Efeu - Die Kulturrundschau

Die einzigen Helden, die es noch gibt

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07.05.2024. SZ und Tagesspiegel tauchen bei einer Mike Kelley-Schau in Düsseldorf ab ins Unbewusste der amerikanischen Gesellschaft. Die FAZ trifft den ukrainischen Künstler und linken Aktivisten David Chichkan, der das Bild der Linken in der Ukraine zurechtrücken will. France Culture würdigt den Fernsehmoderator Bernard Pivot - den französischen Reich-Ranicki. Die NZZ feiert den 200. Geburtstag von Beethovens Neunter. Die Zeit trifft den Rapper Nemo, der die Schweiz beim ESC vertritt und alle ziemlich umhaut.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.05.2024 finden Sie hier

Kunst

In die Psychosen der amerikanischen Gesellschaft taucht Till Briegleb in der SZ ab: die Mike Kelley-Schau "Ghost and Spirit" im Museum K21 in Düsseldorf zeichnet diese Suche nach dem Zusammenhang zwischen "der Behauptung unerklärlicher Phänomene und den glänzenden Erscheinungen" nach, die Kelley vor allem in der Welt der Popkultur manifestiert sah, wie Briegleb weiß: "Zentrum der großen Ausstellung entfaltet sich eine skurrile Highschool-Prozession mit Basketball spielenden Mädchen, nackten Bodybuildern, einem schwarzen Conférencier und einer weißen Maria, mit Pferdepuppen und Kelley als Sportlehrer mit Trillerpfeife, begleitet von einer Band, die Märsche mit Noise Music mischt. Die filmische Dokumentation dieses festlichen Rituals zwischen Begehren und Disziplin bietet ein faszinierendes Schauspiel über die widerstreitenden Kräfte in der US-Unterhaltungskultur, die so gerne Faszination mit Ängsten und Unbehagen erzeugt."

Christiane Meixner will das Werk Kelleys im Tagesspiegel auf keinen Fall auf die Verarbeitung von Kindheitstraumata reduziert sehen, wie es Zeit seines Lebens (und auch nach seinem Suizid) noch geschah. Vor allem "seine 1978 begonnenen 'Ectoplasm Photographs' lassen den eigentlichen Impuls jener Kunst erkennen: Es ging um alles, woran man glaubt und die daraus resultierenden Abhängigkeiten."

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Yelizaveta Landenberger trifft für die FAZ den ukrainischen Künstler und linken Aktivisten David Chichkan, einen Street-Art Künstler, der Blätter mit Aquarellfarben bemalt, die er "von Bekannten in der ganzen Welt verteilen lässt", so Landenberger. Der Künstler agitiert für linke Ideen, auch, um das negative Bild der Linken zu verändern. Seine für das Nationalmuseum von Odessa geplante Ausstellung "Mit Bändern und Flaggen" wurde jedoch abgesagt, berichtet Landenberger, die das nicht nachvollziehen kann: "Hier glorifiziert er in den Aquarellbildern  linke Soldaten - Anarchisten, LGBTQ-Menschen, Feministinnen -, die aufseiten der Ukraine gegen die russischen Invasoren kämpfen. Dabei macht er Anleihen beim Monumentalstil des Sozialistischen Realismus, dessen Ästhetik zugleich durch Bänder und Flaggen in anarchistischen, feministischen, ukrainischen Farben. ... Seine eigenwilligen Tarnfleck-Aquarelle mögen nicht jedermanns Geschmack sein, doch Russland verherrlichen sie gewiss nicht - im Gegenteil."

