Efeu - Die Kulturrundschau

Das unerschöpfliche Berennen aller Borniertheitswände

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07.06.2024. Weiter geht es bei der Documenta mit halbgaren Selbstverpflichtungen, berichtet die FR. Die Band Laibach denkt in der Welt darüber nach, wie Europa besser scheitern kann. Unisono wird von den Zeitungen der bevorstehende Verkauf der Suhrkamp-Villa in Frankfurt bedauert, einst geistiges Zentrum der Bundesrepublik. Was passiert, wenn Steuerfahnder in das Leben der Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek eindringen, schaut sich der Standard in der Wiener Volksbühne an.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.06.2024 finden Sie hier

Kunst

Lisa Berins ist für die FR zum Kulturausschuss des Bundes nach Berlin gereist, der mal wieder die Documenta zum Thema hatte. Der hessische Kunst- und Wissenschaftsminister Timon Gremmels, der Kasseler Bürgermeister Sven Schoeller und Claudia Roth haben sich jetzt darauf geeinigt, dass offene Kommunikation und Möglichkeiten zur "Kontextualisierung" die bisherigen Probleme schon lösen werden: "Was tun, wenn antisemitische Bildsprache trotz der Bekenntnisse auf der nächsten Documenta auftaucht? Gremmels: 'Unser Ziel ist es, dass wir 2027 im Sommer eine Documenta haben, auf der zeitgenössische Kunst im Mittelpunkt der Diskussion steht. Wohlwissend, dass es bei allen Beschlüssen, die wir treffen, nie auszuschließen ist, dass am Ende des Tages diese Ausstellung nicht für andere Zwecke missbraucht werden kann.' Man sei jetzt aber so aufgestellt, dass es 'im Fall der Fälle' die richtigen 'Instrumentarien' gebe. Vor allem bestehe die Möglichkeit zur Kontextualisierung, wie Schoeller ausführt."

Vincent van Gogh: Sternennacht, 1888. Musée d'Orsay/Fondation Vincent van Gogh.


Endlich kehrt Vincent Van Goghs 'Sternennacht' an ihren Entstehungsort zurück, freut sich Marc Zitzmann in der FAZ. Für drei Monate wird das Gemälde in der Fondation Vincent van Gogh in Arles gezeigt und in einen Dialog mit zahlreichen anderen Künstlern gebracht: "'Van Gogh et les étoiles' ist eine Ausstellung, die Epochen und Medien übergreift. Derlei Schauen sind auch in Frankreich seit geraumer Zeit beliebt; allzu häufig zeitigt Assoziationswut darin sterile Beliebigkeit", was man von der Direktorin der Fondation Vincent van Gogh Arle Bice Curiger nicht sagen könne: "Sie hat dem Haus ein ureigenes Profil verliehen."

Weitere Artikel: Till Briegleb greift in der SZ noch einmal die Debatte um die Schau "Survival of the 21st Century" in den Hamburger Deichtorhallen auf (unsere Resümees): Für ihn ist das "Machtspiel" des Kollektivs "New Red Order" zwar ärgerlich, begräbt aber nicht die ganze Ausstellung unter sich. Künstlerinnen und Künstler aus dem Osten machen mit einer Plakataktion auf die anstehende Europawahl aufmerksam (FR). Das Kasseler Documenta-Archiv erhält mit Boris Nieslonys "Schwarzer Lade" eine wichtige Schenkung im Bereich der Performance-Kunst (FR).

