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01.11.2023. Der Tagesspiegel bejubelt William Turner, einen Berserker der Kunst, der seine Farben mit Sahne, Schokolade und Eigelb anrührte. Außerdem staunt er über ein georgisches Jugendorchester, das probt, während nur zwanzig Kilometer weiter russische Panzer stehen. Müde Künstleraugen strahlen, wenn der Pianist Maurizio Pollini Chopin spielt, weiß die NZZ. Ein bayerisches Südseegewitter an Pointen genießt die SZ im Münchner Volkstheater bei einer Shakespeare-Aufführung. Außerdem trauern die Feuilletons um Elmar Wepper, einen unterschätzten Schauspieler, der gelegentlich gar seinem eigenen Schatten beim Tanzen zuschaute.
Eine "Bewegungskunst-Alternative in Deutschlands Nordwesten" macht Jens Fischer in der taz aus: Alfonso Palencia Tanzabend "Seelen" am Stadttheater Bremerhaven zeigt ihm, dass auch abseits der gut finanzierten Großstadtbühnen Außergewöhnliches geleistet werden kann. An eine lange kulturgeschichtliche Tradition schließt die Aufführung schon qua ihres Namens an. Der Entzauberung der Seele durch die Naturwissenschaft begegnet Palencia mit einer Mobilisierung der expressiven Kräfte der Seelen-Semantik: "Im Bühnenhintergrund tanzen schwarz gewandete Seelen-Darstellerinnen an Stangen, schmerzkunstvoll um Tote trauernd und dabei in leidvolle Einsamkeit verstrickt. Grau gewandete Kolleg:innen ruckeln ihre Körper morgengymnastisch träge hin und her, erblühen ruckartig, verfallen in irritierte Suchbewegungen und recken Arme offenbarungswillig gen Himmel. Es sind laut Palencia die gerade aus dem Leben verabschiedeten, noch in einem Zwischenreich sich verunsichert orientierenden Figuren - enthusiastisch umwirbelt von fröhlich weiß gewandeten Seelendarsteller:innen, die sich schon zu Hause fühlen im Jenseits, Himmel, Nirvana, Hades, in der Unter-, Neben-, Über-, Nachwelt oder wie auch immer ihre neue, metaphysische Heimat heißen mag. Die Weißen umarmen die Grauen oder kümmern sich im Wortsinne berührend um die Schwarzen, verführen sie auch zu formidablen Pas de deux."
Darf man Shakespeare so "angespitzt gegenwärtig" aufführen, wie Christian Stückl das im Münchner Volkstheater mit "Was ihr wollt" versucht? Ja man darf, findet Teresa Grenzmann in der FAZ, vor allem, wenn man mit so viel Lust an der boulevardesken und auch sehr bayrisch-krachledernen Übertreibung bei der Sache ist: "Jede Minute dieser gute zwei Stunden dauernden Typenkomödie strotzt vor Situationskomik, ein bayerisches Südseegewitter an Pointen à la 'Inchilliconcarneation des Teufels', das die ohnehin schon zeitgemäße Übersetzung von Jens Roselt noch um ein Vielfältiges ins Sprech der 90er-Jahrgänge auf der Bühne katapultiert. (...) Geht das zu weit? Räkelt sich da etwa der Gewissenswurm auf der pinkfarbenen Plastikcouch im knallroten Waikiki-Beachhüttchen? Ach nee, die Bedenken sind wie feinster Meeressand auf der Oberfläche der allgemeinen Sorglosigkeit: schnell weggeweht. Und der bloßgestellte Malvolio gerät in seiner Selbstgefälligkeit ironischerweise zu so etwas wie dem Inselmaskottchen. Ein Zu-weit-Gegangen gibt es in dieser Inszenierung nicht. Wirbelstürmischer Applaus."
