Im Kino

Mit Verve das Leben

Die Filmkolumne. Von Fabian Tietke
08.05.2024. In ihrem neuen Film porträtiert die Dokumentaristin Heidi Specogna die in der Schweiz geborene Fotografin und Aktivistin Claudia Andujar. Nicht die filmischen Mittel stehen im Zentrum dieser Doku, sondern die Protagonistin selbst, sowie ihr Kampf für die Rechte und das Überleben der indigenen Bevölkerung Brasiliens.

Etwas mühselig gehen zwei ältere Menschen auf den Eingang des Centro de Arte Contemporânea Inhotim im brasilianischen Brumadinho zu. Als sie im Inneren vor den Fotos eines scheinbar unspektakulären Zelts im Amazonasgebiet stehen, steigen in der Fotografin Claudia Andujar und dem Missionar Carlo Zacquini Erinnerungen hoch. Der neuste Film der Schweizer Filmemacherin Heidi Specogna ist Andujar, ihrer Kunst und ihrem Engagement für die indigene Bevölkerung Brasiliens gewidmet.

"Die Vision der Claudia Andujar" beginnt biografisch. Andujar wird 1931 in der Schweiz geboren, verbringt aber ihre Kindheit im rumänischen Transsilvanien. Ihr jüdischer Vater und dessen Familie wird von den Deutschen während des Zweiten Weltkriegs verschleppt, er stirbt 1944 im Konzentrationslager Dachau. Andujar selbst flieht mit ihrer Mutter zurück in die Schweiz. Auf Vermittlung eines Onkels kommt sie als Jugendliche zum Studieren in die USA. Sie beschließt, sich selbst neu zu erfinden und beginnt zu reisen. 1965 fliegt sie mit einer Gruppe Missionare, darunter Zacquini, das erste Mal in den Norden Brasiliens zu den Yanomami - knapp zehn Jahre bevor die Yanomami regelmäßig Kontakt mit der Außenwelt haben. Bei dieser ersten Reise entstehen nur wenige Fotos. "Man muss das Vertrauen gewinnen, den Wunsch und das Interesse der Person wecken, fotografiert zu werden."

Wenige Jahre später plant die brasilianische Militärdiktatur eine Schnellstraße, die Perimetral norte, quer durch das Gebiet der Yanomami und anderer Bewohner_innen des Amazonasgebiets. Viele Dörfer weichen der Großbaustelle, Amazonasbewohner erkranken an Krankheiten, die durch das Bauprojekt eingeschleppt wurden. Aus der Fotografin Claudia Andujar wird eine Aktivistin für die Rechte der Amazonasbewohner, sie organisiert Impfkampagnen. Nach dem Ende der Militärdiktatur wird Anfang der 1990er Jahre schließlich erreicht, dass die Rechte der indigenen Bevölkerung Brasiliens besser geschützt werden, Schutzgebiete werden etabliert.


Wie viele der Filme Specognas ist auch "Die Vision der Claudia Andujar" formal zurückhaltend. Die Gestaltung macht der Protagonistin nie das Zentrum der Aufmerksamkeit streitig. Das erste Drittel des Films besteht zu großen Teilen aus Sequenzen eines Interviews der Regisseurin mit Andujar, unterbrochen vom Alltag in ihrer Wohnung in São Paulo. Die Bilder der Fotografin werden von Specogna mit Bewegtbildern der Gegenwart durchwoben, was Andujars Arbeiten in manchen Fällen etwas beiläufig erscheinen lässt, zugleich situieren diese Sequenzen die Fotos geografisch und sozial. In ihrem Regiestatement zum Film nennt Specogna zwei Fragen, die sie bei der Konzeption des Films leiteten: "Was ergibt sich aus der Arbeitsweise von Claudia Andujar für unsere filmische Herangehensweise bei einem Filmporträt über sie?" und "Wie eine schlüssige filmische Biografie erzählen angesichts dieser historischen Verwerfungen?"

Mit dem Wandel zur fotografierenden Aktivistin erweitert sich das Material des Films. Ausschnitte aus Fernsehbeiträgen und Dokumentarfilmen zeigen den Kampf um das Überleben der Amazonasbewohner. Als der Film in der Gegenwart ankommt, tritt die Person Claudia Andujar zurück hinter der Fortführung der Kämpfe um ein selbstbestimmtes Leben der indigenen Bevölkerung im heutigen Brasilien. Specogna zeigt junge Frauen beim Besuch des ersten Festivals für indigenen Film in Brasilia, führt Gespräche mit einer jüngeren Generation.

"Die Vision der Claudia Andujar" beginnt als klassischer, teils sogar etwas steifer Porträtfilm, doch dann streift der Film all das ab und dokumentiert mit Verve das Leben einer Fotokünstlerin, die sich bedingungslos für indigenes Leben in Brasilien einsetzt. Daneben liefert Specognas Film auch einen kurzen, aber ausgesprochen sehenswerten Abriss des Kampfes um ein selbstbestimmtes Leben und manchmal gar das Überleben der indigenen Bevölkerung Brasiliens. Seine Kraft und Eindringlichkeit in der Darstellung dieses Kampfes schöpft der Film nicht aus Empörung, sondern im Gegenteil aus der Nüchternheit, mit der er den Einsatz der Yanomami und Claudia Andujars dokumentiert.

Fabian Tietke

Die Vision der Claudia Andujar - Schweiz 2024 - Regie: Heidi Specogna - Laufzeit: 88 Minuten.