Vom Nachttisch geräumt

Catch me if you can

Von Arno Widmann
17.07.2015. Alexander Kluge kann einfach zu viel. Wenn er spricht, kommt man nicht mit. Als Einstiegsdroge für die dicken Bände empfehlen sich daher zwei schmale mit vielen Fotos von Stefan Moses und Digne Meller Marcovicz.
Am 14. Februar 1932 wurde in Halberstadt Alexander Kluge geboren. Wäre er nichts als Autor, jeder würde ihn einen der wichtigsten Autoren Deutschlands nennen. Wäre er nur Filmregisseur, spätestens seit dem "Abschied von Gestern" im Jahre 1966 gälte er als einer der größten deutschen Filmregisseure. Wäre Alexander Kluge Professor für Philosophie an einer Universität, er wäre einer der bekanntesten deutschen Philosophen. Wäre er Medienpolitiker, er gälte als einer der erfolgreichsten in Deutschland. Gäbe es nur seine DCTP-Kulturmagazine bei den Privatsendern RTL, SAT1 und Vox, er gälte als Weltmeister der freien Assoziation. Aber da er all das machte und immer noch macht, gilt er den Bewohnern und den Beobachtern eines jeden dieser Milieus als fremder Eindringling, der hochbegabt und immer anregend, mit Lust die hohe Kunst des Regelverstoßes pflegt.

Wer, wie ich das gerade tue, die verschiedenen Künste aufzählt, in denen Kluge brilliert, tut so, als habe man es mit einem Menschen zu tun, der seine hoch entwickelten Fertigkeiten - habe ich den Juristen erwähnt? - übereinanderstapelt und jetzt vor uns steht wie ein indianischer Totempfahl, an dem eine Maske die nächste ablöst. Man sieht nicht das Ganze, man spricht nicht vom Künstler, der sich der Künste bedient und immer er selbst bleibt: neugierig auf die äußere wie die innere Natur und hinter ihr herbildend, in der Hoffnung, ihr auch einmal voraus zu sein. Diesen einen Künstler, der immer er ist, bekommt man so nicht zu Gesicht. Alexander Kluge kann einfach zu viel. Wenn er spricht, kommt man nicht mit. Man schaltet auf Stopp und macht sich seine Gedanken, hinkt ihm unbeholfen hinterher. Das ist beschämend. Wer mag sich dem aussetzen? Seine Geschichten sind kurz. Aber sie erscheinen in dicken Bänden. Wann soll ich die lesen, denkt der Buchliebhaber. Und noch mehr denkt das der Rezensent. Hunderte von Seiten sind zu lesen, um die 150 Euro für eine kleine Besprechung zu bekommen.

Vor Jahrzehnten war die Situation anders. Damals gab es Tausende, die wochenlang zum Beispiel in dem gemeinsam mit Oskar Negt verfassten Monumentalwerk "Öffentlichkeit und Erfahrung - Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit" (1972, hier die Kritik von Raddatz in der Zeit 1973) oder zehn Jahre später in dem Cinemascopegedankengebäude "Geschichte und Eigensinn" versanken. Man tat das damals nicht nur allein. Man traf sich in Wohngemeinschaften und las, wie man es an der Universität gelernt hatte, Abschnitt für Abschnitt gemeinsam, diskutierte darüber, stritt mit einander, scheiterte und machte weiter und gab dann doch wieder auf. Tausende der heute Siebzigjährigen haben diese Erfahrungen gemacht. Sie sind immer wieder an Kluge gescheitert. Jeder an einer anderen Stelle und doch alle wohl immer am selben: an seiner vielgestaltigen Größe. Im Dezember 2014 erschien "Geschichte und Eigensinn" erstmals auf Englisch. Vielleicht kommt von dort ein neuer, ein freier Blick auf das Massive Centrale der bundesrepublikanischen Nachkriegskultur.

Wer sich nicht herantraut an die dicken Bände, der sei hingewiesen auf zwei schmale Bände mit vielen Fotos. Da sind zunächst die Fotos von Stefan Moses, geboren 1928 im niederschlesischen Liegnitz. Alexander Kluge hat Texte dazugeschrieben oder auch bereits vorhandene dazugestellt. Man sieht zum Beispiel die Aufnahmen, die Stefan Moses von Adorno machte, die den Philosophen vor einem Spiegel zeigen, wie er sich mit einem Selbstauslöser fotografiert. Dazu ein Text von Kluge, der auf einem der Fotos selbst im Hintergrund einen Auftritt hat. Kluge erzählt, Adorno nach seinem Tod begleitend, wie es auf dem Parnass aussieht: kein wonniger Wohnort, sondern eine Durchgangsstation. "In der Ferne", schreibt Kluge, "sieht man fliehende Götter." Der Leser ist bewegt, aber er weiß nicht wirklich wovon und schon gar nicht wohin. Er fühlt sich aus der Ordnung seiner Gedanken geworfen, ja umhergewirbelt. Vor allem aber fühlt er: er lebt. Nach jedem dieser Texte braucht er Ruhe und immer wieder braucht er sie auch mittendrin. (Theodor W. Adorno, Philosoph, Frankfurt am Main, 1963, Foto: Stefan Moses)

