Efeu - Die Kulturrundschau

Schutzengel des Publikums

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30.05.2024. In der taz wirft der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk der Funktionärstochter Jenny Erpenbeck "blödsinnige Ostdeutschtümelei" vor. In Hannover denkt die taz indes inmitten der schaumigen Ejakulationen von Roger Hiorns über faschistische Erlösungsfantasien nach. Die nachtkritik lernt im ersten Wiener Prozess von Milo Rau, welche Arbeit Demokratie bedeutet. Im Standard erklärt die ukrainische Dirigentin Oksana Lyniv nochmal, weshalb sie nicht mit Teodor Currentzis die Bühne teilen wollte. Und die NZZ nimmt Platz in Elon Musks Cybertruck.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.05.2024 finden Sie hier

Literatur

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"Was für ein Humbug", ruft in der taz der DDR-Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk angesichts dessen, dass Jenny Erpenbeck und ihre Fans sich die Tatsache, dass die eben mit dem International Booker Prize ausgezeichnete Schriftstellerin bislang keinen der drei großen deutschen Buchpreise erhalten hat, damit erklären, dass in den Jurys eben keine Ostdeutschen sitzen. Die Auszeichnungen für zahlreiche ostdeutsche Autorinnen und Autoren waren dann wohl ein Versehen? Auch ansonsten kommen in den öffentlichen Wortmeldungen der, wie Kowalczuk betont, in einer Funktionärsfamilie mit vielen Privilegien in der DDR aufgewachsenen Autorin "gleich mehrere Mythen zum Tragen, die in diesem systemtragenden Milieu bis heute wiedergekäut werden. ... Bei ihr erscheint der Osten als Sehnsuchts- und Hoffnungsort, als Zukunftsverheißung, während der Westen als Gegenteil, als dumpf, hoffnungslos, oberflächlich, ganz und gar schrecklich vorkommt. Im Kontext der Ostdeutschlanddebatte bedient sie damit jene nostalgischen und antifreiheitlichen Gefühle, jene blödsinnige Ostdeutschtümelei, die historisch haltlos, politisch irrelevant sind, aber im Grunde einer Sehnsucht nach einem Gestern Platz geben, das auch durch die damit verbundenen Gefühle weder besser noch humaner wird: Mauer bleibt Mauer."

Außerdem: Dass die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung den US-Autor Jonathan Franzen als Mitglied aufgenommen hat, "darf man durchaus als Coup bezeichnen", schreibt Felix Stephan in der SZ. Besprochen wird unter anderem Lize Spits "Der ehrliche Finder" (Zeit Online).
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Kunst

Roger Hiorns Today, Installationsansicht, 2024, Courtesy the Artist, Foto: Volker Crone

"Schön" möchte Bettina Maria Brosowsky (taz) die Ausstellungen, die die Kestnergesellschaft in Hannover derzeit zeigt, nicht nennen: Unter dem Titel "Dolorem Ipsum" zeigt die in New York lebende georgische Künstlerin Anna K. E. zu verstörenden metallischen Klängen mit Marzipan überzogene lebensgroße Hundeplastiken, während der Brite Roger Hiorns in Fotos und Performances nackte junge Männer auf einem großen Flugzeugtriebwerk arrangiert: "Die Akteure sollen in ruhigen Posen antike Skulpturen oder den 'Denker' Auguste Rodins in Erinnerung rufen. Sie werden in der aktuellen politischen Großwetterlage aber wohl eher mit den 'Fleischangriffen' der russischen Armee in der Ukraine in Verbindung gebracht. Die Symbiose aus Kriegsgerät und ihm unterworfenen fügsamen und gelehrigen Jünglingskörpern hat vielfältige philosophische Ausdeutungen erfahren: 'Politische Anatomie' nannte sie der Franzose Michel Foucault. Hiorns spielt aber auch auf die erotische Aufladung an, die etwa der Faschismus in seinen Erlösungsfantasien pervertierte: der Opfertod im Kriegsgefecht als ultimativer Orgasmus. Dazu ergießen sich schaumige Ejakulationen aus kleinen Plastiktanks in den Ausstellungssaal. In einem weiteren Raum im Erdgeschoss hat Hiorns apokalyptische Malereien aufgefahren: jede Menge Penetrationen in und durch ausgemergelte Körper, grau, fast schon Skeletten gleich."

Donald Rodney, The House that Jack Built (1987). Installation view at Spike Island, Bristol. Work courtesy Sheffield Museums and The Donald Rodney Estate. Foto: Lisa Whiting.

