Efeu - Die Kulturrundschau
Wo Sprache sich nicht mehr auskennt
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Bühne
In der FAZ bemerkt Elena Witzeck, dass das Vorgehen der CSU gegen die Münchner Theatermacher Matthias Lilienthal und Christian Stückl wegen ihrer Teilnahme an der Großdemonstration Mitte Juli vielen in der Partei etwas peinlich sei: "Mit Maßnahmen gegen Lilienthal rechnet keiner, und die CSU scheint letztlich froh darüber zu sein. Das Neutralitätsgebot, auf das sie sich beruft, war in der Nachkriegszeit als Schutz vor politischer Instrumentalisierung eingeführt worden. Wenn Parteien nun versuchen, mit ihm Einfluss auf die Positionen von Theatern zu nehmen, verkehrt sich sein Zweck ins Gegenteil, auch wenn der Hinweis auf die Freiheit, privat teilzunehmen, berechtigt ist."
Weiteres: In der NZZ berichtet Michael Stallknecht von einer Diskussion in Bayreuth zu "Verboten in der Kunst" und Eugen Gomringers "Avenidas"-Gedicht: "Den 'Aufstand junger Spießer' nennt der Schriftsteller Feridun Zaimoglu die Kritik der Studierenden in Bayreuth." Besprochen werden Inszenierungen von Frank Castorf und Hans Neuenfels bei den Salzburger Festspielen (taz, Tagesspiegel, FR).
Musik
Weitere Artikel: Ann-Kathrin Mittelstraß schreibt in der taz über die Renaissance des Musikvideos dank Youtube. Besprochen werden Michaela Meises Album "Ich bin Griechin" (taz), die Aufführung von Beat Furrers "Wüstenbuch" bei den Salzburger Festspielen ("ein überwältigender Abend", schreibt Heidemarie Klabacher im Standard), Ed Sheerans Wiener Auftritt (Standard), das Konzert des Spanischen Jugendorchesters bei Young Euro Classic (Tagesspiegel), das neue Album von Phil Cook (FR) und Britney Spears' Berliner Auftritt (SZ, ZeitOnline, Tagesspiegel).
Film
FAZ-Horrorspezialist Dietmar Dath verspricht sich einiges von den beiden Filmemachern Justin Benson und Aaron Moorhead: Das Duo könnte eines Tages mit den ganz großen Namen des Genres in einem Atemzug genannt werden. Mit "The Endless" erscheint nun deren dritter und laut Dath bislang bester Film: Es geht, soviel ist Daths Satzgeflechten am frühen Morgen zu entnehmen, um zwei junge Männer, die unterschiedliche Erinnerungen an eine Sektenvergangenheit haben und den Ort dieser Erfahrungen wieder aufsuchen, bevor der Film "in miteinander unversöhnliche Wirklichkeitsscherben zerbricht": Und irgendwann begreife man, "dass alles, was gerade die Irrsten und Entrücktesten in 'The Endless' dauernd sagen, zwar stimmt, aber weder 'im wörtlichen' noch 'im übertragenen Sinn', sondern irgendwo dazwischen, wo Sprache sich nicht mehr auskennt."
Zwischenstand aus Locarno: Von einem "bemerkenswert starken Wettbewerb" spricht NZZ-Kritikerin Susanne Ostwald: "Die wohl stärkste Präsenz markiert die Protagonistin des türkischen Beitrags 'Sibel', der eine Art moderne Rotkäppchen-Geschichte erzählt. Damla Sönmez, heiße Anwärterin auf den Preis für die beste Darstellerin, spielt darin eine stumme, aber äußerst unabhängige junge Frau, die sich allein mit Pfeiflauten verständigt. ... Der Schweizer Regisseur Thomas Imbach fächert in 'Glaubenberg' die Fantasiewelt der 16-jährigen Lena auf, die sich zu ihrem älteren Bruder sexuell hingezogen fühlt. In raffinierter Erzählanlage, visuell kongenial umgesetzt, verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Wunschvorstellung." Am Rande von Locarno plaudert Urs Bühler außerdem mit Schauspieler Ethan Hawke.
Literatur
In der FAZ trauert der Dichter Jan Wagner um seinen verstorbenen Kollegen und Freund, den irischen Dichter Matthew Sweeney, dessen Werke er ins Deutsche übertragen hat. "Alle Begegnungen mit Matthew Sweeney waren auch Audienzen bei einer schier grenzenlosen Imaginationskraft, bei der Fabulierlust eines Mannes, der wusste, dass die Welt nie ist, was sie scheint, und dass man als Dichter eingeladen ist, sie zu verwandeln, mit ihr zu spielen. ... Viele der Sweeneyschen Gedichte haben eine brillante anekdotische Qualität, auch eine dramatische Seite, denn das Schlüpfen in Rollen ist ja eines der Vergnügen dieser Lyrik." Im Dlf Kultur hat Wagner über Sweeney gesprochen.
