9punkt - Die Debattenrundschau

Mal bloß nicht überreagieren

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.05.2024. Die taz wirft einen besorgten Blick auf die kommenden südafrikanischen Wahlen. In der SZ bekennt Etgar Keret seine Verzweiflung über die israelische Regierung. Das ZDF zeigt am Beispiel des Bombardements von Rafah, wie wichtig Faktenchecks sind. Auf gespenstische Weise abwesend ist das Thema Krieg in Europa in den aktuellen Wahlkämpfen, konstatiert Richard Herzinger in der Internationalen Politik.  Das Anwenden falscher Pronomen gilt als Gewalt, aber "From the river to the sea" und "Intifada" soll man einfach so brüllen dürfen, fragt Mirna Funk in der Welt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.05.2024 finden Sie hier

Politik

Auch in Südafrika wird gewählt, und es wird eine Schicksalswahl, da der ANC seine absolute Mehrheit verlieren könnte, berichtet Helena Kreiensiek für die taz: Im Vorfeld der Wahlen hätten populistische Parteien wie die MK des ehemaligen Präsidenten Jacob Zuma, "aber auch die linkspopulistische EFF (Economic Freedom Fightera) unter dem ehemaligen ANC-Jugendführer Julius Malema, wiederholt die Wahlkommission angegriffen und der Manipulation bezichtigt. ... Vor allem die EFF, deren Anführer Malema bereits zwei Mal wegen Hassreden verurteilt wurde, treibt mit radikalen Forderungen wie der Landenteignung von Weißen einen Keil in den dünnen Kitt, der Südafrika zusammenhält."

Die Zeit lässt den Historiker Michael Wolffsohn und den Ex-Linken-Politiker Jan van Aken, der heute für die Rosa-Luxemburg-Stiftung tätig ist, darüber diskutieren, ob Deutschland Palästina als Staat anerkennen soll. Nicht jetzt, meint Wolffsohn: "Wir wissen aus der Geschichte der Entkolonialisierung, dass die vermeintliche Befreiung oft nur der Übergang von einer Form der Unterdrückung in eine andere war. Und genau das droht im Fall einer Anerkennung Palästinas, wenn die demokratische Verfasstheit keine Rolle spielt. Das kann man machen, aber dann soll man nicht sagen, das habe irgendetwas mit Moral oder Ethik zu tun." Aken widerspricht: "Das Völkerrecht ist eine zivilisatorische Errungenschaft und damit selbst ein sehr wichtiger Wert. Und wenn Deutschland sagen würde, nur lupenreine Demokratien werden als Staaten anerkannt, dann müssten wir sehr vielen Staaten die Staatlichkeit aberkennen."

Der israelische Schriftsteller Etgar Keret sendet im SZ-Feuilleton einen "Hilferuf" aus Israel. Der Vorwurf des Völkermords ist übertrieben, schreibt Keret, und doch hat es keine "verabscheuungswürdigere" Regierung in Israel gegeben, meint er: "Der Minister für Kommunikation beschlagnahmt Fotoausrüstungen bei der Agentur Associated Press. Der Finanzminister ruft zur 'völligen Zerstörung' von Rafah im Gazastreifen auf. Der Minister für nationale Sicherheit twittert 'Hamas liebt Biden', sein Fahrer missachtet eine rote Ampel und verletzt einen israelischen Bürger. Der Premierminister beantragt in Kriegszeiten eine Anhörung wegen der Renovierung des Swimmingpools in seinem Privathaus. Soldaten der israelischen Armee posten in den sozialen Medien Clips, in denen sie Korane verbrennen, höhnisch die Unterwäsche von Frauen aus dem Gazastreifen herumzeigen und Puppen aus Kinderzimmern rauben."

Aber Israel werden natürlich noch viel schlimmere Vorwürfe gemacht. Während es in den Zeitungen noch recht gesittet zugeht, toben auf Twitter die schwersten Anschuldigungen.