Erschüttert kommt Guardian-Kritikerin Hettie Judah aus einer Ausstellung, die das Spike Island in Bristol dem 1998 im Alter von nur 36 Jahren an Sichelzellenanämie verstorbenen Künstler Donald Rodney ausrichtet. Rodney spießte in seinen Arbeiten den Rassismus der britischen Gesellschaft auf und nutzte für seine Werke nicht nur Röntgenbilder, sondern auch die eigene Haut: "Rodney ist vor allem für 'My Mother, My Father, My Sister, My Brother' in Erinnerung geblieben, eine winzige Skulptur eines Hauses aus dem Jahr 1997, die aus getrockneten Hautstücken besteht, die mit Schneidernadeln zusammengehalten werden. Die Details seiner Herstellung sind verblüffend: Er entfernte die Hautschicht aus einem kollabierten Abszess nach einer Hüftgelenkersatzoperation und trocknete sie dann zwischen den Seiten eines Buches. Hier nimmt das Haus selbst ein Miniaturregal in einem großen Rahmen ein und spiegelt die Abmessungen des Partnerfotos 'In the House of My Father' aus demselben Jahr wider, das Rodney zeigt, wie er das Haus in seiner Hand hält. Es ist ein Bild der Verletzlichkeit und der Grenzen des Schutzes - die Haut als Zuhause, die Familie als Zuhause."

Weitere Artikel: Im großen NZZ-Interview entschuldigen sich die Kuratorin Ann Demeester und Philipp Hildebrand, Präsident der Zürcher Kunstgesellschaft, vage für das inzwischen auf 4,5 Millionen Franken gewachsene Defizit des Zürcher Kunsthauses, sehen die Verantwortung aber vor allem bei ihren Vorgängern. Der Eintritt von aktuell 24 Franken (!) soll erhöht werden, aber die Preise sollen trotzdem "inklusiv" bleiben, verspricht Demeester: "Wenn wir die Preise erhöhen, würden wir das ohnehin gestaffelt tun. Als Direktorin ist es mir ein Anliegen, dass sich weiter jeder einen Eintritt ins Kunsthaus leisten kann. Ich sehe mich in dieser Diskussion als Schutzengel des Publikums. Aber der Entscheid wird im Vorstand gefällt. Ausschließen dürfen wir nichts." Für den Tagesspiegel besucht Hilka Dirks die Künstlerin Jorinde Voigt in ihrem Atelier. 

Besprochen werden die Ausstellungen "In der Einheit liegt die Kraft", bei der georgische Künstler im Berliner Atelierraum "Halfsister" mit Performances, Kunst und Lyrik ihre Solidarität mit den Protesten in Georgien ausdrückten (taz) und die "Die Ersten" mit Werken von Peter Wächtler in der Berliner Galerie Lars Friedrich (taz).
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Bühne

Nachtkritikerin Gabi Hift resümiert den ersten Prozess, den Milo Rau in seiner ausgerufenen Freien Republik Wien im Rahmen der Wiener Festwochen inszeniert hat. 69 Menschen aus den 23 Wiener Bezirken diskutierten ein Wochenende lang über Vorwürfe aus der Coronazeit: "Angeklagt war die Republik Österreich. Ankläger und Verteidiger waren echte Staranwälte. Den Vorsitz hatte die frühere Präsidentin des Obersten Gerichtshofs Irmgard Griss. Die Geschworenen wurden aus dem Rat der Republik heraus gecastet und wirkten hier viel eher in ihrem Element, konzentriert und interessiert. Vom ersten Sitzungstag an dominierte die Anstrengung. Alle Argumente, die man hört, kennt man schon. Aber es wird einem dadurch, dass man sich zwingt zuzuhören, richtig bewusst, welche Arbeit Demokratie bedeutet. Wie das ist, abzuwägen, etwas wieder und wieder durchzukauen, dranzubleiben. Zu verstehen. Man spürt eine große Sehnsucht, sich in diesen vernünftigen Bahnen zu bewegen, auf diese Weise zu Entscheidungen zu kommen. In einem solchen Gemeinwesen zu leben, in dem die Vernunft regiert."



