Bücherbrief

Von Hexen bis Schlangen

08.04.2024. Wir haben die Literaturbeilagen zur Leipziger Buchmesse, und natürlich auch die Kritiken der vergangenen Wochen gesichtet, um die besten Bücher des Monats herauszupicken - und wir sind fündig geworden: Dank Ronya Othmann, die uns eindringlich an den Genozid an den Jesiden erinnert. Und dank Anne Weber, die uns zu zärtlich ironischen Streifzügen durch die Pariser Banlieues einlädt. Ein besonderes Vergnügen verspricht Fien Veldmann, die uns eine transhumane Romanze zwischen einer Büroangestellten und ihrem Drucker erzählt. Dass auch Habermas äußerst unterhaltsam sein kann, lernen wir von Philipp Felsch. Und der Historiker Andreas Petersen legt die ganze ehemalige Sowjetunion auf Freuds Couch.
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Weitere Anregungen finden Sie in in der Lyrikkolumne "Tagtigall", dem "Fotolot", in der Kolumne "Vorworte", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.


Literatur

Ronya Othmann
Vierundsiebzig
Roman
Rowohlt Verlag. 512 Seiten. 26 Euro

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Tief bewegt haben die KritikerInnen das neue Buch von Ronya Othmann gelesen, eine Mischung aus Roman, Essay, Autobiografie, Reiseliteratur und Geschichtsschreibung, dessen Titel sich auf das vierundsiebzigste Pogrom bezieht, das im August 2014 im Sindschar-Gebirge an den Jesiden verübt wurde. Othmann, in Deutschland aufgewachsene Tochter eines jesidischen Vaters, ist gemeinsam mit ihm 2018 in den Nordirak und in die Türkei gereist, um den Genozid zu dokumentieren. Sie hat mit Überlebenden und deren Familienmitgliedern gesprochen, die fliehen konnten und mitansehen mussten, wie der IS ihre Kunstschätze und Heiligtümer zerstört. Wir lesen von Ermordung, von der Vertreibungs- und Fluchtgeschichte ihrer Familie, aber Othmann berichtet auch von einem Prozess in München gegen eine IS-Anhängerin und denkt in diesem Zusammenhang auch über die politische und juristische Aufarbeitung des Genozids nach. Neben Informationen über die jesidische Kultur gewährt uns die Autorin nicht zuletzt Einblicke in die Beziehung zu ihrem Vater, aber auch in die Schuldgefühle, die Überlebende des IS-Massakers heimsuchen. Für den FAZ-Kritiker Alexandru Bulucz, der sich mit Othmann getroffen hat, ist dieses Buch ein "Meilenstein der literarischen Genozidforschung", das im Wechsel aus "poetologischen" und "manisch" dokumentierenden Passagen Raum für Komplexitäten lässt. taz-Kritikerin Eva Behrendt ist nicht nur beeindruckt vom "Sammelfuror" der Autorin, sondern auch von den "kleinen Alltagsschilderungen". Ein wichtiges Buch annonciert auch Moritz Baumstieger in der SZ, vor allem weil Othmann nicht als allwissende Expertin auftrete, sondern als Suchende, die in Deutschland kaum bekannte Zusammenhänge ins Licht rückt.

Anne Weber
Bannmeilen
Ein Roman in Streifzügen
Matthes und Seitz Berlin. 301 Seiten. 25 Euro

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Für ihr Versepos "Annette, ein Heldinnenepos" hatte Anne Weber im Jahr 2020 den Deutschen Buchpreis erhalten. Nun hat sich die Autorin, die seit vierzig Jahren in Paris lebt, auf den Weg gemacht durch die Pariser Banlieues - zu Deutsch: "Bannmeilen" -, jenen oft ziemlich struppigen Vorstädten, die nicht das Privileg haben, zur Stadt Paris zu gehören. Begleitet wird sie von dem algerisch-französischen Filmemacher Thierry, ein Freund Webers, der in den Pariser Randbezirken aufgewachsen ist. Nicht alle Kritiker belassen es dabei, sich von Weber nur literarisch durch die Banlieues führen zu lassen: Felix Stephan hat sich für die SZ einem jener Streifzüge angeschlossen, die Weber derzeit unternimmt, um ihren neuen Roman zu bewerben. Seine Vorbehalte, es handele sich um "Elendstourismus", kann Weber offenbar während der Begegnung und auch durch ihr Buch zerstreuen: In den tagebuchartigen Notaten über Begegnungen, Beobachtungen, Architektur und Geschichte der Banlieues macht der Rezensent wahres Mitgefühl aus. Dlf-Kritikerin Beate Tröger attestiert Weber einen produktiven Blick auf die Regionen und die Menschen, die man sonst gerne übersieht: Mit "zärtlicher Ironie" schildere die Autorin die Wohnsilos, den dort lebenden Menschen trete sie zugewandt und vorurteilsfrei gegenüber. Ein aufmerksames, genau hinschauendes, aber nie bloßstellendes Buch liest auch Dlf-Kultur-Rezensentin Sigrid Brinkmann, die dabei hier einiges über die Geschichte Frankreichs und den Algerienkrieg erfährt. Spannend, kritisch und anregend findet Cornelia Geissler (FR) Webers Mischung aus Erzählung, Reportage und Selbstbefragung. Weitere Besprechungen im NDR und SWR2.

