9punkt - Die Debattenrundschau

Etwas unangenehm Paternalistisches

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.06.2024. Das Verhältnis zwischen Orient und Okzident wird sich auch innerhalb der westlichen Demokratien entscheiden, schreibt Michael Kleeberg in der FAZ. In der FAS bestätigt Güner Yasemin Balci: Islamistische Bewegungen wurden auch in Deutschland zu lange ignoriert. taz und Zeit Online wundern sich darüber, wie gut sich deutsche Politiker mit rechten Regierungen verstehen. Jetzt drehen die Kritiker des Berliner Schlosses völlig durch, seufzt die Welt angesichts der neuen Initiative "Schlossaneignung". Die FAZ empfiehlt Claudia Roth ein bisschen mehr Mut zum Streit.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.06.2024 finden Sie hier

Politik

In einem längeren Essay auf den Bilder- und Zeiten Seiten der FAZ zeichnet der der Schriftsteller Michael Kleeberg die historischen Linien des Konflikts zwischen Israel und Palästina nach und fragt, wie ein "westöstlicher Dialog" in Zukunft aussehen könnte. Das Verhältnis zwischen Orient und Okzident, so glaubt er, wird sich nicht nur in der internationalen Politik sondern auch innerhalb der westlichen Demokratien entscheiden, denn "gerade in der dritten Generation der muslimischen Einwanderer ist europaweit eine zunehmende Entfremdung von den politischen Werten der Gastländer zu beobachten sowie eine Identifikation mit islamistischen Werten (also solchen des politischen Islams), die die panarabischen und sozialistischen Bestrebungen der Fünfziger- bis Siebzigerjahre vollständig ersetzt hat." Das geht so weit, dass an manchen Orten, wie zum Beispiel in den französischen Banlieus, "das staatliche Gewaltmonopol de facto nicht mehr" gelte: "Sodass sich die Frage stellt, wie lange westliche Linke die europäischen Muslime noch für deren Integrationsdefizite exkulpieren und Entwicklungen des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts (Kolonialismus, Rassismus) als Entschuldigung oder besser Selbstbeschuldigung ins Feld führen wollen. Könnte man doch auch gerade diesen Paternalismus, der die Muslime als ewige Opfer darstellt, die nicht in der Lage seien, sich so wie andere Völker der vormals Dritten Welt (wie zum Beispiel Koreaner, Inder, Vietnamesen) in eine rechtsstaatliche Moderne zu entwickeln, als besonders perfide Form des Rassismus interpretieren."

Auch Güner Yasemin Balci, Integrationsbeauftragte von Neukölln, sieht in der beschwichtigenden Haltung gegenüber Islamisten etwas "unangenehm Paternalistisches": Mit Blick auf das Attentat von Mannheim macht sie im FAS-Interview mit Livia Gerster deutlich, dass diese radikalen Tendenzen in Deutschland viel zu lange ignoriert wurden. Sie betont aber auch, dass sich gerade Muslime der Gefahr viel bewusster sind als die deutsche Gesellschaft und auch im linken Milieu hat sich etwas getan: "Es gibt viele Stimmen aus dem linken Milieu, die sich gegen linken Antisemitismus positionieren und gegen die Verherrlichung von Islamisten. Die stärksten Stimmen, die sich gegen muslimischen Extremismus positionieren, sind Menschen aus der muslimischen Kultur. Das muss man anerkennen. Sie argumentieren sehr differenziert und aus einem großen Erfahrungsschatz heraus, da können andere gar nicht mithalten. Ich wünsche mir, dass migrantische, progressive, liberale Stimmen viel mehr gehört werden. Das müssten eigentlich die Koryphäen sein, an denen man sich orientiert - statt an der AfD, die ständig unsere Probleme für sich instrumentalisiert."

Wer soll Palästina nach dem Krieg regieren? Lisa Schneider schlüsselt in der taz die verfahrene politische Situation in Gaza und dem Westjordanland auf. Eine große Mehrheit der Bevölkerung hat das Vertrauen in die Palästinensische Autonomiebehörde verloren, die sowohl von Israel als auch von der Hamas geschwächt wurde: "Sie kann gegen die Hamas und die vielen weiteren inneren politischen Gegner kaum bestehen. Die Hamas genießt mehr Rückhalt in der Bevölkerung, ist aber für Israel und den Westen eine rote Linie. Andere Palästinenservertreter, die regierungsfähig wären, gibt es derzeit nicht. Trotz alldem sehen sowohl Musa Hadid (ehemaliger Bürgermeister von Ramallah, Anm. d. Red.) als auch der Militärhistoriker Seth Frantzman eine Stärkung der PA als derzeit wohl beste Option. 'Sie ist von über 140 Staaten als Vertreter der Palästinenser anerkannt', sagt Frantzman. 'Man sollte mehr tun, um sie vor dem Zusammenbruch zu bewahren.' Und das wäre für die westliche Staatengemeinschaft grundsätzlich möglich, egal ob Netanjahu - wie in Gantz' Ultimatum gefordert - einen Plan vorlegt oder nicht."
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Kulturpolitik