Zum Beispiel bei jenem über "Heiner Müller und die Gestalt des Arbeiters". Solange es nur um Heiner Müllers Idee geht, Herakles sei die erste mythische Gestalt des Arbeiters, scheint alles klar, dann aber mischt Kluge den Text auf. Er nimmt die Geschichte von der Entstehung der Milchstraße - der am Busen der Muttergöttin Hera saugende Säugling Herakles verspritzte die göttliche Milch - zum Anlass, um von einer Astrophysikerin Inge Werdeloff zu berichten, die ihrerseits von einem Kongress der Gesellschaft für Astrophysik in Austin/Texas berichtet, wo sie in Erfahrung brachte, dass "sich im tieferen Inneren der Milchstraße eine Gravitationsfalle befindet, welche die kreisenden Spiralarme und die oberhalb des Halo sich formierenden Wolken aus schweren Neutrinos zu ihren Bewegungen veranlasst. Eine gewaltige organische Konstruktion", meint, so erzählt Alexander Kluge, Frau Dr. rer. Nat. Inge Werdeloff. Wer da nicht mitkommt und nachschlägt, der wird feststellen, dass eine Frau Inge Werdeloff googleunbekannt, also wohl eine Schöpfung des Fontanepreisträgers, des Erzählers Alexander Kluge ist.

Was mit der "organischen Konstruktion" gemeint ist, ist nicht herauszubekommen. Abbrechen mag der Leser aber nicht, also liest er weiter und schaut zu, wie Kluge noch eins draufsetzt. Die "gewaltigen Gravitationsmassierungen, die wir Gravitationsfalle nennen, weil sie sozusagen als "Geiz des Weltalls" alle Materie und Energie in sich hineinziehen, wiederum aus Durchlässigkeiten bestehen…. Dieser Geiz zeige, so Dr. Werdeloff, alle Zeichen einer "abstrakten Genusssucht"; aus ihren Poren gibt die Gravitationsfalle Substanz nach außen. Weswegen immer neue Universen entstehen müssen, parallele Welten, die gemeinsam die "Läßlichkeit der Natur" (Goethe) offenbaren. So lässt das "Weltall als Gestalt des Arbeiters" überhaupt keine Tendenz erkennen, sich von einem Anfang auf ein Unendliches oder auf ein Ende hin zu bewegen, sondern es gliedert sich in Vielfalt und Einfachheit, so dass immer eine Gegenbewegung, eine Gegenwelt die Erscheinung begleitet."

Ich kann mir keinen Leser vorstellen, der bei jedem dieser Schritt dabei war, der auch nur eine logische Folge in ihnen erkennt. Aber es wird viele geben, die den Charme auskosten, mit dem Alexander Kluge mittels seiner nicht nach zu vollziehenden Pirouetten bei einer Universaldialektik angekommen ist, mit der verglichen Engels" Naturdialektik ein Modellbaukasten für Erstklässler ist. Der kleine Text endet in einem Gespräch zwischen Alexander Kluge und Heiner Müller. Das letzte Wort gibt Alexander Kluge Heiner Müller und der sagt: "Man weiß, dass man falsch beobachtet hat, wenn es nur eins gibt." Der Satz ist zum Niederknien. Man schaut dann noch einmal zurück, will jetzt doch wissen, wie Kluge dahin gekommen ist, aber man findet den Weg nicht. Es fällt einem nur auf, dass die Rede vom "Geiz des Weltalls" nicht nur eine Metapher sein braucht. Sie könnte, wörtlich genommen, uns verdeutlichen, dass das vermeintlich Subjektive auch objektiv ist, dass wir beides immer zusammen sehen müssen. Sonst beobachten wir falsch.

Der andere kleine Band, auf den ich hier hinweisen möchte, bringt Fotos, die Digne Meller Marcovicz (1934 - 2014) zwischen 1962 und 2003 von Alexander Kluge, seiner Schwester, seiner Frau und seinen Kindern gemacht hat. Dazu kurze Texte von Kluge, Fragmente einer Autobiografie. Es hat etwas Anrührendes, den nicht einmal Dreißigjährigen zu sehen, der aussieht, als habe er das Abitur noch vor sich. Blitzgescheit schaut er lachend in die Kamera, hinter sich eine Stehlampe, vor sich zwei dicke vollgeschriebene Kladden. Anzug, weißes Hemd und Krawatte, aber er wirkt nicht seriös, sondern wie Leonardo DiCaprio in Steven Spielbergs Hochstaplerkomödie "Catch me if you can". Die Wahrheit ist aber, dass Alexander Kluge damals schon sein juristisches Referendariat bei Hellmut Becker, dem Justiziar des Frankfurter Instituts für Sozialforschung und seine Assistenz beim Filmregisseur Fritz Lang hinter sich hatte. Ich beginne, neidisch zu werden. Ich höre auf.

Le Moment fugitif, 84 Fotografien von Stefan Moses und 33 Geschichten von Alexander Kluge, Nimbus Verlag, Wädenswil am Zürichsee 2014, 128 Seiten, 85 s/w Fotos, 39 Euro.

Alexander Kluge/ Digne M. Marcovicz: Realismus des Herzens - Texte und Bilder, hrsg. von Wolfgang Jacobsen, edition text + kritik, München 2014, 127 Seiten, 100 s/w Fotos, 29,80 Euro.