Essay

Gegen den Muff von 40 Jahren

Erfahrungen einer Lesereise. Von Götz Aly
23.03.2009. Humorfrei und stahlgrau reagierten die 68er auf die Erkenntnis, dass sie die Kinder ihrer Eltern waren. Den Nichtwiderstand gegen die Tyrannei, den sie den 33ern vorwarfen, wollten sie durch den Widerstand gegen die Nichttyrannei kompensieren. Eine Antwort auf die Kritiker von "Unser Kampf".
Das vierzigjährige Jubiläum der 68er-Revolte erforderte eine Streitschrift. Prompt reagierten viele der gealterten Weltverbesserer gereizt. Es reichten ein paar spitze Bemerkungen über längst vergangene Irrungen und Wirrungen, versehen mit einem nostalgischen, dem Gegenstand angemessenen provokatorischen Titel, "Unser Kampf" eben, schon gerieten die Antiautoritären von vorgestern aus dem Häuschen. Aufgescheucht riefen sie: Unverschämtheit! Widerwärtig! Das geht zu weit!

In Grüppchen untergehakt rückten die Kampfgefährtinnen und Kampfgefährten zu meinen etwa 40 Lesungen an. Humorfrei und stahlgrau nahmen sie Platz und legten los: "Renegat! Konvertit! Geschäftemacher! Nein, lesen werden wir das Machwerk nicht!" Hocherregte schleuderten mir die Anwürfe "Verräter" und "Denunziant" an den Kopf und beteuerten zugleich den "ausschließlich aufklärerischen Charakter unserer Bewegung" und ihre eigene Unschuld. Wie sollte ich aus dieser reinen Welt der Menschlichkeit und allseitigen Emanzipation irgendjemanden denunzieren oder verraten können? Meiner Buchvorstellung im wendländischen Hitzacker ging ein Boykottaufruf voraus. Verfasst hatten ihn einige der im Landkreis Lüchow-Dannenberg geballt vertretenen Alt-Alternativen. Sie kämpfen für gerechte Ressourcenverteilung, gegen Atomstrom und belegen gut und gern 150 Quadratmeter Wohnfläche pro Person. Immerhin erschienen etwa 30 der Vorgewarnten. Wut und Empörung hatten sie unter ihren Reetdächern hervorgetrieben.

Im Verlauf solcher Begegnungen setzten meine Kontrahenten in der Regel vier Abwehrargumente ein: 1. Wer nicht dabei war, kann über diese Zeit nicht urteilen. 2. Wir wollten das Neue. 3. Nicht alles war schlecht. 4. Wir lassen uns unsere Biographie nicht rauben. So ähnlich hatten nach 1945 schon die Eltern der 68er geredet und nach 1989 nicht wenige DDRler. Nach den ersten Zusammenstößen mit meinen bekennenden NichtleserInnen war das Motto für die weiteren Veranstaltungen gefunden: Gegen den Muff von 40 Jahren.

"Wir waren dabei! Mit ganz lieben Grüßen ..."

Nicht alle, aber viele der Oldies erwiesen sich in den Diskussionsrunden als selbstgewisse Meister der Erinnerungsflucht und Schönfärberei. Da wurde ernsthaft behauptet, die seit Februar 1968 massenhaft skandierte Parole "USA-SA-SS", die den Drang der Nazi-Kinder zur Schuldverschiebung so sinnfällig dokumentiert, sei aus Frankreich importiert worden. Wie die Parole auf Französisch geklungen haben soll, bleibt das Geheimnis der Geschichtenerzähler. Von solchen Details abgesehen beschränkten sich die einst aktiven 68er auf zwei Ausreden: 1. In Frankfurt war alles ganz anders als in Westberlin, in Tübingen ohnehin. 2. Ich war ein paar Jahre zu jung (wahlweise zu alt), um die "schlimmsten Auswüchse" mitzumachen. Immerhin gab es solche, nur scheinen sie aus den Gedächtnissen entschwunden.

Vergessen gemacht wird zum Beispiel von den Grünen, dass sich zum Zeitpunkt ihrer Gründung mindestens die Hälfte des Führungspersonals aus revolutionären Sponti-Vereinigungen und doktrinär-marxistischen Gruppen rekrutierte. Stattdessen sind sich dieselben Leute - ob sie nun Antje Vollmer, Joschka Fischer, Jürgen Trittin oder Claudia Roth heißen - einig, dass jene Gruppen nur als bedauerliche Randerscheinung des allgemeinen "Aufbruchs" anzusehen seien. Man muss solche Rätsel nicht lösen; tatsächlich ist der spätere Hang Zehntausender westdeutscher Studenten zum sowjetunionfreundlichen MSB Spartakus, zum Stamokap der Jungsozialisten oder zur soundsovielten trotzkistischen Internationale lebensgeschichtlich nicht günstiger gewesen.