"Jetzt drehen die Schlosskritiker wirklich durch", kommentiert Marcus Woeller in der Welt, nachdem unter anderem Philipp Oswalt, der Historiker Jürgen Zimmerer, Max Czollek oder der neue Vizepräsident der Berliner Akademie der Künste Anh-Linh Ngo in der Petition "Schlossaneignung" fordern, "die mit dem Nachbau der Berliner Schlossfassaden erfolgte Preußenverherrlichung aufzubrechen" und Geschichte sowie "kulturelle Aneignung" des Baus "mit künstlerischen Mitteln wieder am Ort anschaulich zu machen". So sollen etwa im Krieg eingestürzte Fassadenstücke kenntlich gemacht werden, "die einst von einer Brandbombe zerstörte Kuppel könnte entsprechend großzügig markiert, Artilleriebeschusslöcher würden auch den erst vor wenigen Jahren neu gefrästen Bauelementen hinzugefügt, ein vergessenes Loch im Schlüterhof wieder ausgehoben werden und auch vom 'Berliner Unwillen von 1448, als sich die Bürger von Berlin und Cölln gegen den Schlossbau zur Wehr setzten' soll man irgendwo in der Fassade wieder lesen können - das ist Fake-Bombing verzweifelter Schlosskritiker in ihrem verlorenen Kampf gegen die Schlossbefürworter."

In der FAZ fragt Claudius Seidl, warum Claudia Roth eigentlich ständig Ärger bekommt und empfiehlt ihr, ein bisschen mehr Mut zur Konfrontation, gerade, wenn es komplex wird: "Gegen die Bösen hat sie immer gestritten, gegen Patriarchen, Frauenfeinde, Klimakiller, Menschenrechtsverweigerer, Autokraten und Diktatoren. Was allerdings den Vorteil hat, dass kaum jemand widerspricht. Und den Nachteil, dass solch leidenschaftliches Einrennen offener Türen selbst Sympathisanten pompös erscheint und auf den Wecker geht. Bis heute kann sie den Antisemitismus nicht verurteilen, ohne gleich die Verurteilung des Rassismus und jeder gruppenbezogenen Menschlichkeit hinterherzuschieben. Politik ist aber etwas anderes. Politik ist Streit mit Gegnern, die nicht das absolut Böse verkörpern - gegen die man sich aber trotzdem durchsetzen muss."
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Europa

In der taz wundert sich Lea Fauth darüber, wie gut sich deutsche Politiker und Politikerinnen, allen voran Ursula von der Leyen, mit rechten Regierungen wie der Italiens oder Ungarns verstehen. Dabei dränge "sich der Verdacht auf, dass die menschenfeindliche Politik der rechten Regierungen von den EU-Mitteparteien eben nicht nur als Kollateralschaden eines Kompromisses billigend in Kauf genommen wird - sondern Teil einer gemeinsamen Ideologie ist: der einer mörderischen Festung Europa." Die gemeinsame "Abschottungspolitik" zeige, so Fauth: "Es ist nicht nur ein pragmatischer Kompromiss, sondern eine von ideologischen Gemeinsamkeiten gespickte Allianz, die dieses Mal entsteht. Die Brandmauer ist nicht nur gekippt, sondern auf ihren Trümmern wird der rote Teppich ausgerollt. Hofiert werden jene Rechtsextremen, die erstens Ursula von der Leyens Macht erhalten und zweitens den geopolitischen Dogmen ihrer Partei folgen."