Besprochen wird: "Ich bin ich/I am me", die erste Paula Modersohn-Becker-Retrospektive in den USA, in der New Yorker Neuen Galerie (FR).
Archiv: Kunst

Musik

In ihrer Musik und Kunst arbeitet die Band Laibach mit der Ästhetik des Totalitarismus , die sie drastisch überhöht und damit subversiv untergräbt. Im Welt-Gespräch anlässlich der Europatournee denkt Ivan Novak, der Sprecher (aber nicht der Sänger) der Band, dazu passend über Wohl, Wehe und Zukunft der EU nach, die er sich "stark und weise" wünscht und die "in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht vielleicht die Strategie der Blockfreiheit des ehemaligen Jugoslawien übernehmen könnte. ... Historisch gesehen fällt Europa ständig auseinander, und es scheint, als sei das Auseinanderfallen die Art und Weise, wie Europa sich konstituiert. Jedes Mal, wenn es versucht, sich neu zu konstituieren, scheitert es besser und kommt stärker zurück. Diese Entwicklung war in der Vergangenheit sicherlich nicht friedlich und wird es wahrscheinlich auch in Zukunft nicht sein. Aber wir hoffen aufrichtig, dass die Idee eines geeinten Europas gerettet werden kann."

Thomas Bärnthaler ist in der SZ hin und weg vom Album "Diamond Jubilee", das Patrick Flegel unter seinem Künstlernamen Cindy Lee ohne die üblichen Streamingdienste, Labels und CD-Pressungen im Rücken als Youtube-Video samt Downloadlink veröffentlicht hat und das seit einer jubelnden Besprechung auf Pitchfork komplett durch die Decke geht. Diese Musik "ist besitzergreifend wie der Gesang der Sirenen, trotz des durchweg gemächlichen Tempos, und trägt einen weit fort in einen Echoraum, wo verloschene Sounds und Genres des vergangenen Jahrhunderts wiederauferstehen. ... Flegels Nostalgie ist absolut, wirkt aber trotzdem nie kalkuliert oder puristisch. In seinem streng subjektiven Retro-Kosmos darf alles nebeneinander existieren: Sunshine-Pop, New Wave, Sixties-Psychedelia. Dabei ist sein Wildern im Kanon nie bloß Reminiszenz, sondern einer spirituellen Essenz von Pop auf der Spur, einer Sprache der Sehnsucht."



Weitere Artikel: Klaus Walter denkt in der FR darüber nach, ob man gewalttätige Musiker von ihrer Musik trennen sollte. Samir H. Köck plaudert für die Presse mit Marco Wanda über das neue (im Standard besprochene) Album seiner Band. Martin Gropp verabschiedet sich in der FAZ von der Punkband NOFX, die nach über 40 Jahren Bandgeschichte dieser Tage ihre Abschiedskonzerte in Deutschland spielen.

Besprochen werden neue Veröffentlichungen zur Geschichte der Hamburger Schule (taz), ein Auftritt von Olivia Rodrigo (FAZ, FR), das neue Album der Nürnberger Punkband Akne Kid Joe (taz) und das Debütalbum der jamaikanischen Rapperin J Noa (für tazlerin Hannah Möller eine der "wichtigsten neuen Stimmen im Rap").

Archiv: Musik
Stichwörter: Lee, Cindy, Retro, Laibach, Europa

Literatur

Dass Suhrkamp die seit 15 Jahren leerstehende (aber auch erst seit knapp über 20 Jahren überhaupt in Verlagsbesitz befindliche) Villa Unseld und damit seine letzte in Frankfurt befindliche Immobilie verkaufen will, beschäftigt die Feuilletons - auch wegen der Kritikerempfänge, die dort zur Frankfurter Buchmesse in Unseld'scher Tradition auch in den letzten Jahren stattgefunden haben. Zu Siegfried Unselds Lebzeiten war das Haus ein "symbolischer Ort der deutschen Literatur", seufzt Hubert Spiegel in der FAZ. "Unzählige Autoren wurden hier empfangen, bewirtet und beherbergt. Nobelpreisträger und Debütanten wurden in der Klettenbergstraße umworben, umgarnt, vertröstet." Und auch wenn "Verlage keine Museen" sind, hält Spiegel diese Entscheidung für "dennoch überraschend: die symbolträchtige Trennung von einem symbolträchtigen Haus zum symbolträchtigen Zeitpunkt, nämlich kurz vor Unselds hundertstem Geburtstag im kommenden September."

