Efeu - Die Kulturrundschau

Ein Wirbeln und Taumeln zum Tod

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.06.2024. Die Kritiker begeben sich mit der Mussorgsky-Oper "Chowanschtschina" in Berlin auf Zeitreise in die politischen Wirren Russlands im 17. Jahrhundert: Putin taucht in Claus Guths Inszenierung zwar nicht auf, ist aber immer da, weiß der Tagesspiegel. FAZ und Standard hören bei den Wiener Festwochen erschüttert das "Kaddish Requiem 'Babyn Jar'" vom Kyiv Symphony Orchestra unter dem Taktstock von Oksana Lyniv. Die SZ fordert klimaresiliente Städte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.06.2024 finden Sie hier

Bühne

Szene aus "Chowanschtschina" an der Staatsoper Berlin. Foto: Monika Rittershaus.

Auf eine Zeitreise in ein von Machtkämpfen und Gewalt geprägtes Russland des 17. Jahrhunderts begibt sich Tagesspiegel-Kritikerin Christiane Peitz bei Claus Guths Inszenierung der Mussorgsky-Oper "Chowanschtschina" an der Lindenoper in Berlin. Putin taucht hier nie auf, verrät die Kritikerin, trotzdem ist er "omnipräsent". Die Handlung ist entsprechend der historischen Situation ziemlich kompliziert, so Peitz, es geht aber unter anderem um den Moskauer Aufstand, bei dem die Strelitzen, die Palastgarde von Regentin Sofia, den Kreml stürmten und ein Massaker veranstalteten. Mussorgsky lässt den Fürsten Chowanski als vergnügungssüchtigen, brutalen Populisten auftreten, schildert Peitz: Am Ende ist "Fürst Chowanski der Mütterchen-Russland-Volkslieder müde, er bestellt sich Perserinnen. Sie tanzen ihm, den das Volk als 'weißer Schwan' bejubelt, einen Schwanengesang. Die Frauen und auch ein paar Männer drehen sich in langen, weißen Gewändern in Zeitlupe um ihn herum. Folklore als zur Chiffre geronnene Gewalt, Kolonialismus in Slowmotion, in der Choreografie von Sommer Ulrickson: Der Fürst ersticht sie nach und nach alle. Die Tanzkunst, ein Wirbeln und Taumeln zum Tod."

Auch Katharina Granzin ist in der taz ziemlich beeindruckt von diesem Abend, auch musikalisch: "Der Chor agiert toll, mal dunkel russisch raunend, dann sängerisch kraftvoll, ohne zu brüllen. Manche können beim Singen sogar tanzen. Die SängerInnen müssen stets die Präsenz einer echten Bühnenpersona wahren, denn sehr oft streift die Livekamera, deren Bilder in Massenszenen auf den Bühnenhintergrund projiziert werden, über die Gesichter, hebt einzelne aus der Menge hervor." In der SZ bespricht Wolfgang Schreiber das Stück.

In der FAZ resümiert Reinhard Kager den ersten Part von Milo Raus Wiener Festwochen. Er sieht hier viel unreflektiverten politischen Aktivismus und Aufmerksamkeitsheischen. Entschädigen kann ihn immerhin der Auftritt des Kyiv Symphony Orchestra unter Oksana Lyniv (siehe Musik).

Besprochen werden Anne Lenks Inszenierung von Lessings "Emilia Galotti" am Thalia Theater in Hamburg (FAZ), Florentina Holzingers feministische Messe "SANCTA" frei nach Paul Hindemith am Mecklenburgischen Staatstheater in Schwerin (Welt), Pia Richters Inszenierung von Shakespeares "Die Zähmung der Widerspenstigen" am Staatstheater Kassel (FR) und Victor Bodos Inszenierung von "Die gläserne Stadt" am Deutschen Schauspielhaus Hamburg (taz).
Archiv: Bühne

Film

Für den Standard spricht Guy Nattiv mit Valerie Dirk über seinen Biopic über Golda Meir (unsere Kritik). Urs Bühler spricht mit Isabelle Huppert über deren Schauspielkunst. Für Cargo schreibt Matthias Dell einen weiteren, großen Nachruf auf Thomas Heise, in dem es unter anderem ums Schwarzfahren geht.