Die linken Buchhandlungen, die mich mit den Büchern zum Nationalsozialismus gerne eingeladen hatten, wollten ihrem Publikum den Autor dieses für manche unaussprechlichen oder "saugefährlichen" (Jutta Ditfurth) Buches nicht zumuten - bis auf eine Ausnahme: die Buchhandlung Roter Stern in Marburg. Viele linke Buchhändler beschimpften die Vertreter des S. Fischer Verlags und warnten ihre Stammkunden und Treuekartenbesitzerinnen vor dem Kauf. Bei diesen kamen seelenvolle Titel wie "Rudi und Ulrike" oder "Mein '68" besser an, gerne genommen wurde das Zeitzeugenwerk "Vom Duft der Revolte", die Sehschwachen schenkten einander den Bildband "Wir waren dabei", versehen mit "ganz lieben Grüßen". Die Leitung der Universität Göttingen lehnte im Sommersemester 2008 den studentischen Antrag ab, mich zum Thema "1968" einzuladen. Sie versagte die sonst übliche kleine finanzielle Förderung solcher Veranstaltungen, versehen mit dem ausdrücklichen Hinweis, das Buch "Unser Kampf" sei für die akademische Jugend ungeeignet. Sie hat es trotzdem interessiert gelesen.

Etwas einsichtigere 68er arbeiten weniger konfrontativ, sie bevorzugen die leisen Legenden, in erster Linie die Behauptung, sie hätten - bei aller notwendigen Kritik und Selbstkritik im Detail - wesentliche Reformprozesse in Gang gesetzt. Manche vertreten die Meinung, damals wäre die Bundesrepublik Deutschland zum zweiten Mal konstituiert, ihr erst mit der Revolte ein freiheitlicher Geist eingehaucht worden. (1)

Darin spiegelt sich maßlose Selbstüberschätzung. Tatsächlich setzten die wichtigsten Reformen in der Bundesrepublik in den frühen 1960er-Jahren ein. Träger dieser Mühen waren viele der heute 75- bis 85-Jährigen, die mit Remigranten, Antifaschisten und auch mit geläuterten Nazis gemeinsame Sache machten. Das von Fritz Bauer, Hans Bürger-Prinz, Hans Giese und Herbert Jäger herausgegebene Manifest "Sexualität und Verbrechen - Beiträge zur Strafrechtsreform" erschien 1963 und brachte das Thema in den Bundestag. Ralf Dahrendorf redete mit seinem Buch "Gesellschaft und Demokratie in Deutschland" 1965 einer neuen Debattenkultur das Wort. Mit zwei Koitusszenen stellte der Film "Das Schweigen" von Ingmar Bergmann den gültigen Sittenkodex massiv in Frage. Die Bundesprüfstelle ließ den Film im Namen der künstlerischen Freiheit 1964 ungekürzt passieren, elf Millionen Deutsche gingen hin. Zum fröhlicheren Liebesleben ermunterte nicht Rainer Langhans, sondern der 1928 geborene Journalist und Filmemacher Oswalt Kolle. Sein Film "Wunder der Liebe" enthielt schlichte Hinweise, wie sich die zumeist mit einer milchigen Deckenlampe beleuchteten, ungeheizten und sehr kärglich eingerichteten Schlafzimmer gemütlicher gestalten ließen. Den unmittelbar Beteiligten, namentlich den Männern, legte Kolle nahe, wie sich einseitige Glücksminuten zu beidseitigen glücklichen Stunden erweitern ließen und regte an, Dies oder das experimentell herauszufinden. Angesichts der von 68ern geprägten Männerparole "Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment" darf Oswalt Kolle vorbehaltlos zu den aufgeklärten Humanisten der frühen Bundesrepublik gezählt werden.


"Zu viel Ähnlichkeit mit NS-Schulungsabenden"

Ähnliche Übergänge fanden in der Parteipolitik statt. Den starken Einfluss alter Nazis in der FDP, die sich in den 1950er Jahren noch einen so bezeichneten Gauleiterflügel leistete, überwanden die Nachwuchskräfte der Partei. Zu den damals jugendlichen Helden des Umsturzes zählen Walter Scheel, Hans-Dietrich Genscher oder Liselotte Funke. Parallel dazu bildete sich seit 1961 unter den bundesdeutschen Wahlberechtigten Prozent für Prozent jene Mehrheit heraus, die sich Willy Brandt als Bundeskanzler vorstellen konnte - einen Mann also, den Konservative als "Vaterlandsverräter" schmähten. Diese rasanten Veränderungen in der deutschen Gesellschaft bildeten die Grundlage für 1968. Die Revoltierenden wurden zu Nutznießern, nicht zu Schöpfern des reformerischen Zeitgeistes. Folglich konstatierte der Kultursoziologe Wolfgang Eßbach, der selbst dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) angehört hatte, im Jahr 2006: "Man wird sagen müssen, dass viele der reformerisch Aktiven, die um 1930 geboren wurden und die um 1960 die Bundesrepublik neu zu gestalten begonnen hatten, in der historischen Erinnerung heute von den Achtundsechzigern um ihren Ruhm betrogen worden sind." Eßbach weist darauf hin, "dass es nicht in erster Linie Altnazis waren, mit denen die Achtundsechziger zu kämpfen hatten", sondern vor allem "junge, reformfreudige und konfliktfreudige Ordinarien mit neuen Ideen". (2)

