Efeu - Die Kulturrundschau

Brachial leutselig

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12.06.2024. Die FAZ entdeckt in der Komischen Oper dank Axel Ranisch den Zauber des Normalen. Die SZ schlendert durch Istanbul, wo derzeit das Restaurierungsfieber ausgebrochen ist. Die FR fordert eine klimafreundliche Architektur, die sich nicht nach Verzicht anfühlt. Souleymane Bachir Diagne widmet sich im Standard der Übersetzung als Kunst des Brückenbauens. Ronya Othmann denkt im Perlentaucher über Kino und Lyrik nach.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.06.2024 finden Sie hier

Architektur

Istanbul: historische Gebäude in Beyoğlu © Julian Nyča, Lizenz: 
CC BY-SA 4.0

In Istanbul tut sich wieder etwas in Sachen Kultur, freut sich Raphael Geiger in der SZ. Verantwortlich ist unter anderem der soeben wiedergewählte Bürgermeister Ekrem İmamoğlu, der das Kulturleben und auch das architektonische Erbe nach Kräften fördert: "İmamoğlus Leute restaurieren sich gerade durch die Istanbuler Geschichte. Zwei Jahrtausende. Da ist ein bisschen was liegen geblieben. Man muss sich in Istanbul derzeit anstrengen, die Bauplakate zu übersehen, auf denen 'Miras' steht. Ein osmanisches Industriegelände am Goldenen Horn, Feshane. Eine alte Werft. Ein Gaswerk, Gazhane. Die alte Villa eines Bulgur-Magnaten, Bulgur Palas. Verfallene griechische Häuser in Balat, gleich ums Eck vom 'KaBalat'. Eine Zisterne aus dem sechsten Jahrhundert. Die frühere osmanische Zentralbank. Die byzantinischen Stadtmauern. Alles entweder kürzlich wieder eröffnet, als Galerie, Museum, Bibliothek, oder in Renovierung begriffen. Fast alle Projekte kosten keinen Eintritt, oft liegen sie in ärmeren Vierteln, auch konservativen, in die sich vorher keine Ausstellung moderner Kunst verirrte."

Wie kann angesichts der Klimakrise Wohnen und Bauen neu gedacht werden? Das fragt Robert Kaltenbrunner in der FR. Seine Empfehlung: Weg vom Effizienzdenken und hin zu einem Bauen, respektive einer Baupolitik, die versucht, die Nachfrageseite, also die Wünsche der Verbraucher zu verändern: "Das Entwerfen sollte sich darauf konzentrieren, die Möglichkeit eines komfortablen Lebens mit weniger Kohlenstoffemissionen als wünschenswert darzustellen - durch Designmethoden selbst, aber auch durch die Kultivierung neuer Lebensweisen, anderer Arten der Nutzung von Gebäuden und Räumen mit einem Bewusstsein für die von ihnen produzierten Externalitäten. Beispielsweise müssen wir künftig mit weniger Fläche auskommen. Das bedeutet jedoch, dass diese Flächen mehr leisten müssen, damit sie unserer Lebensvorstellung weiterhin entsprechen. Mit anderen Worten: Das kleine Apartment muss dermaßen gut sein, dass sich kein Gefühl des Verzichten-Müssens einstellt."
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Literatur

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Der franko-senegalesische Philosoph Souleymane Bachir Diagne greift in seinem Buch "Von Sprache zu Sprache - Übersetzung als Gastfreundschaft" die Debatte um die Gorman-Übersetzung noch einmal auf, um allgemein um das Verhältnis zwischen Sprache, Identität, Erfahrung und Übersetzung nachzudenken. Dass Übersetzung an Identität gekoppelt sein muss, lehnt er ab, sagt er im Standard-Gespräch, vielmehr schlägt er vor, "Übersetzung als die Kunst des Brückenbauens und Zusammenbringens von Kulturen und Sprachen zu verstehen. Die Erfahrung der Übersetzung auf Identitätspolitik zu reduzieren, also zu denken, dass die Voraussetzung für Übersetzungsleistung eine gemeinsame Identität ist, missversteht beide Prozesse, die beim Übersetzen stattfinden: nämlich jenen des Hinter-sich-Lassens und jenen des Aufrechterhaltens des jeweils Anderen. ... Ich stehe völlig dahinter, dass Minderheiten ihre Chancen auch im Feld der Übersetzung bekommen sollen, damit ihre Stimmen in allen Bereichen des Literaturbetriebs gehört werden. Aber das darf nicht dazu führen, dass es heißt: Nur noch Schwarze übersetzen Schwarze, nur noch Weiße übersetzen Weiße."