Georg Kasch beschäftigt sich in der nachtkritik mit Dragqueens. Die sind im Zuge jüngerer Kulturkämpfe ins Fadenkreuz homophober Kritiker geraten und zum Lieblingsfeindbild all derer avanciert, die gegen nicht-Eindeutigkeiten im Bereich des Geschlechtlichen polemisieren. Dabei geht es bei Dragqueens gar nicht um Identität, sondern um ein "als ob". Einige jüngere Bühnenarbeiten mit Drag-Bezug zeigen, wie reichhaltig die Szene ist: "Bastian Kraft etwa inszenierte den Andersen-Abend 'Ugly Duckling' am Deutschen Theater Berlin als Drag-Empowerment (und stellte in 'Rusalka' an der Staatsoper Stuttgart den Hauptrollen je einen Dragartist an die Seite). Alain Platel setzte ihrer Kunst, aber auch ihrem Kampf in 'Gardenia' ein melancholisches Denkmal. Und Künstler:innen wie Taylor Mac (etwa in 'Holiday Sauce... Pandemic!'), Olympia Bukkakis und Le Gateau Chocolat (in Tobias Kratzers 'Tannhäuser') weiten mit ihren Bühnenpersonae das Ausdrucks- und Möglichkeitsspektrum des klassischen Dragqueen-Bilds. Anders als bei der Travestie steht bei den Dragqueens nämlich nicht die perfekte Imitation im Vordergrund, sondern eine kreative Explosion der als weiblich gelesenen Äußerlichkeiten mit Verzerrungen, Überbetonungen, Glitches. Und 'schleppen' damit noch ein paar Deutungsangebote mehr mit."
Weitere Artikel: Margarete Affenzeller schreibt im Standard über ein Theaterfestival mit österreichischer Beteiligung im chinesischen Wuzhen. Auch ein Interview mit Festivalleiter Meng Jinghui hat Affenzeller geführt. Ebenfalls im Standarderfahren wir von Katharina Rustler, dass ein von der Künstlergruppe Gelitin gestalteter Brunnen im Stadtteil Sonnwendviertel für Kontroversen sorgt.
Besprochen werden Inszenierungen der Richard-Strauss-Oper "Frau ohne Schatten" an der Staatsoper Stuttgart und der Opéra National de Lyon (FAZ), Theresia Walsers "Ein bisschen Ruhe vor dem Sturm" am Staatstheater Mainz (FR) und Robert Carsens Puccini-Inszenierung "Manon" an der Wiener Staatsoper (Standard).
Keine Verklärung der Revolution: "El Realismo socialista" von Raúl Ruiz Philipp Stadelmaier widmet sich in der SZ dem chilenischenSchwerpunkt der soeben zu Ende gegangenen Viennale (hier Valerie Dirks Festival-Resümee im Standard). Gezeigt wurden dabei Filme, die im Vorfeld und nach dem Pinochet-Putsch entstanden sind oder sich mit den Langzeitfolgen des Putsches befassen. Auch RaúlRuiz"El Realismo socialista" aus dem Jahr 1973 wurde gezeigt - das Rohmaterial des lange verschollen geglaubten Films wurde erst kürzlich wiederentdeckt und in Form gebracht. Er "behandelt auf kritisch-ironische Art innersozialistischeProbleme. Eine Fabrik soll besetzt werden: Gehört sie nicht allen Arbeiterinnen und Arbeitern? Wer ist ein Kleinbürger, wer ein wahrer Revolutionär? Und ist die Position der Partei immer die richtige? Es wird, wie immer bei Ruiz, viel diskutiert, oft ohne konkretes Ergebnis. Jenseits jeder romantischen Verklärung der Revolution folgt die dynamische, zugleich nervig-beharrliche Kamera diesen Aushandlungsprozessen. ... Der Massensuizid der Genossinnen und Genossen am Ende des Films verheißt nichts Gutes. Ruiz will allegorisch das Scheitern der Revolution aufgrund von zu viel Streit vorwegnehmen. Doch im Nachhinein erscheinen die Bilder als düstere Vorahnung einer anderen Katastrophe." Dazu passend spricht der Filmdienst ausführlich mit Eva Sangiorgi und Paolo Calamita, dem Leitungs-Duo der Viennale. ElmarWepper ist tot. Er war ein "unterschätzterSchauspieler", schreibt Christoph Schröder auf Zeit Online. Im Kino kannte man Wepper als die deutsche Stimme von MelGibson, im Fernsehen hingegen war er vor allem auf den gemütlichen Vorabend bayerischer Prägart abonniert. Doch "immer, wenn Elmar Wepper zu sehen war, sah man ihn gerne. Er hatte Charme und Charisma" und spielte sich in