Besprochen werden Daniel Kötters Essayfilm "Landshaft" über die Region Bergkarabach (SZ, FD), Ron Howards Dokumentarfilm "Jim Henson: Ein Mann voller Ideen" über den "Muppets"-Schöpfer (taz), Matthias Glasners "Sterben", der nun auch in der Schweiz startet (NZZ), und die Apple-Serie "The Big Cigar" über den Black-Panther-Anführer Huey Newton (Jungle World).
Archiv: Film

Musik

Bei den Wiener Festwochen hat das Kyiv Symphony Orchestra unter dem Taktstock von Oksana Lyniv Jevhen Stankovychs "Kaddish Requiem 'Babyn Jar'" aufgeführt. Das 2016 uraufgeführte Stück "ist ein tönendes Monument des historischen Grauens", schreibt Ljubiša Tošić im Standard. Von den Musikern verlangt es "Nuanciertheit im Diskreten ebenso wie drängend umgesetzte Dramatik. Hier treten die Schatten der Toten anklagend hervor und begehren nach einem Gericht, das die Frage nach der Verantwortung stellt. ... Was mit artifiziellen Tonband-Einsprengseln von Wagner-Musik begann, mündete in ebenso schwermütigen wie eindringlichen Situationen, in denen Geiger Andrii Murza und das Orchester - rund um Sprecher Kelz - das von Celan in poetische Worte verwandelte Grauen der Menschenvernichtung in düsteren Klang bannten, in dem sicher auch einige Gedanken an das schlummerten, was der Ukraine gerade angetan wird."

Nineties-Klassentreffen in Berlin: Beth Gibbons, die frühere Sängerin von Portishead, gab eines ihrer äußerst seltenen Konzerte. Und es war intensiv, aufwühlend. "Plötzlich ist alles wieder da", schreibt Laura Ewert auf Zeit Online: "Das Versprechen von Zukunft. Die Enge der großen Freiheit. ... Und die Traurigkeit, diese gottverdammte Traurigkeit, die einen von den anderen zu unterscheiden schien. Alles wieder da, als Beth Gibbons die ersten Töne singt. ... Ihre Hände am Mikro verschränkt, die Schultern schmal, der Kopf dazwischen, ihre Haare vor dem Gesicht, das Licht von unten. Da weinen die Ersten schon." Gibbons' "Ton hat seine eigene, himmlische Frequenz und Reiseflughöhe, man hört nicht einmal die Spur der Membranen und Atemwege, durch die er vermutlich hindurchmuss", schreibt Joachim Hentschel in der SZ. "Ihr Gesang klingt, als wäre er gerade eben mit bereits größtmöglicher Schwermut auf die Welt gekommen, ein zeitentrückter Blues mit großem, dunklem Augenaufschlag."

Außerdem: Für die SZ spricht Moritz Baumstieger mit der iranisch-stämmigen israelischen Sängerin Liraz über deren Hoffnung, dass sich Iraner, Araber und Israelis nach dem Ende des Regimes in Teheran und der Hamas in Frieden begegnen können.  Die Welt hat Elmar Krekelers Bericht von seiner Begegnung mit Elena Bashkirova online nachgereicht. Christian Ihle hat fürs taz-Blog dankenswerterweise zusammengetragen und verdichtet, was für Aufregungen, Turbulenzen und Schockatmungen eine NDR-Doku über die "Hamburger Schule" in den letzten Tagen auf Social Media unter damaligen Wortführern, Szenegängern und Journalisten nach sich gezogen hat.
Besprochen werden Lena Kampfs und Daniel Dreppers Buch "Row Zero" über Machtmissbrauch in der Musikbranche (54 Books), ein Konzert der Wiener Philharmoniker unter Andris Nelsons (Standard) und ein Auftritt von Olivia Rodrigo in Berlin (taz),

In der neuen Folge seiner "Clip//Schule ohne Worte" im Logbuch Suhrkamp präsentiert Thomas Meinecke "zehn afrikanische Schallplatten, die ich letzte Woche bei Ketu Records in Marseille erwarb":

Archiv: Musik

Kunst

In einem Interview mit der FAZ drückte Diandra Donecker, Geschäftsführerin und Partner des Auktionshauses Grisebach, ihr Bedauern darüber aus, dass das Karlsruher Skizzenbuch Caspar David Friedrichs unter Kulturgutschutz gestellt und damit dem internationalen Leihverkehr entzogen wird. Darauf antwortet nun Charlotte Klonk, Professorin am Institut für Kunst- und Bildgeschichte ebenfalls in der FAZ. Dass Donecker nun auf eine Klage des Privateigentümers hofft, findet sie befremdlich - vor allem, weil das Kulturgutschutzgesetz seit 2016 "privateigentümerfreundlicher ist denn je", wie sie schreibt: "Am Zweck der Eigentumsbeschränkung hat sich im Gesetz von 2016 nichts verändert. Im Gegenteil, der neue Tatbestand, der den Nachweis einer besonderen identitätsstiftenden Bedeutung für das kulturelle Erbe der Nation verlangt, hat den Kreis der eintragungsfähigen Objekte zu Ungunsten der Interessen der Museen enorm eingeengt. Das ihnen vor 2016 von einigen Bundesländern förmlich zuerkannte Recht auf Antragstellung insbesondere für Dauerleihgaben wurde ausdrücklich wieder entzogen."