Auf der Seite Drei der SZ porträtiert Hilmar Klute den französischen Schriftsteller Olivier Guez, dessen Roman "Das Verschwinden des Josef Mengele" in Frankreich im letzten Jahr ein großer Erfolg war und der nun auch auf Deutsch erscheint: Guez erzählt darin "die Biografie eines mittelmäßigen Charakters, der in Auschwitz zum Meister eines perversen Todeskabinetts wurde. ... Er hat seinen Mengele zu unserem Mengele gemacht, zu einem Prototypen europäischer Geschichte, die aus der Gelehrtenkammer direkt in die Hölle führte. Einer wie Mengele, der aus einer kulturell interessierten Familie stammte, dessen eine Frau Kunsthistorikerin war, ein Wissenschaftler, ein Musikliebhaber mit einem humanistischen Beruf, dem des Arztes. 'Mengele ist ein Sohn der europäischen Zivilisation', sagt Olivier Guez."
Weitere Artikel: Dass Florjan Lipus als erster slowenischsprachiger Schriftsteller mit dem österreichischen Staatspreis geehrt wird, deutet NZZ-Autor Paul Jandl als "melancholisches Signal". "Der Fontane-Leser hat gelernt, sich auf das Wort 'still' näher einzulassen, und er ist dann nie enttäuscht worden", schreibt Christian Thomas in der FR. Jan C. Behmann spricht für den Freitag mit Christian Haller über dessen Autobiografie. In Bayreuth wurde die Debatte um Eugen Gomringers Gedicht "avenidas" nochmals aufgerollt, berichtet Michael Stallknecht in der NZZ. Manuela Kalbermatten schreibt in der NZZ darüber, wie Kinder- und Jugendbücher alternative Familienmodelle aufgreifen.
Besprochen werden unter anderem Maxim Billers "Sechs Koffer" (FR), Michel Decars "Tausend deutsche Diskotheken" (SZ), Brigitte Reimanns "Post vom schwarzen Schaf. Geschwisterbriefe" (Zeit), der dritte Teil von David B.s und Jean-Pierre Filius Comic "Die Besten Feinde - Die Geschichte der Beziehungen der Vereinigten Staaten mit dem Nahen Osten" (Tagesspiegel) und Franz Fühmanns Briefe (FAZ).
Kunst
Nichts läuft auf dem Kunstmarkt gerade so gut wie Arbeiten schwarzer Künstler, stellt Marcus Woellner in der Welt fest. Gerade zeigte die Stephen Friedman Gallery etwa die Schau "Talisman in the Age of Difference". Aber gibt es überhaupt Blackness in der Kunst? Was verbindet den Nigerianer Yinka Shonibare mit dem Südafrikaner Kemang Wa Lehulere, mit Kudzanai-Violet Hwami aus Simbabwe oder dem poppigen Kalifornier Kehinde Wiley? Woellner lässt es sich noch einmal von Kerry James Marshall erklären: "Gibt es also doch eine 'schwarze Kunst', eine 'afrikanische Kunst', eine Kunst, die sich über Kontinente hinweg auf ein gemeinschaftlich Identität stiftendes Konzept berufen kann? Blackness, so Marshall, sei nicht nur als politische Realität der schwarzen Bevölkerung zu verstehen, die Jahrzehnte und Jahrhunderte der Unterordnung erlebt hat, sondern vor allem als kritische Position. 'Es ist ein Korrektiv gegen die negative Dialektik, die der Bedeutung, was es heißt schwarz zu sein, auferlegt wurde: nämlich wild, primitiv, unschön, verarmt, unterwürfig, ungebildet. Blackness funktioniert heute als ein Mittel, die Legitimität solcher Zuschreibungen völlig auszuhöhlen.'"
Besprochen werden eine Schau der tollen Bilder des Fotografen Neil Kenlock im Black Cultural Archive in London (Guardian), die Ausstellung "Magic Realism" zur Kunst der Zwanziger Jahre in Deutschland in der Tate Modern (FR), die große Schau zur polnischen Bildhauerin Alina Szapocznikow in der Kunsthalle Baden-Baden (FAZ) und die Gruppenausstellung "Ex-Embassy" im Atelierhaus in der ehemaligen australischen Botschaft in der DDR (taz).