So endet also ein Stück westdeutscher Geistesgeschichte lapidar als Annonce auf dem Immobilienmarkt, stellt Mara Delius in der Welt bekümmert fest. "Geistesmenschen" hingegen tut sich hier "eine Welt auf: Die Villa in der Klettenbergstraße zu betreten, ist wie ein Besuch in der Literatur und ihren Geschichten. Siegfried Unseld ... machte das Haus zu einem lebendigen Gebilde zwischen Wohnraum und Repräsentanz des Verlages; eine symbiotische Verbindung von Verleger und Verlag, von Buch und Leben. ...  Beim Kritikerempfang war selbst in den letzten Jahren noch immer etwas von dieser vergangenen Aura zu spüren."

Felix Stephan kann in der SZ den Kummer darüber vor allem auch in der Frankfurter Öffentlichkeit durchaus verstehen. Aber "bemerkenswert ist eher, dass es in einer reichen Stadt wie Frankfurt, in der an kulturbewegten Stiftungen kein Mangel herrscht, anderthalb Jahrzehnte nicht gelungen ist, einen Partner zu finden, der das Haus zumindest vor dem Verfall bewahren wollte. Selbst wenn dort keine Veranstaltungen stattfinden, wäre es als Stipendiatenvilla, Forschungsstelle oder auch einfach literaturhistorisches Stadtmuseum polyvalent einsetzbar. Es deutet aber nun vieles darauf hin, dass in den Augen der von akuter Wohnungsnot geplagten Stadt Frankfurt der Verkehrswert der Immobilie den ideellen Wert der Villa überragt."

Weitere Artikel: Sandra Kegel gratuliert in der FAZ der Schriftstellerin Louise Erdrich zum 70. Geburtstag. Sieglinde Geisel schildert in Tell ihre Wiederbegegnung mit Kafkas "Das Schloss". Mladen Gladic erinnert in den "Actionszenen der Weltliteratur" an eine Lesung von Kafka, bei der Teile des Publikums wahrscheinlich nur der Legende nach in Ohnmacht gefallen sind.

Besprochen werden unter anderem Gerhard Roths "Jenseitsreise" (Standard), Helwig Brunners Science-Fiction-Roman "Flirren" (FR), eine Werkschau der Comic-Künstlerin Anna Haifisch in Hamburg (Tsp) und Renate Müller-Bucks "'... zitternd vor bunter Seligkeit'. Nietzsche in Venedig" (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur

Bühne

"100% peruanisch-amazonisches Haar. Bild: Fabian Ritter.

In Manuela Infantes Theaterabend "100% peruanisch-amazonisches Haar" am Schauspielhaus Bochum geht es passend zum Titel um Verflechtungen, die weit über das Kopfhaar und die daraus bestehenden Perücken hinausgehen, die die Protagonistin des Stückes trägt, berichtet Theresa Schütz für die nachtkritik: "Ein Haartest konfrontiert die Schauspielerin schließlich mit der Tatsache, dass 159 verschiedene DNA-Spuren auf ihrem Kopf nachgewiesen werden konnten. Womit wir beim Haarraub-Komplex wären, dem zuvorderst Frauen aus verarmten, weil landwirtschaftlich ruinierten Regionen Südamerikas ausgeliefert sind. Stimmen berichten auch von Frauen, die aus Angst lieber ihre Haare essen. Und so steht die haarige Frage im Raum: Wussten wir von dieser Verflechtung? Wollen wie es überhaupt wissen? Reicht es nicht zu wissen, dass das Haarteil von Amazon kommt?"

