Im Kino

Am eigenen Leib

Die Filmkolumne. Von Tilman Schumacher
16.08.2023. Valeria Bruni Tedeschi widmet sich in ihrem neuen Film "Forever Young" jungen Leuten, die hoffen, am renommierten Théâtre des Amandiers in Nanterre Schauspiel studieren zu dürfen. Um ewige Jugend geht es dabei gerade nicht - sondern eher um die emotionalen und sonstigen Probleme, die das Jungsein mit sich bringt, wenn man nicht weiß, wohin mit seinen Gefühlen.



Zu Anfang gibt es noch keine Filmbilder, nur eine schwarze Leinwand, die Opening Credits und einen Dialog auf der Tonspur. Eine, der Stimme nach, junge Frau spricht halb im Flüsterton von ihrem Verlangen und dem Versprechen des Gegenübers, sie zu lieben. Eine ernste Männerstimme streitet ab, dass es eine Anziehung zwischen ihnen gäbe. Die Sätze folgen schnell aufeinander; beim Zuhören bleibt uns keine Zeit, über ihre Hintergründe nachzudenken: "Du hast gemurmelt, dass du mich liebst" - "Du warst betrunken" - "Ich war nicht betrunken" - "Doch." - "War ich nicht." - "Ich aber. Ich weiß nichts mehr." Die Erwiderungen des Mannes hallen nach. Wir befinden uns vermutlich in einem großen, leeren Innenraum. Alles ist auffällig akzentuiert; so spricht niemand im wahren Leben. Nun setzen die Bilder ein: wie auch später im Film sind es leicht wacklige, von einer Handkamera geführte, körperbetonte Bilder. Das Bildfeld ist nah an beide herangerückt, in Aufsicht sieht man seinen Hinterkopf, unter ihm ihre zerzausten blonden Haare und roten Wangen (Nadia Tereszkiewicz als Stella). Sie spielen einen Liebes-Akt, kurz darauf legt er ihr einen Geldschein hin.

Nachdem wir zunächst den Bühnenraum sahen, folgt nach einem Schnitt erneut eine Nahaufnahme, diesmal von einem graumelierten Mann mit streng konzentriertem Blick. Das vom Fenster einfallende Gegenlicht lässt sanft Zigarettenrauch durch die Luft schweben - Filmimpressionismus. Der Mann im Profil ist Pierre Romans (Micha Lescot), Direktor der Schauspielschule des Théâtre des Amandiers in Nanterre. Das ist der Ort, den Valeria Bruni Tedeschi in ihrem neuem Film "Forever Young" (im Original schlicht: "Les Amandiers") ins Zentrum rückt. Was wir in den ersten Minuten verfolgen - das wird nun klar - ist die Aufnahmeprüfung an dieser prestigeträchtigen, real existierenden Institution, deren modernistischer Glas-Beton-Bau wie eine Festung aus dem Pariser Vorortviertel ragt. Tatsächlich ist sie für alle, die in ihr beschäftigt sind, eine eigene Welt, die mit der restlichen kaum noch etwas zu tun hat. Wären da nicht Drogendeals und die konstante Angst vor Aids - "Forever Young" spielt mitten in den 1980ern. Da sahen die Autos hübsch aus, zugekokste Theaterleiter (Louis Garrel als der berühmte Pierre Chéreau) waren noch salonfähig und es wurde ziemlich viel gequalmt.





Etliche Anwärter:innen sind wie Stella zur Aufnahmeprüfung mit einer selbstgewählten Szene erschienen. Nur einige schaffen die erste Runde, noch weniger die nächste Hürde. Es fließen Tränen der Freude und solche der Verzweiflung, so, wie sich bei den Übriggebliebenen auch Konkurrenzdenken unter die Solidarität und Freundschaft mischt. Hier herrscht bei aller Lust am Schauspiel eben das Realitätsprinzip: Lehrer fixen mit ihren Schülern, Wünsche zerplatzen, Beziehungen stellen sich als Abhängigkeitsalbträume heraus. "Forever Young" beschwört die absolute Gegenwart der Jugend und kreist - in diesem Sinn mutet der internationale Verleihtitel eigenartig an - durchweg um ihren Verlust. Am Théâtre des Amandiers zu studieren heißt, am eigenen Leib die Härten des Erwachsenseins zu erfahren.