Zu diesen gehörten Hans Mayer, Wilhelm Hennis oder Christian Graf von Krockow. Die Galerie lässt sich leicht verlängern. So wandte sich der ursprünglich sympathisierende Philosoph Odo Marquard 1967 von der Neuen Linken ab, weil ihm die Teach-ins "zu viel Ähnlichkeit mit NS-Schulungsabenden" aufwiesen, an denen er als Jugendlicher teilgenommen hatte. Aus anderen Gründen reagierte der Holocaust-Überlebende und -Historiker Josef Wulf allergisch. Er bemerkte in Berlin rasch, wie sich die neuen linken Weltanschauungskämpfer von der bis dahin einigermaßen selbstverständlichen Solidarität mit Israel verabschiedeten und Partei für palästinensische Guerilla-Gruppen ergriffen. In seinem Fall stellt sich die bange, nicht zu beantwortende Frage: Hätte sich dieser Mann, der dem Holocaust entkommen und dann nach Deutschland zurückgekehrt war, 1974 das Leben genommen, wenn wir 68er seine Schriften weiterhin gelesen hätten und nicht 1967 in die realitätsfreie "Faschismus-Theorie" ausgewichen wären? Dieselbe Skepsis gegenüber der neuen linken Bewegung entwickelte Jean Amery. Hannah Arendt hielt einem weltrevolutionär erregten jungen Deutschen Ende 1967 trocken entgegen: "Keine Frage, es geht uns an, wenn in Persien, Vietnam und Brasilien 'unwürdige Zustände' herrschen, aber es liegt wahrhaftig nicht an uns. Das, scheint mir, ist eine Art umgekehrter Größenwahnsinn. Probieren Sie einmal, Politik in Persien zu machen, und Sie werden rasch davon geheilt sein. [?] Worauf es politisch ankommt, ist limitiert denken lernen." (3) Mit Ausnahme von Herbert Marcuse reagierten praktisch alle Emigranten, die nach 1933 Deutschland hatten verlassen müssen, ähnlich: Zunächst freuten sie sich über die Unruhe der Jugend, aber schon nach wenigen Monaten erschraken sie vor dem deutschen Furor, der in den 68ern steckte, sich bald wild austobte und den sie nur allzu gut kannten.

Der Basso continuo der jüngeren Nationalgeschichte spielte in der Protestbewegung von 1968 weiter. Er verlieh ihr den unangenehmen Grundton, trotz aller hübschen Varianten in den Spitzentönen. Der Spielfilm "Alma Mater" visualisierte dieses sehr deutsche Problem schon 1969. Er wurde von Rolf Hädrich an der Freien Universität Berlin für den Norddeutschen Rundfunk gedreht. Eindringlich dokumentiert er die Revolte an den originalen Schauplätzen, gelegentlich von realen Störaktionen gegen die Dreharbeiten behindert, die sich, da sie mitgefilmt wurden, bruchlos in das Spielgeschehen fügen. Das Drehbuch hatte Dieter Meichsner geschrieben. Er und Hädrich gehörten zur studentischen Gründergeneration der FU. Den Plot entwickelten sie anhand von Erlebnissen, Gesprächen, Beobachtungen und Eindrücken während des studentischen Januar-Streiks 1969 an der FU, gedreht wurde im Sommersemester. Auf diese Weise entstand ein wirklichkeitsgesättigtes Bild der damaligen Krisen und Aufgeregtheiten. Im Mittelpunkt der Geschichte steht der liberal gesinnte Remigrant, Geschichtsprofessor Freudenberg, der schließlich an den neuen Universitätsverhältnissen verzweifelt und Deutschland zum zweiten Mal verlässt. In eingespielten O-Tönen treibt der schwäbelnde SDS-Funktionär Tilman Fichter immer wieder zum revolutionären "Zerschlagen". Die Filmfigur Freudenberg ist wirklichkeitsnah aus den Erzählungen und Empfindungen der damaligen, aus dem Exil zurückgekehrten FU-Professoren Ernst Eduard Hirsch, Richard Löwenthal und Ernst Fraenkel zusammengesetzt. Ausgerechnet ein Spielfilm ist das vielleicht eindringlichste zeitgenössische Dokument zum Lauf der Revolte im Jahr 1969. (Das sah Walter Jens in der Zeit damals ganz anders - d.Red.)


"Nur die zentralisierte Organisation nach marxistisch-leninistischem Vorbild wird so etwas wie Spontaneität hervorbringen"

Demgegenüber erscheint die heute geschriebene Erinnerungsliteratur schwach. Der Grund dafür liegt im selbstgnädigen Verdrängen, in der Selbstliebe. Nehmen wir das Buch "Rebellion und Wahn" (2008) als Exempel. Es bietet sich an, weil der Verfasser, Peter Schneider, mir unentwegt vorwirft, das Konkurrenzprodukt "Unser Kampf" dokumentiere "Selbsthass". Was also vermag Selbstliebe? Auf Seite 334 streift Schneider beispielsweise jene Konferenz der Westberliner Großrevolutionäre, die sich im Dezember 1969 mit der künftigen Strategie befasste. Das Treffen ist wichtig, weil es die elenden marxistisch-leninistischen Kadergruppen hervorbrachte und den rebellierenden Studenten die Reste von demokratischem Veränderungswillen austrieb. Schneider gehörte zum engeren Zirkel von etwa 20 Leuten und redete gleich zweimal. Heute fasst er seine damals vorgetragenen Gedanken sehr kurz zusammen: "Wer es mit der Revolution ernst meine", so habe er sich geäußert, "müsse in die Betriebe gehen und die Arbeiterklasse mobilisieren." Bei mir als Jüngerem, der ich damals mit anderen gespannt auf die Ergebnisse wartete, kam Anderes an. Was, das lässt sich heute noch hören. Wegen ihrer überragenden Bedeutung für die Zukunft (der fortschrittlichen Teile) der Menschheit verewigten die Vordenker des künftigen Doktrinarismus ihre Reden auf Tonband.