Elfriede Jelineks Monolog "Angabe der Person" ist zuerst am Deutschen Theater in Berlin auf die Bühne gekommen und gastiert jetzt im Rahmen der Wiener Festspiele an der dortigen Volksbühne. Dass Standard-Kritiker Ronald Pohl so viel Freude an dem Stück findet, liegt vor allem an den Schauspielerinnen, die diese Geschichte zwischen Altern, Steuerfahndung und Familienforschung spielen: "Die Schauspielerinnen des Deutschen Theaters Berlin sind die Koloratursopranistinnen dieses Spuks. Jede knallt den Aktenordner ungehalten auf den Boden. ... In der Version der ingrimmigen Fritzi Haberlandt wird Rokoko-Gift versprüht. Mit spitzen Fingern aus gerüschten Ärmeln modelliert die Mimin in Blitzes Schnelle Jelineks Sprachturmbauten. Kommt vom 'Baldur' (von Schirach) auf den 'Arthur' (Seyß-Inquart), von diesen beiden auf ihren Cousin - und macht auch vor dem funktionsethischen Gebrauchsliteraten Ferdinand von Schirach nicht halt."

Mamela Nyamza ist eine der wichtigsten südafrikanischen Choreografinnen, weiß im Tagesspiegel Sandra Luzina, die Nyamzas Stück "Hatched Ensemble" im HAU bewundert. Es ist auch eine Auseinandersetzung mit Ballett als elitärer und rassistisch geprägter Tanzform: "'Hatched' bedeutet ausgebrütet. Nyamaza hat auch wirklich etwas ausgeheckt. Ihr geht es nicht nur um eine Abrechung mit dem Ballett, das stelltvertretend für die Kultur der Weißen steht. Sie will einen Akt der Selbstbefreiung zeigen, einen Clash der Kulturen. Die Performer streifen zum Schluss die Spitzenschuhe ab und dehnen genüßlich ihre Füße. Zu fröhlichen Rhythmen tanzen sie barfuß, nur mit einem roten Mantel bekleidet. Die Rückbesinnung auf die afrikanische Tradition, so suggeriert die Szene, ist der einzige Weg, um sich von rassistischen Zuschreibungen zu befreien."

Besprochen wird außerdem die Strauss-Oper "Salome" in der Inszenierung von Cyril Teste an der Wiener Staatsoper (Standard).
Archiv: Bühne

Film

In seiner Artechock-Wochenkolumne trauert Rüdiger Suchsland um Ruth Maria Kubitschek: Es ist "die alte Bundesrepublik, von der mit ihr wieder ein kleines Stück gestorben ist. Und es war der Ort München, mit dem sie untrennbar verbunden war, mit dem München des Regisseurs Helmut Dietl und dieser Münchner Lässigkeit." Sie "spielte starke Frauen, als sie noch nicht so genannt wurden. Frauen, die das Kommando haben, selbstbewusste Frauen, Frauen, die den Männern überlegen sind, auch an Ironie, an verstecktem Wissen. ... Göttlich, wie fassungslos die Kubitschek blicken konnte! Fassungslos ob der Dummheit und des Wahnsinns der Welt."

Außerdem: Georg Seeßlen verneigt sich im Freitag vor Donald Duck, der dieser Tage seinen 90. Geburtstag feiert. Im Standard gratuliert Karl Fluch dem Sänger und Schauspieler Voodoo Jürgens zur Auszeichnung mit dem Österreichischen Filmpreis.

Besprochen werden Ishana Shyamalans Horrorfilm "They See You" (Perlentaucher), Klaus Sterns Dokumentarfilm "Watching You" über die Überwachungsfirma Palantir (Artechock), der Dokumentarfilm "Don't Worry About India" des Nama Collectives (Artechock), Keiichi Haras Animationsfilm "Lonely Castle in The Mirror" (critic.de), Nikolaj Arcels Historienfilm "King's Land" mit Mads Mikkelsen (FAZ), Cameron und Colin Cairnes' Horrorfilm "Late Night with the Devil" (critic.de), die Disney-Serie "Becoming Karl Lagerfeld" mit Daniel Brühl in der Titelrolle (FAZ), die Wiederaufführung von Christopher Nolans Debütfilm "Following" (Artechock), Sander Burgers "Mein Totemtier und ich" (Artechock) und der vierte Teil der "Bad Boys"-Actionkomödienreihe mit Martin Lawrence und Will Smith (NZZ, Standard, Presse, Artechock).
Archiv: Film
Stichwörter: Kubitschek, Ruth Maria