Efeu - Die Kulturrundschau

Meine Herde, Deine Gier

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05.06.2024. Auch in den Hamburger Deichtorhallen meint Kunstfreiheit vor allem Hauptsache gegen Israel, ärgert sich die FAZ. Die SZ lernt im British Museum Aufregendes über das Liebesleben Michelangelos. Der Tagesanzeiger erlebt die nackte Existenzangst in der Kevin-Costner-Serie "Yellowstone". Die FAZ wohnt in Hamburg dem Befreiungsschlag von Kent Nagano als Operndirigent bei. Die SZ bejubelt indes die noble Leidenschaft des Bratschisten Timothy Ridout.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.06.2024 finden Sie hier

Film

Ihr krieg uns hier nicht raus, das ist unser Haus: "Yellowstone"

Im Tagesanzeiger versucht Marie Schmidt, den sagenhaften Erfolg der Neowestern-Serie "Yellowstone" mit Kevin Costner aufzuschlüsseln. Suchte der klassische Western noch Richtung Horizont nach der Weite der Welt, handelt diese Serie über eine Ranch "von der letzten Verteidigung einer kleiner werdenden Welt im Angesicht ihrer ständig drohenden Zerstörung." Der "Zirkelschluss der Gewalt imprägniert jede Sekunde jeder Folge, jedes Detail der Kulisse, jede Totale der unbändigen Natur Montanas, jedes Komma des Drehbuchs. Das Pathos der Dialoge lässt jede ihrer geraunten Sentenzen wie ein Fallbeil sausen." So bricht die Serie die politische Wirklichkeit der gegenwärtigen USA "herunter auf Minimalelemente des amerikanischen Mythos - ein Pferd, eine Waffe, ein Mann, eine Frau, meine Herde, deine Gier, in meine Fresse, in deine Fresse - und permutiert sie, bis die nackte Existenzangst dahinter nicht mehr zu verdrängen ist."

Außerdem: Christoph Heim ärgert sich im Tagesanzeiger über das diesjährige Plakat des Filmfestivals von Locarno. Martin Walder gratuliert in der NZZ dem Schweizer Regisseur Richard Dindo zum 80. Geburtstag. Aljoscha Begrich schreibt im Freitag zum Tod von Thomas Heise.

Besprochen werden Leandro Kochs und Paloma Schachmanns halbdokumentarischer Film "Das Klezmer-Projekt - In mir tanze ich" ("charmant", findet Katharina Granzin in der taz), Nikolaj Arcels Historiendrama "King's Land" mit Mads Mikkelsen (Tsp), Katrin Rothes Legetrickfilm "Johnny & Me - Eine Zeitreise mit John Heartfield" (Standard), Güner Balcis ZDF-Porträtfilm "Die Nummer auf meinem Arm" über den ostfriesischen Shoah-Überlebenden Albrecht Weinberg (FAZ), der vierte Teil der "Bad Boys"-Actionkomödienreihe mit Will Smith (Welt) und die neue "Star Wars"-Serie "The Acolyte" (Welt).
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Stichwörter: Western, Costner, Kevin, USA

Literatur

Nora Zukker sorgt sich beim Tagesanzeiger über die Zukunft der Solothurner Literaturtage. Der französische Comiczeichner Philippe Fenech füllt den Fragebogen des Tagesspiegels aus.
Herwig Finkeldey liest für Tell Franz Kafkas "Brief an den Vater". Bernd Rheinberg denkt bei den Salonkolumnisten über die Aktualität George Orwells nach.

Besprochen werden unter anderem Colm Tóibíns "Long Island" (NZZ), eine Ausstellung zur jiddischen Literaturgeschichte in Oldenburg (FAZ), Louise Pennys Krimi "Ein sicheres Zuhause" (FR), Judith Herzbergs "Gedichte aus den Jahren 1999 - 2024" (FAZ) und Jean-Philippe Toussaints "Das Schachbrett"  (SZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Bühne

Staatsoper Hamburg: Saint François d'Assise. Jacques Imbrailo, Anna Prohaska, Audi Jugendchorakademie, Vokalensemble LauschWerk. Foto: Bernd Uhlig

Olivier Messiaens "Saint François d'Assise" ist laut FAZ-Autor Jürgen Kesting weniger eine Oper denn ein regelrechtes Mysterium, verehrt, aber auch gefürchtet, vor allem von den Musikern, die das Stück aufführen sollen. Georges Delnon und Kent Nagano haben an der Hamburger Staatsoper die Herausforderung im Rahmen des Internationalen Musikfests angenommen. Die Inszenierung ist nicht frei von Sakral- und Sozialkitsch, lesen wir, aber musikalisch gerät die Darbietung "zum Befreiungsschlag Naganos als Operndirigent. Das Orchester war auf die maßlosen Herausforderungen der Partitur glänzend vorbereitet. Das besondere Charakteristikum des Raumklangs, die früher oft kritisierte Trennschärfe, sorgte selbst dieses Mal für exzellente Durchhörbarkeit. Ein Paradox nur: dass die exzessiven Ballungen des finalen Alleluja zur Tortur der Ohren wurde. Unaufgelöst blieb das im Ritual des Werks liegende Dilemma: sein Glaubens-Dogmatismus. Die Begegnung mit einem Aussätzigen, der durch den Liebeskuss geheilt wird, oder das Nacherleiden der Stigmatisierung als Ausdruck von Gottesliebe gehören zu den Zumutungen, denen Messiaen seine Hörer aussetzt."