Demnach formulierte Genosse Peter Schneider die Aufgabe, "die Klassenkämpfe in Deutschland in Bewegung zu bringen", die "Unterdrücktesten in die Strategie der Kampfbereitesten aufzunehmen" und die "revolutionäre Avantgarde" zu bilden. Das bedeute: "Nur die zentralisierte Organisation nach marxistisch-leninistischem Vorbild wird überhaupt in der Lage sein, so etwas wie Spontaneität hervorzubringen. [?] Ein Kader ist nur einer, der sich in den Kämpfen der Massen als Führer qualifiziert, das heißt, es ist viel zu wenig, nur davon zu sprechen, dass die Studenten in den Betrieb gehen, dort sinnliche Erfahrungen sammeln, und dann gehen sie wieder heraus. [?] Es ist unbedingt nötig, dass die Studenten Anleitungsfunktionen in den Aktionen, in den betrieblichen Konflikten übernehmen können, und ich bin der Meinung, dass wir in Zukunft niemanden als Kader in einer revolutionären Organisation dulden dürfen, der diese Bedingungen nicht erfüllt. [?] Ich sage, dass in der ersten Phase des Aufbaus der Organisation die Organisation von oben nach unten aufgebaut werden muss, und das Prinzip des Zentralismus überwiegt und dass diese Phase in Deutschland sehr lange sein wird, dass diese Phase dazu dient, die Verankerung der zentralistischen marxistisch-leninistischen Organisation in den Massen vorzubereiten." (4)

Folgt man Schneiders Text von 2008, dann wurde während der Konferenz die Bildung der späteren doktrinären K-Gruppen von "paranoiden", ihm "nie recht geheueren" Leuten vorangetrieben, einer davon mit einem "Totenkopfschädel" ausgestattet. Schneider nennt sie sämtlich mit Namen. Er selbst wollte nach seinem 38 Jahre später abgegebenen "Bericht" lediglich den deutschen Arbeitern "zum richtigen Bewusstsein verhelfen"; angeblich fragte er sich damals sofort: "Aber musste ich deswegen gleich Mitglied einer Kaderorganisation werden?" (5) Insgesamt beruht das Buch, wie der Verlag behauptet, auf einem "Schatz", nämlich Schneiders "Tagebuch", das er angeblich "als einer von ganz wenigen" führte. Es ist höchste Zeit, 68 anhand möglichst vielfältiger Quellen zu dokumentieren, anstatt sich auf die Selbstbespiegelung sogenannter Zeitzeugen zu verlassen.


"Technoide Büromänner mit Waffenkenntnissen und Entjungferungsauftrag"

Natürlich meldeten sich brieflich und öffentlich auch ehemalige Mitstreiter zu Wort, die sich deutlich an die peinlichen Momente der wilden Jahre erinnerten. Dazu gehört Sibylle Lewitscharoff. Sie machte 1972 in Stuttgart Abitur, geriet als Gymnasiastin ins Milieu des antiautoritären Aufbruchs und berichtet nur ungern darüber: "Meine Erinnerung neigt dazu, die tote Zeit vom Unschönen zu reinigen." Obschon sie nie zur harten Truppe zählte, lässt sie den "verschobenen Antisemitismus" Revue passieren, "die Rohheit, das Autoritäre im vorgeblich Antiautoritären, die Realitätsverleugnung, den abenteuerlichen Narzissmus". Im Rückblick steht ihr vor Augen, wie sich ihre Generation "das versammelte deutsche Unglück in einem gigantischen Redestrom von der Seele" wälzte: Wichtig, wichtig, weltumspannend, "schwatzschwatz, meistens ernst, selten witzig".

Sibylle Lewitscharoff beschreibt, wie "um 1970" revolutionäre Kader aus Frankfurt in die schwäbische Provinz ausschwärmten, um Schüler, gerne auch Schülerinnen für die Revolution zu rekrutieren: "Einer sah aus, als wäre er einem Anarchistenzirkel zu Dostojewskis Zeiten entsprungen und hätte sich seither nicht mehr gewaschen, ein dickliches, schwer bebartetes Männchen mit rollenden Glühaugen. Daneben ein total verlederter Politmann, Briefträger von Beruf, Kopf wie ein abgeschlecktes Ei, die Schreckensassoziation drängte sich auch deshalb auf, weil er vor jedem Satz mit der Zungenspitze prüfend in die Mundwinkel fuhr. Nicht zu vergessen die kalten Kommissare, technoide Büromänner mit Waffenkenntnissen, die in der umliegenden Stuttgarter Provinz mit Entjungferungsauftrag unterwegs waren, um der Bewegung neues Material (ehrlich, es hieß so) zuzuführen. Und dann gab es noch das Arbeiterwunderkind aus Feuerbach. Mit erhobenem Zeigefinger und sanfter Stimme lehrte es wie Jesus im Tempel." (6)

Ein ganz anderer, wesentlich älterer unter den Ehemaligen, Peter Furth, argumentiert ähnlich. Er lernte einst bei Adorno und gab die Zeitschrift Das Argument mit heraus. Heute gelangt er zu dem Schluss, "dass der Achtundsechziger-Bewegung etwas Totalitäres anhaftete". Er beklagt die destruktiven Folgen der Revolte, das Anmaßende und den Konformismus im Denken der Linken. Vor allem aber bedauert er, dass er seinen reformerisch gesinnten Schwiegervater, der als Jude und Sozialdemokrat in Buchenwald gesessen hatte, 1968 als "deutschnationalen Bonzen" beschimpfte und nicht merkte, dass er einen der wenigen wirklichen Republikaner vor sich hatte. (7)