Ähnlich argumentiert die türkische Schriftstellerin und Journalistin Ece Temelkuran auf Zeit Online: "Warum sollte man auch nicht zusammenarbeiten, wenn die Missachtung der Menschenrechte durch die Rechtsextremen und ihr Hass auf die Linken auch von der politischen Mitte vorsichtig geteilt wird? Gibt es denn noch eine Demokratie, die vor den Rechtsextremen geschützt werden muss, wenn doch alle Meinungsumfragen zeigen, dass das Vertrauen in die Demokratie zerbrochen ist? Und wen interessiert das eigentlich wirklich? Bei der Rettung Europas geht es jetzt nicht mehr um die Stärkung der Demokratien oder die Unantastbarkeit der Menschenrechte, sondern um den Schutz der physischen Grenzen. Bei diesem Spiel sollen alle Mitspielenden glauben, dass Liberale, die neoliberale Politik machen, Wohlstand bringen können. Falls seit 2008 überhaupt noch jemand daran glaubt."
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Geschichte

Mit dem Ende des osmanischen Kalifats begann der Aufstieg des radikalen Islam - der Historiker Rasim Marz zeichnet in der NZZ die Folgen nach, die der Niedergang des Osmanischen Reiches für heutige Entwicklungen hatte: "Während der letzte osmanische Kalif Abdülmecid II. in Europa versuchte, das Kalifat zu restaurieren, gründete 1928 der Volksschullehrer und geistige 'Vater des modernen Islamismus', Hasan al-Banna, die Bewegung der Muslimbruderschaft im britisch dominierten Ägypten. Sein Ziel war die Schaffung eines neuen Kalifats, das sich gänzlich von dem Weltbild der Osmanen unterschied: antieuropäisch, antikolonialistisch, antisemitisch und antikapitalistisch. Die Muslimbrüder um al-Banna, Sayyid Qutb (1906-1966) und den Grossmufti von Jerusalem, Mohammed Amin al-Husseini, entwickelten mit dem Islamismus eine totalitäre Ideologie, die den religiösen islamischen Raum politisch zu durchdringen begann."
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Gesellschaft

Geraldine Rauch will vorerst nicht als Präsidentin der TU zurücktreten, berichten die Feuilletons. Die Entscheidung wird von vielen Seiten kritisiert, meldet die FAZ, außerdem wird Rauch nicht mehr am von Olaf Scholz einberufenen "Zukunftsrat" teilnehmen. In der SZ findet Jan Heidtmann, man solle ihr eine zweite Chance geben: "Natürlich hat sie grob fahrlässig gehandelt; die Frage ist vollkommen berechtigt, ob sie damit dieses Amtes noch würdig ist. Viele, die an der TU studieren und arbeiten, halten der Präsidentin aber auch zugute, dass sie all die Debatten an der Universität seit dem Massaker der Hamas gut moderiert hat. So ist es, anders als an anderen Universitäten, an der TU bisher nicht zu Besetzungen durch propalästinensische Gruppen gekommen. Und Rauch hat angekündigt, aus ihrem Fehler lernen zu wollen. Dazu gehören eine persönliche Sprechstunde für jüdische Studierende und mehr Beratung für Betroffene von Antisemitismus. Bei Protesten gegen jüdische Studenten wolle sie sofort einschreiten. Daran sollte man sie jetzt messen."

Der Kampf zwischen Links und Rechts wird von jeher auch auf dem weiblichen Körper ausgetragen, legt Rieke Havertz auf Zeit Online dar. Doch in den letzten Jahren verstärkt sich die Instrumentalisierung des Frauenkörpers durch den Aufstieg rechtsnationaler Kräfte, Freiheiten, die längst gegeben waren, werden wieder rückgängig gemacht. In Italien gilt nun das schärfste Abtreibungsgesetz seit 45 Jahren, erinnert Havertz: "Das hat Italiens rechte Regierung von ihren ideologischen Freunden in Ungarn gelernt. Auch unter dem rechtskonservativen Viktor Orbán gilt dort seit Herbst die Regelung, dass Frauen vor einer Abtreibung die Herztöne des Fötus anhören müssen… Italien, Ungarn, die USA sind Länder der westlichen Welt, in denen der weibliche Körper wieder politisiert und zum Gegenstand gesellschaftlicher Debatten gemacht wird. Paradoxerweise spiegelt das nicht mal die Mehrheitsmeinung der Bürgerinnen und Bürger wider. Das überparteiliche US-Meinungsforschungsinstitut Pew Research Center hat im vergangenen Jahr Umfragen in 24 Ländern weltweit durchgeführt. In fast allen ist die Mehrheit für das Recht von Frauen, legal eine Schwangerschaft abbrechen zu können. In Italien sind es demnach 79 Prozent, in Ungarn 81, in den USA 62 Prozent."
Archiv: Gesellschaft