Ebenfalls für die FAZ besucht Wiebke Hüster einen Tanzabend an der Semperoper Dresden. "Classics" ist das Programm überschrieben, gezeigt wird jedoch kein narratives Ballett aus dem 19. Jahrhundert, sondern neuere Stücke, unter anderem Balanchines "Serenade". Kann man da von "Klassikern" sprechen? Man kann: "Ballette sind dann Klassiker, wenn in ihnen alles aus einem Grund heraus geschieht, wenn sie eine innere Logik offenbaren, also auch Überraschungen, Wendepunkte. 'Serenade' führt das vor. Wenn zu Beginn siebzehn Frauen mit parallel aufgestellten Füßen in einer rhombenartigen Formation über die Bühne verteilt stehen und mit himmelwärts weggestreckten Händen die Sonne abschirmen zu wollen scheinen, dann setzt diese ungewöhnliche Haltung gleich den Ton, interessant, geheimnisvoll, vieldeutig."

Außerdem: Christine Lemke-Matwey stellt auf Zeit Online die Opernfestspiele Heidenheim vor, die dieses Jahr ihren 60. Geburtstag feiern. Auf nachtkritik erinnert Wolfgang Behrens an den Kritiker Günther Rühler, der dieser Tage 100 Jahre alt geworden wäre. Sandra Luzina blickt im Tagesspiegel voraus auf das Berliner Festival Tanz im August.

Besprochen werden das Stück "The Making of Berlin" der belgischen Gruppe Berlin am Wiener Theater Akzent, als Teil der Wiener Festwochen (Standard), Christiane Jatahys ebenfalls auf den Wiener Festwochen aufgeführte "Hamlet - Dans les plis du temps" (FAZ), in einer Dreifachbesprechung die beiden erwähnten Festwochen-Stücke sowie als drittes die belgische Produktion "Medeas Kinderen" (taz), Nora Abdel-Maksouds Stück "Jeeps" am Staatstheater Darmstadt in der Inszenierung von Jessica Weisskirchen (FR), eine auf Musikrevue getrimmte Aufführung von Shakespeares "Richard III" an der Kammeroper Wien (Standard) und Modest Mussorgskys "Chowanschtschina" an der Berliner Staatsoper unter den Linden (nmz)
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Kunst

In der FAZ kommt Alexandra Wach auf die Schau "Survival in the 21st Century" in den Deichtorhallen Hamburg zurück, die angelegt als "Introspektion einer Zivilisation am Abgrund", auch eine Arbeit des amerikanischen "New Red Order"-Kollektivs enthält: Das Kollektiv zieht in einem Manifest eine direkte Linie vom Völkermord an den nordamerikanischen Ureinwohnern zum Vorgehen Israels in Palästina, wobei andere Akteure wie die Hamas und der Iran selbstverständlich ausgeblendet werden. (Unser Resümee). Auch Wach ärgert sich über die windelweiche Halbdistanzierung des Museums von dem Exponat, das sich auf einer Wandtafel auf die Kunstfreiheit beruft: "Argumentativ längst ein Totschlagargument, mit dem jeder aktionistischen Entgleisung die Tür in staatliche Räume geöffnet werden kann. Nach dieser Logik der angeblich hoch gehaltenen Vielstimmigkeit müssten gerade in einer Ausstellung, die zum Eingreifen und Zuhören der anderen Seite aufruft, Kunstwerke jeder politischen Couleur zur Diskussion gestellt werden, von der Leugnung des Klimawandels bis zur Kreml-Propaganda. Das gilt auch für künstlerische Reaktionen auf das Massaker vom 7. Oktober, nach denen man offenbar gar nicht erst gesucht hat."