Den ehemaligen SDS-Vorsitzenden Reimut Reiche zitiere ich in meinem Buch "Unser Kampf" mit einem fragwürdigen Textchen zur "Sexuellen Revolution". Dagegen verdient sein selbstkritischer, von mir zunächst übersehener Rückblick von 1988 unbedingt Beachtung. Er passt gedanklich zu den beiden Schlusskapiteln meines Buches "Vergangenheitsfurcht und 'Judenknacks'" und "Dreiunddreißiger und Achtundsechziger". Vor mehr als 20 Jahren schrieb Reiche über die unbewussten Phänomene jener Jahre und begann mit dem Hinweis, dass das 1967 von Alexander und Margarete Mitscherlich veröffentlichte Buch "Die Unfähigkeit zu trauern" für die revoltierenden jungen Leute von damals "kein Thema" gewesen sei. Aus einem einfachen Grund: Sie schickten sich gerade an, "selbst Teil dieses Themas zu werden". Reiche analysiert die Banalisierung des Nationalsozialismus zum allgegenwärtigen und angeblich akuten Faschismus als - geschichtlich außengesteuerten - Versuch, das individuell Bedrohliche an der deutschen Vergangenheit zu "entkörpern". In der Suche nach dem "revolutionären Subjekt" bemerkt er den Wunsch: "Die Volksmassen, und damit die Masse unserer Eltern, seien im Innersten und in Wahrheit 'gut', und das nationalsozialistische 'Böse' sei ihnen äußerlich." Anschließend führt er Beispiele zum "gewalttätigen Rigorismus" an und fragt: Warum mussten die 68er alles, was ihnen falsch schien, "zerschlagen"? Warum galten ihnen Trennungsängste von Kindern als Teil eines "falschen Bewusstseins"? Warum ließen sich die Mitglieder der Kommune 1 auf dem berühmten Foto nackt abbilden? Warum ausgerechnet mit erhobenen Händen gegen die Wand gestellt, den Rücken zum Kameraschuss gewandt, daneben ein kleines, nacktes Kind?


"Spontane Formen von Solidarität" im KZ Theresienstadt

Schließlich zitiert Reiche die 1969 vom "Zentralrat der sozialistischen Kinderläden" in Westberlin herausgegebene Schrift, in der die Arbeit von Anna Freud und Sophie Dann über sechs Kinder abgedruckt ist, die im KZ Theresienstadt im Alter zwischen sechs und zwölf Monaten von ihren Eltern getrennt wurden und überlebten. Die Männer und Frauen vom Zentralrat denunzierten die Autorinnen des Berichts als "bürgerlich-affirmative Wissenschaftler", betrachteten die Lebensjahre, die jene Kinder im KZ hatten zubringen müssen, als "Versuch einer kollektiven Erziehung", und fragten: "Ist das kollektive Verhalten der sechs Kinder eine Bereicherung der menschlichen Beziehungen?" Es folgte, man glaubt es kaum, ein glattes Ja.

Während Freud und Dann die schweren Traumata, die psychischen und physischen Entwicklungsstörungen der Kinder penibel beobachteten und dokumentierten, betrachteten die im Zentralrat organisierten jungen Deutschen Theresienstadt als Experimentierfeld:

"Die Gruppe der KZ-Kinder hatte dem Einzelnen geholfen, seine individuellen Fähigkeiten auszubilden und auszuleben. Einschränkungen, die daraus für die ganze Gruppe resultierten, wurden gern hingenommen. [?] Autoritätsstrukturen, wie wir sie täglich unter Kindern beobachten können, konnten sich nicht entwickeln. [?] Die Kinder standen automatisch füreinander ein, wenn sie sich bedroht oder ungerecht bestraft fühlten. Für die ihnen feindliche Umwelt im Ghetto [Theresienstadt] waren sie besser gerüstet als ihre erwachsenen Mitgefangenen: Sie entwickelten spontan Formen von Solidarität, was bei der Mehrzahl der dort Gefangenen erst - wenn überhaupt - aufgrund schmerzlicher Erfahrungen und unter dem Druck der Verhältnisse möglich war." (8)

Wer die Selbstüberwindung aufbringt, solche Texte heute nachzulesen, wird aufhören, sich selbstzufrieden an 68 zu erinnern.

Leute, die abwegige Texte schreiben, gibt es überall. Das Problem liegt woanders: Dieses Heftchen des Kinderladen-Zentralrats wurde vor der Mensa der Freien Universität und während zig politischer Versammlungen in großen Mengen verkauft. Ich erinnere mich noch an den bärtigen Verkäufer. Keiner der Käufer, Neugierigen und oberkritischen Neuerer widersprach dem Inhalt. In dem berühmten, vielfach neu aufgelegten Rowohlt-Bändchen "Kinderläden. Revolution der Erziehung oder Erziehung zur Revolution?" (1971) erhielt der ominöse Zentralrat ein Ehrenplätzchen, und das zitierte Heft wurde in die sehr kurze, sehr merkwürdige, 23 Titel umfassende Liste der empfohlenen Literatur aufgenommen. Die redaktionelle Verantwortung für die Rororo-aktuell-Reihe trug der spätere SPD-Bundestagsabgeordnete Freimut Duve.