Anlass ist das Bombardement in Rafah am Sonntag, bei dem laut Hamas 45 Personen ums Leben kamen - grauenhafte Bilder zirkulieren in den sozialen Medien. Ziel des eigentlich als präzise geplanten Bombardements seien zwei Spitzenfunktionäre der Hamas gewesen, die auch tatsächlich getroffen wurden, heißt es. Israel untersucht den Vorfall (mehr hier), es gibt die Theorie, dass das verheerende Ausmaß der Bombardierung durch Sekundärexplosionen ausgelöst wurde, weil die Hamas in den Flüchtlingslagern Waffen lagert, aber noch ist das Geschehen natürlich nicht geklärt. Offenbar wurde einem Baby durch eine der Explosionen der Kopf abgetrennt oder zerstört - so dass es nun heißt, Israel köpfe Babies. Es gibt allerdings auch Medien, die Besonnenheit wahren, wie dieser Faktencheck des ZDF zeigt: Hier wird nachgewiesen, dass das Bombardement zumindest nicht in den von Israel designierten Schutzzonen stattfand.

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Europa

Im Krieg ist man, wenn man durch den Feind zur Kriegspartei erklärt wird. Die Behauptung von Olaf Scholz, man tue alles, um nicht Kriegspartei zu werden, ist darum Augenwischerei, schreibt Richard Herzinger in einem Essay für die Zeitschrift Internationale Politik. "Wie wenig sich ... die deutsche Öffentlichkeit der existenziellen Bedrohung durch die russische Aggression nach wie vor bewusst ist, zeigt sich daran, dass dieses Thema im aktuellen Wahlkampf zur bevorstehenden Europawahl auf gespenstische Weise abwesend ist. Die demokratischen Parteien überlassen es weitgehend der 'Friedens'-Demagogie der kremlhörigen Gruppierungen von rechts und links, die den Westen einseitig entwaffnen wollen. Und dabei nicht ohne Wirkung bleiben."

Hier noch ein wunderbarer Tweet zu den kommenden Wahlkämpfen:


Die in Wien lebende slowakische Schriftstellerin Susanne Gregor sendet der NZZ ein Stimmungsbild aus der Slowakei, die schon vor dem Attentat auf Robert Fico tief gespalten war: "In ein 'wir' und ein 'sie', in die 'Guten' und die 'Bösen', die 'guten traditionellen Leute auf dem Land' und die 'bösen Liberalen in den Großstädten', in die 'Arbeiterklasse' und die 'entrückte Bratislava-Kaffeehaus-Elite', in die Verschwörungstheoretiker und die Aufgeklärten, in jene, die nach Osten zum großen Bruder Russland blicken, und jene, die sich nach Westen hin und an europäischen Werten orientieren. So verlor sich das Land auf der Suche nach einer eigenen Identität. Es entstand eine Spannung, die nicht bloß ideologisch, sondern auch emotional aufgeladen ist. Ficos autokratische Tendenzen werden weitherum durchaus begrüßt. Denn während man sich vor dreißig Jahren noch einig war, dass die Demokratie das beste politische System sei und lebenswerter als eine Diktatur, so herrscht heute eine große Ernüchterung vor über die chaotische Regierungsführung der letzten Jahre. Die Bürger bringen die Krisen der jüngsten Vergangenheit mit einem Versagen der Demokratie als System in Verbindung und sehen sich nach Alternativen um."

