. Es sind darin arabische wie europäische Traditionen verarbeitet. Kennzeichnend für das Jerusalem Quartet, von dem zwei Mitglieder bereits in Daniel Barenboims West-Eastern Divan Orchestra gespielt haben, sind Einflüsse aus nicht-westlichen Kulturen." Das Konzert zum Nachhören:



Weitere Artikel: Im taz-Interview spricht Mèhèza Kalibani, Kurator des Open-Air-Festivals "DIGGAHH" über koloniale Hinterlassenschaften in Hamburg.

Besprochen werden das neue Billie-Eilish-Album "Hit Me Hard And Soft" (Welt), der Auftakt der AC/DC-Europatournee in Gelsenkirchen ("Wie immer. Also absolut fantastisch", urteilt Jakob Biazza in der SZ), Günter Attelns Film "Momentum" über Joana Mallwitz (Tsp), das Festival "Lied Basel" (NZZ) und das neue Vampire-Weekend-Album "Only God Was Above Us", das den FR-Kritiker Stefan Michalzik mit einem ganzen Strauß an Referenzen von Disco, Jazz, Klavierballaden und typischem "Vampire-Weekend-Afrogalopp" umhaut. Wir hören rein:

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