Auf die Frage der Auswahlkommission, warum gerade Theater, antworten die Bewerber:innen nach ihren Auftritten unvorbereitet, ganz intuitiv. Dass es sich um eine gesellschaftlich relevante Kunstform oder so etwas handle, scheint den Zwanzigjährigen herzlich egal. Spielen heißt für sie, die eigenen Gefühlsregungen zu bändigen, auch, sie krass nach außen zu stülpen (entsprechend häufig schlittern Szenen am Klischee hyperexaltierten Theaterschauspiels und -lifestyles entlang). Stella, die zu Beginn die ehrbare Dirne aus Sartres "La putain respectueuse" gab, sagt nun, sie habe Angst, dass ihr die Jugend zerrinnt, deshalb wolle sie zum Theater. Ihre neue Freundin und künftige Mitschülerin Adèle (Clara Bretheau) wiederum beschreibt die Verse Anderer zu sprechen als einen Weg, der innerlich empfundenen Leere zu begegnen. "Forever Young" ist kein Metafilm über das Verhältnis von Theater und Leben oder gar von Theater- und Filmmedium, sondern einer, der in analogen, auch auf dieser Ebene retroaffinen Bildern junge Menschen darstellt, die nicht wissen, wohin mit ihren Emotionen. "Ich fühle einfach zu viel", sagt Stella einmal verheult. Das könnte das Motto des Films sein.

Ohne konkretes Ziel, eher in einer Abfolge intensiv erlebter Momente, fächert Bruni Tedeschis Coming-of-Age-Film sein Ensemble auf und versucht, einfache Typologien zu umgehen. Die jungen Menschen sollen nicht wie Drehbuchschemata, sondern im Gegenteil schwer greif- und begreifbar wirken. Da man sie abseits der Theaterwände eh kaum zu fassen bekommt, lernen wir sie über ihre Aktionen und Reaktionen beim Proben kennen. Jede:r ist trotz der Gemeinschaftsarbeit doch irgendwie für sich - häufig sind die Einstellungen so gebaut, dass nur eine Figur in ihnen Platz hat. Was alles zusammenhält, ist der schöne Schauplatz. Gern zeigt uns die Kamera die großzügig durchfensterten Aufenthaltsräume, den Saal mit den steil abfallenden Sitzreihen, auch die Toiletten und eine Telefonzelle, die vor dem Theater steht und einmal zur Bühne privater Dramen wird.

Wie die Gruppe der Zwanzigjährigen studierte die französisch-italienischstämmige Filmemacherin und Schauspielerin Bruni Tedeschi vor gut 40 Jahren an der Schauspielschule in Nanterre. In ihrer zweiten Regiearbeit "Actrices" (2008) verkörpert sie gar eine Stardarstellerin am Théâtre des Amandiers, die ein Stück von Tschechow probt, dessen Werk auch im neuen Film im Zentrum steht. Eine andere Parallele sind die abgeschotteten Welten, in denen ihre Figuren leben. Selbst wenn sie wie in "Un château en Italie" (2013) durch Pariser Straßen streifen, verbindet sich ihre Innen- zu keinem Zeitpunkt mit der Außenwelt. Beziehungsweise: man scheitert daran, herauszufinden, warum die Menschen in ihren Filmen so sind wie sie sind. Das ist interessanter, als den dann doch melodramatisch aufgepeppten Geschichten zu folgen. Das Heroindrama in "Forever Young" zieht an einem vorbei; was dafür bleibt: Stella wohnt in einem fast schon obszön großen Anwesen scheinbar allein mit ihrem Butler. Weder die sie besuchenden Kommiliton:innen noch sie selbst kommentieren das je. Ein besonderes, einfach so gesetztes Szenenbild.

Tilman Schumacher


Forever Young - Frankreich 2022 - OT: Les Amandiers - Regie: Valeria Bruni Tedeschi - Darsteller: Nadia Tereszkiewicz, Siane Bennacer, Louis Garrel, Micha Lescot, Clara Bretheau, Noham Edje - Laufzeit: 126 Minuten.