Weiteres: Im Tagesspiegel-Interview mit Nicola Kuhn erklärt Nicolas Berggruen, warum er als neuen Sitz für seine Stiftung Arts and Culture Venedig ausgewählt hat, und warum Kunst noch nie so politisch war wie heute. Wie ihr Kollege aus der SZ (unser Resümee) sind auch FAZ-Kritiker Andreas Kilb und Nikolaus Bernau in der taz schwer beeindruckt von einer großen Ausstellung mit Werken des Renaissancemalers Maarten van Heemskerck, die im Kulturforum in Berlin zu sehen sind. In taz und Tagesspiegel berichten Andreas Hergeth und Dominik Lenze über die unsichere Zukunft der B.L.O-Ateliers in Lichtenberg. Besprochen wird die Ausstellung "There ist no there there" im MMK in Frankfurt am Main (taz).
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Film

Michael Ranze resümiert in der FAZ die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen, die unter anderem mit einem Fokus auf die Geschichte des Sportfilms aufwarteten. Dabei ging es nicht ums gängige Dramenformat, das man heute Sportfilm nennt, sondern um Kurzfilme zwischen Berichterstattung und Experiment. "Sport hat mitunter auch etwas Lächerliches, weil sich die Übungen so endlos wiederholen und die Anstrengungen oftmals nicht von Erfolg gekrönt sind. Und doch sind Sportler die einzigen Helden, die es noch gibt." In Laila Pakalninas "lettischem Kurzfilm 'Short Film About Life' sehen neun Fußballer dabei zu, wie ein unsichtbarer Kollege an einem Elfmeterschießen, das muss man zumindest annehmen, teilnimmt. Erst die Spannung, dann die Enttäuschung. Die Gruppe bricht auseinander, das Spiel ist verloren. Das Elfmeterschießen wird so zu einem absurden Moment, weil die Männer, die zu sehen sind, nicht eingreifen können. 'Anatomie d'un mouvement', 1967 von Francois Moreuil inszeniert, untersucht die Übungen eines Reckturners. Dabei zerlegt der Film die Bewegungen und macht so die Außerordentlichkeit der Körperbeherrschung deutlich. Einmal dreht sich die Kamera beim Körperschwung ums Reck sogar mehrmals mit - ein Moment des Staunens."

Besprochen wird außerdem Radu Judes auf Mubi gezeigter Film "Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt" (FAZ, mehr dazu hier).
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Musik

Heute vor 200 Jahren wurde in Wien Beethovens Neunte uraufgeführt. Dass deren Schlusssatz heute als musikhistorische Zäsur im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht, hat - nicht zuletzt wegen der Europäischen Union, deren Hymne er seit 1972 ist - zwar seine Berechtigung, schreibt Christian Wildhagen in der NZZ. Doch "seinerzeit müssen auch die ersten drei Sätze beispiellos avantgardistisch gewirkt haben, zumal vor dem Horizont einer Epoche, die gerade einem kollektiven Belcanto- und Rossini-Rausch verfallen war. ... Bevor in diesem vierten Satz die Singstimmen einsetzen, hat Beethoven gut fünfzig Minuten lang rein instrumental mit sich, mit Gott und der Welt gerungen. Am Beginn des Finales kommt es zu einer katastrophischen Zuspitzung, zur sogenannten Schreckensfanfare, die er mit den stärksten Dissonanzen würzt, die in der Spätklassik möglich waren. Zunächst antworten nur die tiefen Streicher auf diese Eruption: mit aufbegehrenden Gesten, dann mit einer leisen Ahnung der späteren Freudenmelodie. Der Durchbruch gelingt noch nicht. Als bald darauf die Schreckensfanfare ein weiteres Mal ertönt, betritt der Mensch die imaginäre Szenerie. Mit dem sprichwörtlich gewordenen Ausruf 'O Freunde, nicht diese Töne!', der von Beethoven selbst, nicht von Schiller stammt, verwirft der Bariton-Solist gleichsam die gesamte zuvor gehörte Musik. Der Chor stimmt ein, und jäh ist der Weg frei für die alle Negation hinwegfegende Freudenhymne." Die FAZ hat ihr Gespräch mit dem Dirigenten Antonello Manacorda über die Neunte online nachgereicht. Mehr zur Neunten schreibt Ljubiša Tošić im Standard. Judith von Sternburg weist in der FR darauf hin, dass Arte heute Abend die Neunte in einer besonderen Version überträgt: In je einer deutschen Stadt wird von je einem Orchester je ein Satz gespielt.