Weitere Artikel: Ein ganz besonderes Fan-Girl hielt mit Angela Merkel die Laudatio auf den Schauspieler Ulrich Matthes, der den "Hommage" betitelten Kulturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung erhielt, resümiert unter anderem Peter von Becker im Tagesspiegel, in der nachtkritik schreibt Esther Slevogt. Für die Welt wirft Jakob Hayner einen Blick in die Fortsetzung von Elfriede Jelineks Endlos-Drama "Die Schutzbefohlenen - Was danach geschah", in dem sich die österreichische Schriftstellerin dem rechten Treffen in Potsdam widmet und die er der Inszenierung von Kay Voges am Berliner Ensemble vorzieht: "Kurz nach Veröffentlichung wurde das Personal des Potsdamer Treffens - unterbrochen durch Correctiv-Werbeblöcke - satirisch überspitzt vorgeführt. Viel empörte Selbstgefälligkeit, die einer tieferen Kritik im Weg stand, wie auch bei den großen Demonstrationen gegen Rechts. Von Jelineks Chor darf sich hingegen auch die 'Mitte der Gesellschaft' angesprochen fühlen." Das Deutsche Theater hat sich mit dem entlassenen Geschäftsführer Klaus Steppat vor Gericht auf eine Abfindungssumme von 165.000 Euro geeinigt, meldet Christiane Peitz im Tagesspiegel.

Besprochen werden Milos Raus Genter Inszenierung "Medeas Kinder" im Wiener Jugendstiltheater am Steinhof (Standard), das Mini-Theater-Festival "Uwaga" in Osnabrück (taz) und Christiane Rösingers nun auch beim Impulse-Festival gezeigte "große Klassenrevue" (nachtkritik). Ebenfalls in der nachtkritik spricht der scheidende Impulse-Festivalleiter Haiko Pfost über safe spaces und die Herausforderungen der freien Szene.
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Film

Chris Schinke spricht für die taz mit Guy Nattiv über sein Biopic über die frühere israelische Premierministerin Golda Meir (unsere Kritik, weitere Besprechungen in Tagesspiegel und Welt). Nadine Lange gibt im Tagesspiegel einen Ausblick auf das Xposed Queer Film Festival in Berlin. Demi Moore hat gerade ein kleines Comeback, berichtet Heide Rampetzreiter in der Presse.

Besprochen werden Todd Haynes' "May December" (Perlentaucher, FAS, FAZ, Freitag, mehr dazu bereits hier), die Netflix-Serie "Eric" mit Benedict Cumberbatch (taz), Mahalia Belos "The End We Start From" (taz), Dror Morehs Dokumentarfilm "Kulissen der Macht" (taz, Freitag), Colin und Cameron Cairnes' Horrorfilm "Late Night With the Devil" (Freitag) und Catherine Breillats "Im letzten Sommer", der nun auch in der Schweiz anläuft (NZZ, unsere Kritik vom Januar).
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Design

Elon Musks Cybertruck - ein verpanzertes Ungetüm von einem Wagen - ist derzeit in der Schweiz zu sehen, schreibt Roman Bucheli in der NZZ. Allerdings nur als Ausstellungsobjekt, als Verkehrsmittel ist es in der Schweiz nicht zugelassen und das aus guten Gründen: "Die massive Konstruktion signalisiert im Verbund mit dem Design zweierlei: Egozentrik und Abwehr. ... Der Cybertruck ist für eine Welt gebaut, in der jeder Gang vors Haus ein Himmelfahrtskommando darstellt. Allerdings muss sich in einer Welt, in der Cybertrucks verkehren, jeder Gang vors Haus wie ein Himmelfahrtskommando anfühlen. Elon Musk arbeitet darum wacker an der Herstellung einer Welt, für die sein Ding wiederum die passende Antwort ist. ... Das Ding ist die Antithese zum Citroën DS. Keine Göttin mehr, aber ein Gott, genauer Mars, der Kriegsgott. So gesehen ist der Cybertruck eine Manifestation der Gegenwart und Elon Musk wieder einmal ihr Trendsetter. Das Ding scheint als familientaugliche Version eines gepanzerten Personentransporters wie gemacht für unsere Zeit, die sich gerne apokalyptisch gibt." Zu einer ähnlichen Einschätzung kam bereits Gerhard Matzig in der SZ (unser Resümee).
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Musik