Außerdem: Philipp Haibach erzählt im Freitag von seiner Stippvisite bei der Villa Unseld in Frankfurt, die Suhrkamp nun als letzte Frankfurter Immobilie im Verlagsbesitz veräußern will (unsere Resümees).

Besprochen werden unter anderem Nikolaj Schultz' Essay "Landkrank" (Tsp), Clemens A. Wimmers Biografie über Karl Foerster (FAZ) und Karl Ove Knausgårds "Das Dritte Königreich" (SZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Kunst

Diana Copperwhite - Neural © Diana Copperwhite,
Courtesy of Flowers Gallery

Jonathan Jones besucht für den Guardian die Sommerausstellung der Londoner Royal Academy. Glaubt man ihm, hat die Academy abgewirtschaftet wie sonst nur ihre konservativen Brüder im Geiste, die Tories: "Hier hängen genügend matte Landschaften, um ein echtes Feld zu füllen: bauschige Wolken, gepflegte Gärten. Baumstümpfe bis hinauf zum Pavillon. Es ist, als ob die Auswahlkommission in jeder südlichen Pendlerstadt und jedem Dorf an die Türen geklopft hätte, um Einsendungen zu erbitten. Ach, und vergessen wir nicht die Haustiere. Überall verwöhnte Hunde und Katzen. Einige ansehnliche Werke tauchen wie zufällig auf. Anselm Kiefers kolossaler Holzschnitt von Sonnenblumen mit schwarzen Zentren, Albtraumblüten, die tief ins Papier geritzt sind, durchdringen die Vorstellungskraft wie Geister auf einem Schlachtfeld, die aus den Knochen toter Soldaten sprießen. Lächerlich allerdings, wie das Werk gehängt ist - neben einer Reihe kleiner Stillleben-Blumenarrangements. Diese deutsche Brillanz, umgeben von britischer Leere im 'Fawlty Tower' der Ausstellungswelt. Man fragt sich: Wie haben wir überhaupt den Krieg gewonnen?"

Außerdem: Bernhard Schulz berichtet in monopol über einen Restitutionsstreit um eines der "Sonnenblumen"-Bilder van Goghs.

Besprochen werden die Hanns Schimansky gewidmete Ausstellung "gehen wir mal zu Schimansky rüber" in der Berliner Galerie Inga Kondeyne (Tagesspiegel), die Schau "Note - Mechanismen der Soundvisualisierung" in der Berliner Galerie Schau Fenster (taz), die Gewinnerausstellung des Preises der Berliner Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof (FAZ), die Sex-Ausstellung "Jüdische Positionen" im Jüdischen Museum Berlin (FR).
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Stichwörter: Royal Academy London

Bühne

Uwe Mattheis sitzt für die taz im Publikum, wenn auf den Wiener Festwochen in Form der "Wiener Prozesse" Theatergericht über den Rechtspopulismus gehalten wird. Nicht um autoritäres Besserwissertum geht es hier, stellt Mattheis klar. Denn "die neuen Jakobiner von Wien [sind] durch und durch milde Zeitgenossen. Sie lassen keine Köpfe rollen. Die juridische Dramaturgie im Theater der 'Wiener Prozesse' soll die öffentliche Sprache mäßigen, den Schlagabtausch von Stehsätzen in einen Austausch von Argumenten verwandeln. Wortreiche Rechtspopulisten werden plötzlich ganz still, wenn sie in der direkten Konfrontation der Lebensgeschichte einer Geflüchteten gegenüberstehen. Es geht um den ältesten Effekt des Theaters: Katharsis. In exemplarischer Weise könnte sie deliberativen Prozessen in der Wirklichkeit wieder auf die Sprünge helfen."