Für die Zeit porträtiert Timo Posselt den Popstar Nemo, der für die Schweiz zum Eurovision Song Contest fährt (mit diesem ziemlich beeindruckenden Stück). Schon 2016 hat er als Rapper in seiner Heimat für viel Aufsehen gesorgt. Bei einem Turnier haute er alle um und das "mit Wollmütze und mindestens einen Kopf kleiner als alle anderen. ... Der Beat droppt, Nemo beginnt zu rappen - und nacheinander fällt den Umstehenden die Kinnlade herunter. 'Es ging uns allen gleich', erzählt Pablo Voegtli, der Moderator von Bounce und so etwas wie der Hohepriester des Schweizer Hip-Hops, am Telefon: 'Wir dachten alle: Holy fuck, dieses Kid ist insane!' Ein Talent wie Nemo, so Voegtli, gebe es im Schweizer Rap bloß alle paar Jahre. 'Rhythmisch ist Nemo ein Monster. Diese Präzision, dieser Flow, diese Dringlichkeit, dieses Spiel mit der Stimme - ein perfekter Sturm. Ich dachte: Wenn jemand jetzt schon so gut ist, kann die Person musikalisch alles erreichen.'" Auf Youtube kann man sich das ansehen:



Außerdem: Benjamin Moldenhauer berichtet in der taz von einem Abend zum Gedenken an die vor drei Jahren verstorbene Françoise Cactus, die dieser Tage sechzig Jahre alt geworden wäre. Skeptisch reagiert Nadine Lange in ihrer Tagesspiegel-Popkolumne auf die Pläne der britischen Popkünstlerin FKA Twigs, die lästige Promoarbeiten künftig an einen eigens geschulten Deepfake-KI-Klon ihrer selbst delegieren will: Dieser "Vorstoß ist die konsequente Fortsetzung solcher Praktiken, in denen die Presse sowieso nur noch als Marketinginstrument betrachtet wird". Thorsten Fuchshuber spricht für die Jungle World mit dem Metal-Schlagzeuger T. J. Childers von der Band Inter Arma. Für die FAZ plauscht Tilman Spreckelsen mit Reinhard Mey über dessen neues Album. Karl Fluch gibt im Standard einen Überblick über die Vorwürfe sexueller Übergriffe, die dem Rapper Puff Daddy gemacht werden. Daniel Haas blickt für die NZZ derweil auf die eskalierende Fehde zwischen den Rappern Drake und Kendrick Lamar.

Besprochen werden ein von Elena Schwarz dirigierties Konzert des Klangforums Wien mit Werken von Georges Aperghis und Stefano Gervasoni (Standard),Stefan Karl Schmids, Lars Dupplers und Hilmar Jenssons gemeinsames Album "Bliður" (FR) und das postume Album "Looking for Daniel" von Phill Niblock mit zwei langen Drone-Kompositionen (tazlerin Yelizaveta Landenberger bezeugt "einen würdigen Abschluss für das Gesamtwerk eines großen Avantgardisten").

Archiv: Musik

Bühne

Besprochen werden Cathy Marston Tanzstück "Atonement" nach Ian McEwans Roman "Abbitte" an der Oper Zürich und Crystal Pites Choreografie "Assembly Hall" beim Schweizer Festival "Steps" in Zürich (SZ), Daniel Karaseks Oper "Buddenbrooks" am Theater Kiel (taz) und das Theaterfestival Ostopia am Nationaltheater Mannheim (taz).
Archiv: Bühne