Michelangelo Buonarroti (1475-1564), the punishment of Tityus. Black chalk on paper, 1532. Royal Collection Trust / © His Majesty King Charles III 2024

Viel Freude hat Alexander Menden in der SZ an der Ausstellung "Michelangelo - the last decade" im Londoner British Museum. Großartige Vorstudien zu Michelangelos berühmtester Arbeit, dem Jüngsten Gericht in der Sixtinischen Kapelle, gibt es hier zu bewundern. Außerdem wird die Beziehung des Künstlers zu seinem Zeichenschüler Tommaso de' Cavalieri beleuchtet. "Es ist ziemlich klar, dass der Künstler sich in den jungen Cavalieri verliebt hatte. Michelangelo schickte schwärmerische Briefe und Sonette mit den Zeichnungen, die sein Schützling kopierte und kommentierte. Die Darstellung des Riesen Tityos, dem zur Strafe für einen Vergewaltigungsversuch ein Adler die Leber herausreißt, ist eine weitere grandiose Körper- und Bewegungsstudie. Zugleich ist der animalisch auf dem daliegenden Körper hockende Adler unverkennbar erotisch aufgeladen. Der heidnische Mythos gibt dem Künstler Gelegenheit zu einer solch transgressiv erscheinenden Bildsprache."

Außerdem:Saskia Trebing berichtet in monopol über Neuerungen beim Preis der Nationalgalerie, der dieses Jahr gleich an vier künstlerische Positionen vergeben wird. Ebenfalls für monopol unterhält sich Philipp Hindahl mit der Künstlerin Haley Mellin.

Besprochen werden die Schau "Sex. Jüdische Positionen." im Jüdischen Museum Berlin (Berliner Zeitung), "Glanz und Elend. Neue Sachlichkeit in Deutschland" im Wiener Leopold Museum (NZZ), Pınar Öğrencis Schau "Glück auf in Deutschland" in der Galerie Tanja Wagner (taz Berlin), die Ausstellung "Andreas Mühe. Bunker - Realer Raum der Geschichte" im Berliner Kunsthaus Dahlem (Tagesspiegel) sowie Bridget Rileys Ausstellung "Circles and Discs" im Kurt Tucholsky Literaturmuseum Rheinsberg (Tagesspiegel).
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Musik

Standard-Kritiker Ljubiša Tošić lässt sich vom Hype um den Jazz-Saxofonisten Kamasi Washington, der mit "Fearless Movement" gerade ein neues Album veröffentlicht hat, spürbar nicht beeindrucken: Alles gut bei Coltrane abgeschaut, findet er, doch "instrumentaltechnisch kann Washington gerne noch für ein paar Übungsstunden an die Coltrane-Uni zurückkehren. ...  Dafür ist der Wuschelkopf ein wahrer Professor der Selbstinszenierung." Dass Washinghton mit der Geburt seiner Tochter sich der eigenen Sterblich- wie Unsterblichkeit bewusst wurde, nimmt Tošić ihm gerne ab, "die musikalischen Auswirkungen dieser Erkenntnis sind jedoch keinesfalls gewaltig. ... Der Eröffnungstrack 'Lesanu' setzt mit Beschwörungsformeln gebetartig ein. Umwölkt von orchestraler Orgiastik, die in tanzbare Grooves mündet, über denen eine nette Melodie schlurft, hebt der Saxofonist schließlich in expressive Sphären ab. ... Dass er die große Zukunft des Jazz ist, muss Washington allerdings noch beweisen."



Harald Eggebrecht erfreut sich in der SZ am Wohlklang im Spiel des jungen Bratschisten Timothy Ridout, der morgen und übermorgen in München mit den BR-Symphonikern und Simon Rattle zu erleben ist. "In seinen besten Momenten erfasst ihn ein, man kann es nicht anders sagen, romantisches Sehnen, das seinem Spiel noble Leidenschaftlichkeit und wunderbar sprechende Phrasierungsdeutlichkeit verleiht. Ridout vermag zu erzählen, darzustellen, zu charakterisieren und stilistisch zu differenzieren je nach Musik. Also klingt Telemann bei ihm selbstverständlich historisch informiert, aber nie verliert er dabei die Sinnlichkeit seines sich am Register der tiefen Altstimme orientierenden Tons und die Fähigkeit, melodisch und strukturell große Bögen zu spannen. ... Bei Béla Bartóks Viola-Konzert wiederum bleibt er rhythmisch streng und expressiv ohne Larmoyanz." Hier ein Eindruck aus seiner aktuellen CD, eine Hommage an den Bratischisten Lionel Tertis.



Außerdem: Im Podcast von Backstage Classical ärgert sich die Dirigentin Marie Jacquot darüber, dass Dirigentinnen immer noch oft ganz besonders betont als Frau angekündigt werden: "Wir kündigen Christian Thielemann doch auch nicht an mit dem Zusatz, dass da heute ein Mann dirigiert." Der Hamburger Kultur- und Mediensenator Carsten Brosda freut sich in der SZ, dass Jimmy Webb sein erstes Konzert in Deutschland überhaupt in der Hamburger Elbphilharmonie spielen wird.

Besprochen werden die von Oksana Lyniv dirgierte Aufführung von Jevhen Stankovychs "Kaddish Requiem 'Babyn Jar'" durch das Kyiv Symphony Orchestra bei den Wiener Festwochen (FAZ, mehr dazu bereits hier) und ein neuer Song von Eminem (Presse).
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