Das Timing stimmt bei Axel Ranischs Inszenierung des Gerd-Natschinski-Stücks "Messeschlager Gisela" an der Komischen Oper, freut sich Clemens Haustein in der FAZ, und auch die Pointen sitzen. Und die Schauspieler? Die brillieren sowieso: "Thorsten Merten ist ein Direktor Kuckuck, der zwischen krachenden Macht-Anwandlungen und einer Lassen-wir-den-Laden-mal-laufen-Einstellung mäandert, Maria-Danaé Bansen als Sekretärin Kulicke ist knallhart berlinernde Schnauze, Martin Reik, geborener Schwabe, macht als brachial leutseliger Messewart Priemchen deutlich, dass er Sächsisch als zweite Fremdsprache beherrscht, Gisa Flake als Gisela findet den Zauber im Normalen."

Außerdem: Georg Kasch entschuldigt sich in der nachtkritik für seine eigene Kolumne über queere Stoffe auf ostdeutschen Bühnen. Patrick Wildermann blickt im Tagesspiegel auf das Internationale Roma-Theaterfestival Common Tongue.

Besprochen werden Christian Lollikes Inszenierung von Madame Nielsens "Very Rich Angels" an den Münchner Kammerspielen (FAZ), Ben Johnsons Typenkomödie "Volpone" auf der Darmstädter Theter-Terrasse (FR), Jens Groß' Böll-Adaption "Frauen vor Flusslandschaft" in den Godesberger Kammerspielen (SZ), Georg Dittrichs "Il trovatore"-Inszenierung an der Staatsoper Stuttgart (Welt).
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Film

Zwischen Nähe und Enge: "Ein Schweigen" von Joachim Lafosse

Joachim Lafosse tastet sich in "Ein Schweigen" an die Aufarbeitung eines Missbrauchs an (basierend auf dem Fall des Dutroux-Anwalts, der seinerseits des Besitzes von Kinderpornografie überführt wurde) und ebenso tastet sich Ekkehard Knörer (taz) an diesen Film heran, der seine Zusammenhänge erst allmählich zu erkennen gibt. Lafosse ist ein Regisseur, der "auf engem Raum viel Platz für subtile Darstellungen" gibt. "Emmanuelle Devos und Daniel Auteuil geben ihren Figuren eine enorme Intensität, Devos aus oft großer Nähe, .... Auteil dagegen von Anfang bis Ende auf Abstand, als wäre etwas Entscheidendes noch bei voller Präsenz seltsam verdeckt. ... Dazu die vielen Autofahrten, die geradezu ein Leitmotiv sind. Nicht als Bewegung ins Freie, sondern als Abkapselung gegen das Außen, als Verdichtung von Nähe und Enge, aber so, dass der Blick nie ganz an die Körper herankommt." Andreas Kilb von der FAZ dagegen war enttäuscht: "Das Problem des Films liegt darin, dass er in der Perspektive der Frau keinen Halt findet." Es "ist trotz allem die Geschichte des Anwalts, auch wenn Lafosse sie nicht erzählen will. Um die Leere im Zentrum des Familienporträts zu füllen, hat er den Schauspieler vor die Kamera geholt, der diese Leere besser als jeder andere im Kino verkörpern kann: Daniel Auteuil. Sein Auftritt rettet Lafosses Film davor, in Betroffenheit zu ersticken. Statt eines Unholds spielt er einen Bürokraten, der seine Perversion zu den Akten genommen hat, um sie nachts wieder herauszuholen."