Weiteres: Ingo Arend besucht für die taz die sechste Ausgabe einer "klitzekleinen" Kunstbiennale in südostanatolischen Stadt Mardin. Leider, so stellt er fest, hat diese Biennale ihren gesellschaftskritischen Impetus hinter sich gelassen: "Die Biennale in Mardin ist seit ihrem Beginn vor 14 Jahren ein markantes Beispiel zivilgesellschaftlicher Selbstbehauptung an der türkischen Peripherie gegen einen Staat, der das kritische Potenzial der Kunst mit äußerstem Misstrauen beäugt. Ihre jetzige Entwicklung steht exemplarisch für viele, aus kritischen Anfängen geborene Biennalen. Irgendwann überdecken Tourismus und der Mythos des Ortes alles. Unter dem Slogan 'die Magie Mardins' mutiert die Biennale zu einem exotischen Spektakel in einem Gebiet des permanenten Ausnahmezustands."

Besprochen wird die Ausstellung "Caspar David Friedrich. Lebenslinien" im Pommerschen Landesmuseum in Greifswald (FAZ) und die "Ray Echoes Identity" im Fotografie Forum Frankfurt (FR).
Archiv: Kunst

Architektur

Gegen die Gefahren das Klimawandels müssen endlich die nötigen Maßnahmen in Architektur und Städtebau ergriffen werden, fordert Gerhard Matzig in der SZ. Längst ist bekannt, was getan werden muss, doch meistens beschränken sich die Reaktionen bei Überschwemmungen wie im Ahrtal 2021 auf "habituelle Gummistiefel-Kondolenzen von Söder bis Scholz". Stattdessen müssen Dörfer und Städte endlich klimaresilient gebaut werden: "Aufgeständerte Bauten. Schwimmfähige Bauten. Kellerlose Häuser. Abgedichtete Keller. Keller ohne Ölheizungen darin. Grüne Dächer. Konstruktionssysteme, Materialvarianten und Bauweisen, die in Zeiten von zu viel Wasser das Element - es bedeutet eigentlich: Leben - speichern, um es in Zeiten von zu wenig Wasser abzugeben. Auch eine Idee: nicht immer betondichtere, sondern immer grünere Städte, ja 'Schwammstädte'. Notwendig ist auch eine Abkehr von immer mehr Siedlungsraum an immer falscheren Orten und eine Abkehr von immer mehr Versiegelung zugunsten von mehr Acker- und Wiesenlandschaften."
Archiv: Architektur

Literatur

Kristina Thomas berichtet im Tagesspiegel von ihrem Besuch beim Arsenal-Buchfestival in Kiew, das mit 35.000 Besuchern und mehr als einhundert Verlagen beeindruckende Zahlen vorweisen kann - auch wenn sich im Vorfeld ein Schatten über die Veranstaltung legte: Russische Luftangriffe trafen in Charkiw "eine der größten Druckereien der Ukraine". Sie ist "für etwa dreißig Prozent des gesamten Buchdrucks in der Ukraine verantwortlich." Deshalb "ist das zentrale Ausstellungsstück ... in diesem Jahr ein Tisch mit verkohlten Büchern des Verlags Vivat. Es sind Exemplare der Bücher, die extra für die Buchmesse gedruckt und mit dem Angriff zerstört wurden. Der Geruch verbrannten Papiers liegt in der Luft. Ein fünfjähriger Junge fragt seinen Vater, was es damit auf sich hat. 'Das sind verbrannte Bücher, die von einer russischen Rakete zerstört wurden', antwortet er ihm ohne Umschweife."

Larissa Beham gibt in der SZ nach einem entsprechenden Experiment fürs Erste Entwarnung: Noch lässt sich mit einer K.I. James Joyce nicht nachbilden - oder zumindest nichts, was über einen bloßen Abglanz der Werke des irischen Schriftstellers hinauskäme: "Das sind keine Neuschöpfungen auf Augenhöhe mit dem Original, sondern hier wird aus Klischees und vorhersehbaren Gefühlswelten ein pseudo-poetischer Erlebenshorizont geklittert, der nie seinen sterilen Charakter verliert. Aus den Chatbots sprechen also bis auf Weiteres noch die 'stochastischen Papageien', die Text- und Sinnelemente der Wahrscheinlichkeit ihrer sonst üblichen Verwendung nach aneinanderreihen, gefühllos und berechnend, im Wortsinn."

Weitere Artikel: Ralph Trommer (taz) und Andreas Platthaus (FAZ) resümieren den Comicsalon Erlangen. Mircea Cărtărescu, Lisa Eckhart, Franz Schuh und Birgit Birnbacher gratulieren im Standard dem Zsolnay Verlag zum 100-jährigen Bestehen. Gerhard Strejcek erinnert im Standard an die beschwerliche Überführung von Franz Kafkas Leiche von Wien nach Prag.

Besprochen werden unter anderem Mathias Énards "Tanz des Verrats" (FR), Saša Stanišićs Erzählband "Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Giesskanne mit dem Ausguss nach vorne" (NZZ), neue Comics zum 100. Todestag Kafkas (Tsp) und Anka Muhlsteins Biografie über Camille Pissarro (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur