Vom Nachttisch geräumt

Schweißtuch in Marmor

Von Arno Widmann
17.07.2015. Der Vatikan: Architektur - Kunst - Zeremoniell. Ein Prachtband für den inzwischen leergeräumten Nachttisch der frommen, kunstinteressierten Tante
Der Band ist im Belser-Verlag erschienen. Also sind die Abbildungen großartig. Der Liebhaber von Details kommt auf seine Kosten. Mit anderen Worten: Man sieht alles viel besser, als man es vor Ort - ohne ein Fernglas - täte. Da ist zum Beispiel die das Schweißtuch Christi schwingende Heilige Veronica des Francesco Mochi, eines italienischen Bildhauers des Frühbarock. Eine Großaufnahme zeigt den Abdruck des Gesichts Christi im Schweißtuch. Der Text erinnert an die Auseinandersetzungen um die Bezahlung. Die Kirche versuchte den Preis zu drücken. Das Schreiben, mit dem sich der Künstler dagegen wehrte, ist überliefert und wird hier zitiert. Dergleichen erdet unseren Zugang zu den Werken. Für Verrückte wie mich ist natürlich großartig, dass die 140 Statuen auf den den Petersplatz umsäumenden Kolonnaden alle genannt werden. Ich kann jetzt beim nächsten Weihnachtssegen mit dem Band vor dem Fernseher sitzen und wann immer die Kamera vom Papst über den Petersplatz gleitet, feststellen, ob es sich hier um den Heiligen Spyridon, die Maria Magdalena de Pazzi oder Filippo Neri handelt.



Damit ist noch nicht viel geholfen. Aber für weitergehende Ermittlungen gibt es das Internet. Der Heilige Spyridon zum Beispiel ist der Schutzpatron Korfus. Die Pazzi waren eine Florentiner Adelsfamilie. Maria Magdalena de Pazzi eine Mystikerin des ausgehenden 16. Jahrhunderts. Bei Wikipedia heißt es - sicher unüberprüft: "Ihr unverwester Körper liegt seit 1888 in einem Reliquiar im Karmel Santa Maria Maddalena dei Pazzi in Florenz". Philipp Neri schlagen Sie am besten selbst nach, denn ich möchte noch ein paar Worte zu dem Buch verlieren. Es beschäftigt sich vor allem mit der Peterskirche und dem Petersplatz. Das ist natürlich nur ein Bruchteil dessen, was den Vatikan ausmacht. Die riesigen Kunstschätze der vatikanischen Museen spielen keine Rolle. Ein paar Seiten sind dem Apostolischen Palast und seiner Ausschmückung gewidmet und noch weniger den Gärten. So spielt die Frage der Provenienz der kirchlichen Schätze keine Rolle. Der Gedanke an Raubkunst kommt nicht auf. Denn hier hat man es fast ausschließlich mit Auftragsarbeiten für eines der größten Bauvorhaben des Abendlandes zu tun. Es hat, daran werden wir jetzt in den Jahren der Vorbereitung auf den Gedenktag der Reformation immer wieder erinnert, wesentlich mit zur Spaltung der katholischen Kirche beigetragen. Die Finanzierung des Petersdomes wurde - so geht die Geschichte - durch Ablasszettel - "Wenn das Geld im Beutel klingt, die Seele aus dem Fegefeuer springt" - ermöglicht. Eine Art päpstliches crowdfunding. Wie dann auch bei späteren Modellen wussten die Zahler nicht, wofür sie zahlten.

Wer den Band zu lesen beginnt, stößt auf den sehr interessanten Beitrag von Martine Boiteux "Prunk als zentrales Element im päpstlichen Zeremoniell des Barock". Er beginnt mit den Sätzen: "1565 wurde im Cortile del Belvedere letztmals ein Turnier abgehalten. Fortan fanden alle "profanen" Feierlichkeiten des päpstlichen Hofes und der päpstlichen Familie nicht mehr im Vatikan, sondern im Familienpalast des Papstes statt." Das ist ein Ergebnis der katholischen Reform, die eine Reaktion auf die Reformation war. Man signalisierte, dass man verstanden hatte. Das hieß aber nicht, dass man auf Pomp and Circumstances verzichtete. Im Gegenteil, die Glorie des Papsttums wurde gefeiert wie lange nicht mehr. Ein Gutteil von dem, was wir heute als Barock betrachten, kommt aus dieser Wiederentdeckung und demonstrativen Betonung der überirdischen Herrlichkeit Gottes und seiner irdischen Vertreter. Weit weg jede Erinnerung an eine Zeit, in der die Nachfolge Christi darin bestehen sollte, sich seinem irdischen Auftreten als armer Mann armer Leute anzunähern. Mit Franziskus hat die Peterskirche nichts zu tun. Sie ist der gewaltigste Gegenentwurf zu den Lehren und dem Vorbild des Heiligen Franz. Man kann heute den Band nicht anschauen, ohne daran zu denken.

Der Vatikan - Architektur - Kunst - Zeremoniell, Belser Verlag, München 2014, übersetzt von Bernd Weiß, 352 Seiten, 300 farbige Abbildungen, 148 Euro.