Morgen beginnt in Frankfurt am Main die Reihe "Kino & Lyrik", für die zeitgenössische Lyrikerinnen und Lyriker Filme in Bezug zu ihrer literarischen Arbeit setzen. Die Schriftstellerin Ronya Othmann hat die vom Filmkollektiv Frankfurt organisierte Reihe kuratiert, wir dokumentieren ihren Einführungstext: Lyrik scheint "auf den ersten Blick die literarische Gattung zu sein, die vom Kino am weitesten entfernt liegt." Wie findet beides zusammen? In ihrer eigenen Arbeit "hat das Kino, der Film immer eine Rolle gespielt, in mehrerlei Hinsicht. Das was ich gesehen hatte, schrieb sich ein. Das konnte ein Bild sein, ein Mann trägt seine Frau auf dem Rücken durch den Schnee, ein Hubschrauber durchkreuzt das Blau des Himmels, eine Frau steht, hat die Gardine ein wenig beiseite geschoben, sieht aus dem Fenster und wartet. Das konnte eine gewisse Ästhetik sein, eine Langsamkeit im Erzählen, eine Schnittfolge. Das konnten auch Sätze sein, die eine Protagonistin sagt. Meist blieb das Gesehene und Gehörte eine Weile, bis nur noch die Erinnerung daran übrig war, bis es also von der Erinnerung überschrieben war und bis es durch sie zur Sprache kam. Und das Gesehene und Gehörte brachte weitere Bilder hervor, sie schreiben sich fort."

Besprochen werden Daniela Völkers Dokumentarfilm "Der Schatten des Kommandanten" über die Begegnung zwischen der Auschwitz-Überlebende Anita Lasker-Wallfisch mit den Nachkommen des KZ-Leiters Rudolf Höß (BLZ), David E. Kelleys auf Apple gezeigtes Serien-Remake seines Gerichtsfilmklassikers "Aus Mangel an Beweisen" ("echte Wertarbeit", lobt Matthias Hannemann in der FAZ), der Animationsfilm "Alles steht Kopf 2" (Presse, Standard, Welt). die Disney-Serie "Becoming Karl Lagerfeld" mit Daniel Brühl in der Titelrolle (TA), Xavier Gens' Netflix-Horrorfilm "Im Wasser Serie" über Haifische, die Paris angreifen (Zeit Online) und die Netflix-SF-Serie "3 Body Problem" (Jungle World).
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Musik

München diskutiert seit nunmehr über zwanzig Jahren über ein neues Konzerthaus. Zuletzt schien es, dass Markus Söders Intervention ("Denkpause") die Debatte endgültig auf Eis gelegt hat. Jetzt kommt sie wieder in Gang: "Das Konzerthaus kommt", so die Ansage aus der bayerischen Landesregierung, schreibt Egbert Tholl in der SZ. Allerdings "deutlich abgespeckt" und erst im Jahr 2036 - da werden viele, die "schon lange für das neue Konzerthaus kämpfen, gute Ärzte brauchen, wenn sie die Eröffnung noch mitbekommen wollen." Die Kosten sollen von einer Milliarde auf 500 Millionen Euro runtergehen und das einst geforderte Musikzentrum zu einem bloßen Saal eingedampt werden. "Hier wird Zukunft weniger geplant als vergeigt. Es müsste schon ein genialischer Neuentwurf her, um wenigstens in Teilen das aufzufangen, was einst geplant war. ... Ein Grund dafür, dass Söder nun mit Stolz die neuen Pläne verkündet, ist vermutlich, dass der Freistaat aus dem Erbpachtvertrag für das Areal am Ostbahnhof nicht herauskommt, auf dem das große Konzerthaus geplant war. Und somit derzeit Jahr für Jahr viel Geld für eine Kiesfläche bezahlt."

Außerdem: Christian Wildhagen resümiert in der NZZ den Klavierwettbewerb Concours Géza Anda, bei dem Ilya Shmukler den ersten Preis gewonnen hat: "Welche Delikatesse des Anschlags legt er dann an den Tag!"

Und eine traurige Meldung aus der Nacht: Françoise Hardy ist im Alter von 80 Jahren gestorben. Anders als viele französische Sängerinnen, die auch auf Deutsch sangen, beherrschte sie die Sprache tatsächlich. Hier ein Auftritt im deutschen Fernsehen im Jahr 1970 (der Mann, der zu Beginn ein Loblied auf sie singt, ist im übrigen ein gewisser Patrick Modiano):



Besprochen werden ein Wiener Auftritt der Pianistin Yuja Wang (Standard), ein Auftritt von Keanu Reeves mit seiner Band Dogstar in der Schweiz (TA), Richard Thompsons Album "Ship to Shore" (FAZ) und ein neues Album von Alice Randall (FR).
Archiv: Musik