Heute vor fünfzig Jahren ereignete sich der Anschlag von Brescia, eines der blutigsten neofaschistischen Attentate in Italiens Nachkriegsgeschichte. Der Historiker Davide Conti erinnert im Tagesspiegel-Gespräch nicht nur an die Hintergründe, sondern sieht auch eine direkte Linie zwischen Giorgio Almirante, dem Parteichef der neofaschistischen MSI und Giorgia Meloni: "Es gibt den Faschismus nicht mehr wie einst, aber er kann weiter operieren. Man macht weiter entsprechend Politik, nur eben nicht mit dem Schlagstock und im Schwarzhemd. (…) Meloni plant eine tiefgreifende Änderung der republikanischen Verfassung. Denn der Postfaschismus hat sie nie akzeptiert. Meloni nennt diesen Umbau 'die Mutter aller Reformen', damit steht sie in einer Linie mit Almirante. Der forderte in jeder Legislaturperiode, die er im Parlament saß, also bis 1988, eine Präsidialverfassung. Nur dass anstelle des starken Manns jetzt eine starke Frau stehen und die Rolle der Premierministerin statt des Staatsoberhaupts gestärkt werden soll."

Sieben Menschen wurde beim russischen Angriff auf die Druckerei des Vivat-Verlags in Charkiw getötet, zwanzig verletzt. Zudem wurden 55.000 Bücher vernichtet, berichtet Sonja Zekri, die für die SZ mit der Verlegerin des Verlags, Julia Orlowa gesprochen hat: "Für die Ukraine ist die Zerstörung eine Katastrophe. Hier wurden nicht nur unsere Bücher gedruckt, sondern die Hälfte aller Bücher der Ukraine, dazu übrigens auch Bücher für den deutschen Markt. Die Druckerei ist fünfzig Jahre alt. (…) Dieser Angriff war ein Verbrechen an unserer Nation, an unserer Kultur. Die Toten bringt niemand zurück, so furchtbar das ist. Aber wir müssen wieder Bücher drucken, sonst wäre es das Ende unserer Entwicklung."
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Gesellschaft

Dass Anwenden falscher Pronomen gilt als Gewalt, aber "From the river to the sea" und "Intifada" darf man einfach so brüllen?, fragt Mirna Funk in der Welt Kollegen wie Charlotte Wiedemann (taz) und Patrick Bahners (FAZ), die auf X derartige Rufe als nicht zwingend gewalttätig verteidigen. Funk erinnert: "Was Juden denken, fühlen, wissen, spielt in der deutschen Mehrheitsgesellschaft und insbesondere bei den Intellektuellen keine Rolle. Ununterbrochen wird Juden die Definitionshoheit über die eigene Identität, über das eigene Leben und Schicksal entzogen - so als seien sie als Gruppe nicht mehr zurechnungsfähig. Getarnt als ein großväterliches Über-den-Kopf-Tätscheln - 'Lass mich mal, ich mach das schon!' - ist dieses Verhalten aber eigentlich pure, gewalttätige Ignoranz. Die jüdische Community muss die täglich herausgeschrieenen Vernichtungsfantasien von Aktivisten und Studenten aushalten - und sich zugleich sagen lassen, dass sie mal bloß nicht überreagieren sollte. Nein, nein, die wollen euch nicht vernichten, die wollen nur die Palästinenser befreien!"

Die größte antisemitische Bedrohung in Deutschland geht laut dem "Lagebild Antisemitismus" des Bundesamts für Verfassungsschutz nach wie vor vom Rechtsextremismus aus. Was die FAZ aus dem Bericht zitiert, klingt aber so naiv, als hätte sich das Amt mit anderen Spielarten des Antisemitismus noch gar nicht beschäftigt: "Es seien zudem zeitweilige Allianzen zwischen Gruppen aufgefallen, die sonst wenig Schnittmengen hätten. So seien etwa die Überzeugungen von Islamisten und Linksextremisten in wesentlichen Aspekten unvereinbar; doch nun hätten sie temporär ihre grundsätzliche Ideologie dem antisemitischen Ideologieelement untergeordnet."

Man kann den Teufel natürlich auch mit dem Beelzebub austreiben. Die TU Berlin hat Uffa Jensen vom Zentrum für Antisemitismusforschung als Antisemitismusbeauftragten auserkoren - und die Jüdische Gemeinde protestiert laut der Jüdischen Allgemeinen. "Uffa Jensen gehört ... zu den Unterzeichnern der Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus, der zufolge etwa die BDS-Bewegung genauso wenig antisemitisch ist wie Israel einen 'Apartheidstaat' zu nennen." Das wäre natürlich perfekt, um weitere eventuelle Uni-Besetzungen zu entschärfen.