Doris Dörries "Kirschblüten" im Jahr 2008 endgültig in die Kritikerherzen: "Wenn man Elmar Wepper dabei zuschaut, wie er gemeinsam mit einer jungen Japanerin seinem eigenen Schatten beim Tanzen zuschaut, wie er dem Schatten seiner verstorbenen Frau hinterhertanzt, dann hat das nichts Selbstparodistisches und schon gar nichts Lächerliches, selbst dann nicht, wenn herauskommt, dass er unter seinem langen Mantel die Kleidung seiner Frau trägt." Anders als sein Bruder Fritz Wepper, dessen Spezialität die Pointe ist, war "Elmar derjenige für die etwas leiserenTöne", schreibt Michael Hanfeld in der FAZ. "Er war, wie es in einer Kritik einmal hieß, dafür prädestiniert, den 'sentimentalenBayern' zu spielen." Weitere Nachrufe schreiben Cosima Lutz (Welt) und Paul Jandl (NZZ). In den Feuilletons leider ungewürdigt bliebt Elmar Weppers großartiger Auftritt in Dominik Grafs Thriller "Das unsichtbare Mädchen".
Weitere Artikel: Ein "Geschenk" ist es, dass JustineTriets (heute auch in der tazbesprochene) "Anatomie eines Falls" (unser Resümee) und MargarethevonTrottas "Ingeborg Bachmann - Reise in die Wüste" in zeitlicher Nähe in die Kinos kommen, findet Andreas Kilb in der FAZ: Letztgenannter Film mache mit seinen Defiziten noch einmal ganz besonders die Güte des ersten Films deutlich. Lukas Wilhelmi schreibt in der taz einen Nachruf auf den Schauspieler MatthewPerry.
Besprochen werden HettieMacDonalds "Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry" (Welt), eine neue Folge "South Park", die DisneysDiversitätspolitik veräppelt (Welt), die Sky-Serie "The Lovers" (Tsp), die ARD-Serie "Parlament" (FAZ) und die ZDF-Serie "Füxe" (FAZ).
Ein Zürcher Konzert des 81-jährigen MaurizioPollini irritierte NZZ-Kritiker Christian Wildhagen zunächst: Nicht nur wirkte die Musik über weite Strecken "wie hinter Glas konserviert", sondern es kam auch noch zu lautem Zank mit der Notenwenderin, bei dem unklar wurde, "ob Pollini bewusst war, dass er gerade ein Konzert gab". Doch die Zugabe machte alles wieder wett, schwärmt Wildhagen: Gegeben wurde "Chopins 1. Ballade in g-Moll. Die Kenner im Publikum jauchzen, die müden Augen des Künstlers aber, sie strahlen plötzlich. Denn mit seinen Interpretationen dieses und vieler anderer Werke Frédéric Chopins hat Pollini Geschichte geschrieben. ... Der charakteristisch helle, substanzreiche Ton, der orchestrale Klavierklang, die rational klare, nie übertrieben schwärmerische Durchformung der Musik - all dies ist immer noch da, und selbst die Technik wirkt fast so makellos wie auf Pollinis Aufnahmen." Hier zu hören:
Werner Bloch porträtiert im Tagesspiegel das in Georgien ansässige Pankaukasische Jugendorchester, das "feuriges, internationales Niveau" hat und als Friedensprojekt nach dem Vorbild von Daniel Barenboims West Eastern Divan Orchestra "Menschen aus Staaten zusammenbringt, die teilweise in heftige Konflikte miteinander verstrickt sind oder sogar Kriege ausgefochten haben. ... Aber: RussischePanzer stehen nur zwanzig Kilometer entfernt, auf besetztem Gebiet. David Sakvarelidze betont: Mit jedem Schritt einer Stärkung der Zivilgesellschaft, mit jedem Schritt Richtung Westen löst sich Georgien ein Stück aus dem unheimlichen Sog Moskaus. "
Weitere Artikel: Judith und Gottfried von der Goltz - Vater und Tochter - sprechen im VAN-Magazin über das FreiburgerBarockorchester, in dem sie beide Geige spielen. In der tazporträtiert Dagmar Leischow die Musikerin Futurebae, die ihr gerade ihr Debütalbum vorgelegt hat. Samir H. Köck spricht für die Presse mit der Liedermacherin SigridHorn. Christian Schachinger freut sich im Standard auf ein Konzert der Swans. Ljubiša Tošić blickt für den Standard aufs Programm des Wiener Festival der Gegenwartsklänge. Niklas Maak gratuliert in der FAZ dem Chansonnier SalvatoreAdamo zum 80. Geburtstag.