"Man kann nicht gleichzeitig den Judenmord aufarbeiten und die Revolution machen"

Derartige, nicht zufällige Fehlleistungen und Nicht-Reaktionen dokumentieren hinreichend, dass zwischen den deutschen Achtundsechzigern und Hitlers jungen Leuten von 1933, den Dreiunddreißigern, historische und familiengeschichtliche Bande bestanden. Sozialisationswissenschaftlich betrachtet erscheint die Feststellung banal: Die einen waren die Eltern der anderen. Diese 1933 noch recht jungen künftigen Eltern begeisterten sich überdurchschnittlich stark für den Nationalsozialismus. Sie befanden sich in einer für radikale Ideen günstigen Lebensphase, wurden vom NS-Staat besonders umworben, erlebten ihren ersten beruflichen Aufstieg in dieser Zeit und bildeten ihre Freundeskreise. Diejenigen Eltern, die 1933 zwischen 15 und 20 Jahre alt waren, konnten nach 1945 nur schwer auf vornazistische Werte und Maßstäbe zurückgreifen. Sie standen vor dem moralischen Nichts. Zudem waren sie während der letzten beiden Kriegsjahre schwer traumatisiert worden. Es liegt nahe, dass weit überdurchschnittlich viele Kinder dieser Generation - vermittelt über ihre nächsten Angehörigen, Lehrer und Vorbilder - einiges vom alten Gift abbekommen und später in der Revolte ausagieren mussten. Diese geriet nach einer kurzen freiheitlichen Anfangsphase rasch in den Bann des alten Freund-Feind-Denkens, das im Kalten Krieg - einer unmittelbaren Folge der deutschen Vernichtungsfeldzüge - weitertobte und die Geister der deutschen Studentenschaft in den Jahren 1967 bis etwa 1977 maßgeblich beherrschte. Darin liegt kein Vorwurf, keine Schuld - aber auch kein Verdienst der 68er. Es geht mir um die Beschreibung eines historischen Zusammenhangs.

Viele meiner Zuhörer reagierten unwillig, sobald ich in meinen Lesungen versuchte, ihnen die kollektivbiographischen Zusammenhänge zu erklären.
"Nein, alles, was Recht ist", wandte eine 60-jährige Zuhörerin ein, "wir wollten das Gute! Der Nationalsozialismus war das Böse."
"Wahrscheinlich", fragte ich zurück, "sind wir uns einig, dass die deutsche Gesellschaft noch Jahrzehnte lang von den Folgen des Nationalsozialismus, des Krieges und der deutschen Verbrechen bestimmt wurde?"
"Ja, natürlich!"
"Aber woher nehmen Sie dann die Kraft, die Sicherheit, dass ausgerechnet Ihr Lebensentwurf davon frei gewesen sein soll?"
Schweigen.

Peter Schneider berichtet in seinem Buch "Rebellion und Wahn", in welcher Weise sich Rudi Dutschke während der Studentenrevolte zum Nationalsozialismus äußerte. Auf die Frage seines SDS-Genossen Tilman Fichter, ob es nicht an der Zeit sei, statt sich immer nur über die imperialistische Gewalt in Afrika und Vietnam zu erregen, "etwas über den Judenmord zu machen", erwiderte Dutschke nach einigem Zögern: "Wenn wir das anfangen, verlieren wir unsere ganze Kraft. Eine solche Kampagne ist von unserer Generation nicht zu verkraften, aus dieser Geschichte kommen wir nicht mehr heraus. Man kann nicht gleichzeitig den Judenmord aufarbeiten und die Revolution machen. Wir müssen erst einmal etwas Positives gegen diese Vergangenheit setzen." (9)

Rudi Dutschke und mit ihm die 68er flüchteten vor der deutschen Geschichte. Wie sich das praktisch auswirkte, bezeugt Reinhard Strecker, der seit Mitte der 1950er Jahre die Aufklärung über die deutschen Verbrechen vorantrieb und 1960 Bundesreferent des SDS für Fragen der NS-Vergangenheit wurde. Im selben Jahr 1960 veranstalteten SDS-Mitglieder in der Berliner Kongresshalle eine Ausstellung zur Judenverfolgung. All das endete schlagartig, als Rudi Dutschke, Bernd Rabehl und Christian Semler 1965 starken Einfluss im SDS gewannen. Fortan "galt die konkrete Aufarbeitung der NS-Zeit als belanglos". Strecker bekam "von diesen Leuten" niemals mehr Geld für seine Projekte: "Den Antiautoritären war überdies am Spektakel gelegen", resümiert er heute: "Die NS-Zeit war halt nichts, das man eben mal spontan runterziehen konnte, um auf den Putz zu hauen. Jedenfalls gerieten die Opfer, auch die Fürsorgepflicht, jetzt völlig aus dem Blick, und alles trat hinter der Idee einer Gesamtrevolution zurück." (10) Warum Dutschke oder Rabehl sich nicht mehr für die Nazivergangenheit interessierten, kann offen bleiben. Aber warum wurden ihre Ignoranz und Gleichgültigkeit plötzlich unter den jungen Leuten mehrheitsfähig? Ich erkläre mir das so:

Die Studenten von 1968 hatten in den Jahren zuvor als erste Jugendgeneration mitten in der Pubertäts- und Ablösungsphase unvorbereitet und ohne familiären und gesellschaftlichen Rückhalt in den Abgrund Auschwitz blicken müssen. Die Kräfte, die diese massive Aufklärung vorantrieben, hatten sich in staatlichen Institutionen formiert: in den Parlamenten, Justizverwaltungen und, in unterschiedlicher Stärke, in den Ministerien des Bundes und der Länder. Die großen Verjährungsdebatten im Deutschen Bundestag, die Errichtung der Zentralen Stelle zur Verfolgung der NS-Verbrechen, die fortwährende Auseinandersetzung um Restitutionsfragen - all das wurde nicht entfernt von einer gesellschaftlichen Mehrheit gefordert, sondern gegen diese von Verfassungsorganen der zweiten deutschen Republik durchgesetzt. Die von der Justiz seit 1958 geführten und von den Medien begleiteten NS-Prozesse, die in den Jahren 1967 bis 1977 an schier jedem Werktag vor bundesdeutschen Schwurgerichten stattfanden, hielten für die junge Generation stets dieselbe Lehre bereit: Die Angeklagten waren in aller Regel Männer, die weder vorher und noch nachher kriminell geworden waren, die normalen Berufen nachgingen, aus allen Volksschichten stammten - sie glichen dem Nachbarn, dem Drogisten von gegenüber, dem Hausarzt, dem verehrten Lehrer oder dem Vater auf beängstigende Weise.


"Der Nichtwiderstand gegen die Tyrannei sollte durch den Widerstand gegen die Nichttyrannei ausgeglichen werden"

Diese Last war zu schwer. Die westdeutsche Jugend (übrigens nicht die der DDR und Österreichs) sah sich mit Verbrechen konfrontiert, die - begangen von der Generation der Väter - "diese Welt, in der wir leben, belasten werden, solange sie besteht". (11) Vor diesem Hintergrund lässt sich ihre panische Ausweichreaktion erklären, als ungesteuerte Flucht in revolutionäre Fieber- und Albträume. Da die Eltern, die Verwandten und die gesellschaftlichen Kräfte nicht imstande waren - wahrscheinlich noch nicht sein konnten -, sich der schrecklichen Tatsachen zu stellen, erkoren sich die 68er-Studenten und -Schüler den Staat zum Ersatzfeind. Einer der 68er-Vordenker, Hans Magnus Enzensberger, gab 1964 die Richtung vor: Er setzte das faktische Auschwitz und den potentiellen "Megatod", zu dem der Rüstungswettlauf führen könne, in eins und nannte die so geschaffene Verbindung "Gegenwart und Zukunft von Auschwitz"; folglich galt es die "Endlösung" von morgen zu verhindern. Hanna Arendt bezeichnete dieses Ausweichen Enzensbergers als "hochkultivierte Form von Eskapismus". (12)

68 war insgesamt Folge des Zweiten Weltkrieges, des größten Massentraumas seit dem Dreißigjährigen Krieg. Im Westfälischen Frieden von 1648 steht, man solle über das Vergangene nicht sprechen. Das bedeutet für 1945: Die Überlebenden des Krieges mussten, ob sie nun zu den Opfern oder zu den am Ende blutig niedergerungenen Tätern zählten, das Vergangene um des Neuanfangs willen verdrängen. Folglich verordnete sich die körperlich und seelisch schwer verletzte Menschheit eine Art Heilschlaf, der dem künstlichen Koma entsprach, in das Ärzte heutzutage schwer traumatisierte Patienten versetzen. Die politische Form des künstlichen Komas wurde der Kalte Krieg, er vereiste das Vergangene förmlich. In dem Maße, wie die Zeit verging, "Tauwetter" einsetzte und die erste Nachkriegsgeneration erwachsen wurde, erwachte die Welt aus ihrem komatösen Zustand. Das verlief unangenehm, mit erheblichen Schmerzen, Verspannungen und Orientierungsschwierigkeiten. Besonders unangenehm aber erwachte das Land, das den Krieg begonnen und - den Alliierten sei Dank - verloren hatte. Denn anders als 1648 standen 1945 die Schuldigen fest: die Deutschen. Deswegen verlief das deutsche 68 wesentlich härter, verbohrter und langwieriger als das englische, amerikanische oder französische. Die integrativen und traditionalen Kräfte waren in den Ländern, die den Krieg als Verteidigungskrieg geführt und gewonnen hatten, wesentlich stärker als in Deutschland, in dem die Gesellschaft die moralische Basis und alle innere Elastizität verloren hatte. (Ähnliches gilt für die 68er-Revolte in den Kriegstreiberländern Japan und Italien.)