Im Standard-Gespräch mit der ukrainischen Dirigentin Oksana Lyniv geht es noch einmal um den Skandal, dass bei den Wiener Festwochen die von ihr dirigierte Ur-Aufführung von Jevhen Stankovychs "Kaddish Requiem 'Babyn Jar'" mit einem von Teodor Currentzis' dirigiertem Konzert von Benjamin Brittens "War Requiem" gekoppelt werden sollte. Nachdem sie dagegen protestiert hatte, wurde Currentzis' Konzert abgesagt. Von dem Doppelprogramm war sie kurz vor der offiziellen Pressekonferenz informiert worden, sagt sie: "Ich war schockiert. Wir leben ja in der Gegenwart, nicht 20 Jahre nach diesem Krieg, die Bomben fallen jetzt auf unsere Städte, Familien und Kinder werden ermordet. Es kommen die Musikerinnen und Musiker ja aus der Ukraine. Jeder und jede von ihnen ist betroffen, ob man nun jemanden verloren hat, jemanden an der Front hat oder kein Zuhause mehr besitzt. Da sollen wir mit Currentzis zusammengeführt werden, um eine Debatte auszulösen? Das ging nicht. Er ist nicht die Person, mit der ich mich auseinandersetzen möchte. Ich habe persönlich nichts gegen ihn. Ich habe gebeten, diese Konzerte zu entkoppeln, ansonsten würde ich nicht kommen. ... Intendant Milo Rau hat sich entschuldigt, er hat gemeint, es wäre der Versuch einer Friedensutopie gewesen. Das ging nicht."

Spotify geht zu wenig gegen rechtsradikale Musik auf seinem Angebot vor, wirft Thomas Wochnik dem Streamingdienst im Tagesspiegel vor. Insbesondere der Eklat um Gigi D'Agostinos "L'amour toujours" - von Rassisten zu einem rechtsradikalen Propagandasong eingedeutscht - zeige dies an: Wer nach dem Lied suche, lande dank der Kraft der Algorithmen unweigerlich im Rechtsrock-Sumpf. "Der Algorithmus, der den Anblick von 'L'Amour Toujours' neben dem Panzerlied von Kurt Wiehle ganz normal erscheinen lässt, könnte nicht nur manchen Panzerlied-Fan an die Musik D'Agostinos gewöhnen, wenn er ihm nahelegt: Das hören Menschen, die denken wie du. Er könnte auch dem ein oder anderen D'Agostino-Fan das Panzerlied schmackhaft machen.  ... Spotify spielt der Hundepfeifen-Strategie von Rechtsradikalen in die Hände, bei denen es mittlerweile schon fast Tradition ist, popkulturelle Labels für ihre Botschaften zu vereinnahmen, bis diese Labels dann zum Verkünder ebendieser Botschaften werden."

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Auf Backstage Classical antworten Dorothee und Henry C.Brinker auf Thomas Schmitt-Ott, den Orchesterdirektor des Deutschen Symphonieorchesters, der an dieser Stelle über Frauenfeindlichkeit in der Klassik nachgedacht hat. Sein Fazit: Das Patriarchat unterjoche Frauen in der Musik. Dies verdeckt mehr als es erhellt, entgegen die Brinkers: Dabei war es gerade die gescholtene Kirche, die "für die Frauen als musikalische Akteure Spielräume öffentlich-offiziellen Musizierens geschaffen hat, die andernorts so nicht exisitierten. Viele Beispiele finden sich im gerade erschienenen Buch von Arno Lücker '250 Komponistinnen'. Die erste Komponistin notierter Musik: die Nonne Cassia, in Byzanz um 800 eine Meisterin der Gregorianik, bis heute geschätzt. ... Von durchgängiger Frauenfeindlichkeit in der Musikgeschichte zu sprechen, verbietet sich aber auch aus ganz anderen Gründen. Im Digitalen deutschen Frauenarchiv findet sich reiches Material. Der mittelalterliche Minnesang hat es über spätere geistliche und weltliche Madrigale, Motetten und Kantaten-Werke, die Oper, das Kunstlied, Operette und Musical geschafft, die Liebe zur Frau zu dem zentralen Thema der Musik werden zu lassen, bis heute und über alle Sparten."

Außerdem: Zwei Podcasts (einer vom NDR und ab 1. Juni einer von der SZ) arbeiten die MeToo-Kontroverse um Rammstein-Sänger Till Lindemann auf, berichtet Benjamin Knödler im Freitag. Karl Fluch erinnert im Standard an das vor 30 Jahren erschienene Album "Ill Communication" der Beastie Boys. Dem entstammt auch der Hit "Sabotage" und der dazugehörige Musikvideo-Klassiker von Spike Jonze - wobei dieser aus dem "Derrick"-Fundus schöpfende Spoof fast noch toller ist:



Besprochen werden Beth Gibbons' Konzert in Zürich (NZZ) und eine Schönberg-Ausstellung in Wien (Standard).
Archiv: Musik