Besprochen werden MaryGabriels Biografie über Madonna (Zeit Online), ein Konzert von AndrásSchiff in Frankfurt (FR), ein Konzert der Berliner Staatskapelle unter MarkusPoschner und GidonKremer (Tsp) sowie Mark Davidsons und Parker Fishels Bob-Dylan-Biografie (Welt).
Begeistert schreibt Gabi Czöppan im Tagesspiegel über die William-Turner-Ausstellung im Münchner Lenbachhaus. Der Brite Turner war ein Besessner, fast schon ein Extremsportler der Kunst: "Er ließ Farben auf der Leinwand explodieren, er malte den Himmel über Venedig und den Smog über London. Als 1834 das englische Parlamentsgebäude brannte, verfolgte er das Feuer begierig von einem Boot auf der Themse aus und skizzierte es. Er ließ sich im Sturm an einen Schiffsmast fesseln, um die Naturgewalt des Meeres zu erleben. Ihn faszinierten Lawinenabgänge, untergehende Kriegsschiffe und Wetterphänomene. William Turner war ein Maler von Katastrophen und des Klimawandels, als noch niemand das Wort kannte." Nicht nur seine Motive, auch seine Technik waren revolutionär: "Er malte wie ein Berserker, nicht wie ein nobles Akademiemitglied. Seine Farben rührte er mit Sahne, Schokolade, Eigelb und Johannisbeergelee an. Die Leinwände traktierte er mit Pinselstielen, Messern und bloßen Fingern. 'Seifenlauge' schimpften Kritiker. Eine Karikatur zeigte ihn, wie er die Leinwand mit einem Wischmopp bearbeitet. Sein Spitzname lautete 'Over-Turner'."
Wer Halloween im Allgemeinen und die us-amerikanischeHorrorliteratur im Besonderen verstehen will, muss RayBradburysRoman "Das Böse kommt auf leisen Sohlen" von 1962 lesen, schreibt Wieland Freund in der Welt. Andreas Platthaus (FAZ) und Thomas Steinfeld (SZ) schreiben Nachrufe auf den GermanistenHeinzSchlaffer. Das Logbuch SuhrkampdokumentiertMärenJägers Laudatio auf TheresiaPrammer zur Auszeichnung mit dem Paul-Scheerbart-Preis.
Besprochen werden unter anderem PeterHandkes "Die Ballade des letzten Gastes" (Tsp), TaraM. Stringfellows "Memphis" (FR), AmirGudarzis "Das Ende ist nah" (Zeit Online), ClemensMarschalls True-Crime-Buch "Tatort Wien" (Standard), StéphanieCostes "Der Schleuser" (FAZ) und Stefan Bachmanns Kinderbuch "Die letzten Hexen von Blackbird Castle" (SZ). Und das Deutschlandradiosammelt hier die PDFs aller seiner Buchrezensionen des letzten Monats.