Hier sind einige der Graffiti aus der HU-Besetzung dokumentiert.

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Ideen

Nicht Theodor Herzl oder Hannah Arendt, und schon gar nicht Omri Boehm trugen sich als erste mit der Idee eines binationalen Staates, schon der Prager Zionismus innerhalb des Intellektuellenzirkels Brit Schalom dachte darüber nach, entnimmt Michael Hesse (FR) der bereits 2005 veröffentlichten Dissertation "Zweisprachigkeit und binationale Idee" von Dimitry Shumsky: "In Prag dominierte zu dieser Zeit der Gegensatz zwischen Tschechen und Deutschen. Mittendrin eine jüdische Bevölkerung, die sich weder für die eine noch andere Seite hätte entscheiden können, so die Ansicht von wissenschaftlichen Arbeiten vor Shumskys Dissertation: Die jüdische Bevölkerung hätte sich entweder als deutsche Juden oder als tschechische Juden verstehen müssen und sei darin gescheitert. Der Prager Zionismus sei das Resultat dieses Scheiterns. Shumsky zeigte jedoch, dass die Gruppe um Kafka und Brod ganz anders dachte und sich nicht auf einen jüdischen Nationalismus einließ, der den Partikularismus als oberste Prämisse anerkannte. Kurz: Sie dachten universalistisch statt national, wie viele Jahrzehnte später eben Omri Boehm."
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Medien

Seit zwanzig Jahren ist Giovanni di Lorenzo Chefredakteur der Zeit, die NZZ schenkt ihm ein zweiseitiges Interview, in dem es unter anderem um die Ausrichtung der Zeit geht. "Wir bilden zu wenig den Alltag der Menschen ab, die uns lesen, besonders wenn sie nicht in großen Städten leben", räumt Lorenzo ein: "Und wir haben manchmal eine gewisse Scheu, uns zum Beispiel mit den problematischen Seiten der Migration auseinanderzusetzen - aus der Angst heraus, dass man dafür Applaus von der falschen Seite bekommen könnte, also rechte Narrative bedient. Da bin ich absolut gegenteiliger Meinung. Gefährlich ist es, wenn man diese Themen nicht behandelt."
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Stichwörter: Lorenzo, Giovanni Di

Kulturpolitik

Weder eine Frau noch jemand aus dem Osten wollte die Stelle, sagt der Komponist Manos Tsangaris, der gemeinsam mit dem Architekturpublizisten Anh-Linh Ngo nach Jeanine Meerapfel und Kathrin Röggla die Akademie der Künste leitet. Noch immer gebe es "Verwerfungen" zwischen Ost und West innerhalb der Akademie, berichtet er im Gespräch mit der Berliner Zeitung: "Das merkt man, wenn die Älteren aus dem Westen von den wunderbaren siebziger Jahren erzählen oder die aus dem Osten daran erinnern, bei wem man Meisterschüler sein konnte und welcher offene Geist in dem geschützten Raum der Akademie der Künste der DDR geherrscht hat. Es sind wichtige Gebräuche und Gepflogenheiten der Ost-Akademie sehr schnell abgeschafft worden, das weiß ich inzwischen. Und in Dresden wurde mir bewusst, wie viele Probleme des asymmetrischen Vereinigungsprozesses gesamtgesellschaftlich noch nicht einmal gesehen werden. 90 Prozent des Grundbesitzes im Osten sind in westlicher Hand - man muss sich mal vorstellen, welche Bedeutung das für die einzelnen Menschen hat."

Jan Brachmann stellt Manos Tsangaris in der FAZ vor. Im Tagesspiegel verkünden Tsangaris und der Architekturpublizist Anh-Linh Ngo als neuer Vize-Präsident ihre Pläne für die Zukunft.
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