Im Jahr 1995 deutete der schon zitierte Odo Marquard die 68er-Revolte als "Reprise" der "Entlastungsmechanismen", mit der Teile der deutschen Gesellschaft nach 1945 immer wieder vor der Vergangenheit Reißaus nahmen. Der Druck zur Selbstentlastung verstärkte sich seit der Mitte der 1950er-Jahre: zum einen angesichts des Wohlstands, der das Lebensniveau der Opfer der deutschen Rassenkriege rasch überflügelte, zum anderen angesichts der nicht länger zu verschweigenden Einzelheiten des schier grenzenlosen Mordens. Beides ließ "Schuld und Scham unerträglich" werden, besonders für die junge Generation. Sie "floh" 1968 "aus dem Gewissenhaben in das Gewissensein": "Das schlechte Gewissen, das man selber 'hatte', ersparte man sich oder linderte es, indem man schlechtes Gewissen für die anderen 'wurde'." Weiter schreibt Marquard unter dem Begriff "nachträglicher Ungehorsam": "Das vor 1945 unterbliebene Nein sollte durch ein Nein zum nunmehr Vorhandenen (zur Bundesrepublik) nachgeholt werden. Der Nichtwiderstand gegen die Tyrannei sollte durch den Widerstand gegen die Nichttyrannei ausgeglichen werden. Und die versäumte Verweigerung der Diktatur sollte durch die Verweigerung der Nichtdiktatur wettgemacht werden. Diese neue Verweigerung der Bürgerlichkeit konnte nicht wirklich die Demokratisierung fördern, sondern vor allem neue Sympathien für Revolutionsdiktaturen." (13)

Wie die Fluchtreaktionen aussahen und wie es dazu kam, beschreibe ich in dem Buch "Unser Kampf. 1968 - ein irritierter Blick zurück". Die 68er waren weder an allem Schuld noch können sie sich besonderer Verdienste rühmen. Sie müssen als Getriebene verstanden werden, in einem gesellschaftlichen Großkonflikt, den sie sich nicht aussuchen und dem sie nicht ausweichen konnten. So lässt sich die Revolte verstehen und ohne Aufgeregtheit in die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts einordnen.

Götz Aly

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(1) Zum Beispiel Joschka Fischer im Interview "Halten wir fest: Die 68er sind an allem schuld", in: Der Tagesspiegel vom 30.12.2007. Auch Wolfgang Kraushaar, der seine Chroniken zu 68 fast ausschließlich mit den Dokumenten der Rebellierenden anfüllt und sich für die damalige Haltung von Leuten wie Kurt Georg Kiesinger, Ralf Dahrendorf oder Ernst Benda bislang nicht interessiert, pflegt diese Mär immer wieder.
(2) Wolfgang Eßbach, "1968" - Aufstand der Werte? Beitrag zur Tagung Vergesellschaftung der Werte: Wertedebatten in Deutschland seit 1945. Systematische und historische Aspekte, veranstaltet vom Mitteleuropazentrum der TU Dresden vom 4. bis 7.5.2006, Online-Publikation (PDF).
(3) Hannah Arendt, Hans-Jürgen Benedict, Briefwechsel, in: Mittelweg 36, 17/1, 2008, S. 2-8.
(4) Tonbandmitschnitt der Strategie-Konferenz am 6./7.12.1969 in Berlin; BArch, Ton 1394/1-10 (ZSl 153, Sammlung Wolfgang Schwiedrzik).
(5) Schneider, Rebellion und Wahn, S. 334 f.
(6) Sibylle Lewitscharoff, So superverfolgt und supergeheim. Schwatz-schwatz, meistens ernst, selten witzig: Wie es um 1970 wirklich war (Auszug), in: Süddeutsche Zeitung vom 10.1.2009.
(7) Peter Furth, Die Revolte hat eine Wächtergeneration hinterlassen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6.8.2008.
(8) Reimut Reiche, Sexuelle Revolution. Erinnerung an einen Mythos, in: Die Früchte der Revolte. Über die Veränderung der politischen Kultur durch die Studentenbewegung, Berlin 1988 (Wagenbach Verlag), S. 45-72, hier S. 47, 60-69. Anna Freud, Sophie Dann: Gemeinschaftsleben im frühen Kindesalter. Bericht über 6 Kinder aus dem KZ Theresienstadt, in: Kinder im Kollektiv (= Anleitung für eine revolutionäre Erziehung, Nr.5), hrsg. vom Zentralrat der sozialistischen Kinderläden, 2. Aufl., Berlin 1969, S. 33-75, Diskussion des Textes: S. 77-92, Zitat: S. 84f.
(9) Schneider, Rebellion und Wahn, S. 190 f. Weitere von Schneider nicht zu Ende gedachte, jedoch lesenswerte Mitteilungen zu den individuellen Folgelasten der NS-Zeit und deren Abwehr mit Hilfe der Revolte finden sich auf S. 20, 73, 121, 145, 182-192, 200 f., 247, 259 seines Buches. Siehe auch die spätere Bemerkung Dutschkes in: Aly, Unser Kampf, S. 149, 151-168, 202-207.
(10) Dorothea Hauser im Gespräch mit Reinhard Strecker über die SDS-Aktion "Ungesühnte Nazijustiz", in: Ästhetik & Kommunikation, Heft 140/141, 39. Jg., 2008 (Hefttitel: Die Revolte. Themen und Motive der Studentenbewegung), S. 147-154.
(11) So Willy Brandt in seiner bedeutenden Rede "Deutschland, Israel und die Juden", gehalten am 19.3.1961 im Herzl-Institut in New York (Berlin 1961).
(12) Richard Oehmig, Schuld und Eskapismus. Der Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und Hans Magnus Enzensberger, München 2005.
(13) Odo Marquard, Verweigerung der Bürgerlichkeitsverweigerung. 1945: Bemerkungen eines Philosophen, in: ders., Individuum und Gewaltenteilung. Philosophische Studien, Stuttgart 2004, S. 23-37.