Literatur

Mit Fernsehberühmtheiten verhält es sich so, dass sie nur strikt im nationalen Rahmen funktionieren. In Deutschland weiß niemand, wer Bernard Pivot war, in Frankreich war er einer der berühmtesten Moderatoren, und das mit einer Literatursendung: "Apostrophes". Pivot ist im Alter von 89 Jahren gestorben. Von bis 1975 bis 1990  liefen 724 Folgen der Sendung "Apostrophes", die einmal auch international für Aufsehen erregte - durch den Auftritt Alexander Solschenizyns nach seiner Ausbürgerung. Anders Als Marcel Reich-Ranicki, der einzigen vergleichbaren Figur in Deutschland, war Pivot nie Kritiker, schreiben die Kollegen von France Culture, aber "Bernard Pivot las aus Leidenschaft und beruflichen Gründen sehr viel, verschlang Bücher und Romane, um diejenigen auszuwählen, die eine Ehrung verdienten. Für den Prix Goncourt, dessen Präsident er fast fünfzehn Jahre lang bis 2019 war, aber auch für seine Vorzeigesendungen auf Antenne 2 und später auf France 2, in denen prominente Gäste defilierten."

Auch die neuen Philosophen Bernard-Henri Lévy und André Glucksmann hatten ihre ersten fulminanten Auftritte in "Apostrophes". Hier ein sehr malerischer BHL:

Pivot verkörperte allerdings auch den heute sehr weit weggerückten pädophilen Zeitgeist der Siebziger und Achtziger und lud nicht weniger als sechsmal den Autor Gabriel Matzneff ein, dessen Romane von seinen sexuellen Abenteuern mit 14- bis 17-jährigen Mädchen handeln. Matzneff ist durch verschiedene Erinnerungsbücher seiner Opfer heute komplett in Misskredit geraten. Hier ab Minute 1.29' die unglaublich mutige Intervention der kanadischen Autorin Denise Bombardier gegen Matzneffs Selbstgefälligkeit.

In der FAZ schreibt Niklas Bender einen Nachruf auf Pivot. In den "Actionszenen der Weltliteratur" erinnert Marc Reichwein an eine Entgleisung Thomas Manns. Rose-Maria Gropp berichtet in der FAZ von der Freiburger Popup-Buchmesse "freiBuch". Patrick Bahners gratuliert in der FAZ dem Comiczeichner Philippe Geluck zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Orhan Pamuks "Erinnerung an ferne Berge" (FR),  Han Kangs "Griechischstunden" (NZZ), Mareike Fallwickls "Und alle so still" (NZZ), Moussa Abadis Prosaband "Die Königin und der Kalligraph" (SZ) und Ann Marks' Biografie über die vor wenigen Jahren entdeckte Hobby-Fotografin Vivian Maier (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur
Stichwörter: Pivot, Bernard

Design

Gerhard Matzig zieht in der SZ den Hut vor dem verstorbenen César Luis Menotti, aber nicht im Hinblick auf dessen Profession als Fußballtrainer, sondern als Stilikone, als Mensch mit Sinn für Schönheit und Genuss. "Gilt der Roxy-Music-Frontmann Bryan Ferry bis heute als godfather of style im Pop, so stieg Menotti nur leicht zeitversetzt, nämlich bei der WM 1978 in Argentinien, aus dem Zigarettenrauch, nicht ganz wie die Botticelli-Venus aus dem Schaum, aber eben als jemand, der die Schönheit im Fußball und abseits des Fußballs als etwas Existenzielles zu würdigen wusste: Dazu musste man ihn noch gar nicht gehört haben, dazu reichte es schon, ihn erst mal nur auf der Bank sitzen zu sehen. ... Dass Menotti dem Fußball und der Schönheit, dem Inhalt und der Form gleichermaßen Respekt zollte, sah man übrigens immer an seiner sehr überlegt gewählten Kleidung. Falls man ihn und seine Kleidung im Zigarettenrauch noch entdeckte. Diese Lässigkeit, diese Eleganz ..."
Archiv: Design
Stichwörter: Fußball, Menotti, Cesar Luis