Fien Veldman
Xerox
Roman
Carl Hanser Verlag. 224 Seiten. 23 Euro

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Die Niederlande und Flandern präsentierten sich als Gastland auf der diesjährigen Leipziger Buchmesse, viel haben wir in den Zeitungen davon aber nicht mitbekommen. Gerade einmal sieben aus dem Niederländischen übersetzte Bücher wurden in den vergangenen Wochen besprochen. Zumindest dreimal empfohlen wurde der Debütroman von Fien Veldmann, einer niederländischen Journalistin, die uns vom sinnentleerten Alltag im Büro eines Startup-Unternehmens erzählt. Und das in Form einer maliziösen Satire, wie uns taz-Kritikerin Hanna Engelmeier versichert: Wir folgen einer namenlosen Ich-Erzählerin mit Abstiegsängsten, die in Liebe zu einem "Xerox"-Laserdrucker entbrennt und ihm fortan nicht nur von ihrer gewalttätigen Kindheit und sexuellem Missbrauch, sondern auch von der langwierigen Suche nach einem ins Büro gelieferten Paket erzählt. Für Engelmeier ist das ein geschickt erzählter Roman, der die Komik und Konflikte der modernen Arbeitswelt entlarvt. Eine "transhumane Romanze" mit Tiefgang empfiehlt Ronald Düker in der Zeit, ein "Spiegelkabinett", das die "Phantasmagorien der Angst" zeigt, liest Paul Jandl, den der Roman in der NZZ an J.J. Voskuil, den "Balzac des Bürolebens" erinnert.

Jana Scheerer
Die Rassistin
Roman
Schöffling und Co. Verlag. 224 Seiten. 22 Euro

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Zum Luftholen empfehlen wir gern einen Roman mit viel Witz: Von der Kritik gefeiert und schnell zum Bestseller wurde Mithu Sanyals Campusroman "Identitti" vor drei Jahren, der um das explosive Thema Identitätspolitik kreiste. Ein ähnliches Feld beackert Jana Scheerer, die uns in ihrem neuen Roman von einer Dozentin erzählt, die plötzlich mit Rassismus-Vorwürfen konfrontiert wird. Ein zudem aktueller Roman also, wenn wir auf gegenwärtige Universitätsdebatten, etwa in Harvard blicken. Und ein rasanter, trickreicher und stilistisch ausgefeilter noch dazu - wie uns Jörg Magenau im Dlf Kultur versichert. Dabei geschieht auf der Handlungsebene gar nicht viel: Der linksliberalen, lesbischen Sprachwissenschaftlerin Nora Rischer wird Rassismus vorgeworfen, schnell steht sie im Zentrum eines Shitstorms. Dieses Ereignis wird aufs gründlichste untersucht, besprochen und vor allem: gefühlt, erzählt uns Magenau. Aber so spannend, facettenreich, urkomisch und doch mit gebührendem Ernst muss man erstmal schreiben, staunt er. Es gehe Scheerer keineswegs darum, den gesamten Diskurs über politische Korrektheit lächerlich zu machen. Vielmehr zeigt sie die "diskursiven Abgründe einer wohlmeinenden Öffentlichkeit" sowie deren "immanenten Totalitätsanspruch" auf, erklärt er: Eine herrlich groteske Geschichte. Für den WDR hat Markus Brügge das Buch rezensiert.

Temur Babluani
Sonne, Mond und Kornfeld
Roman
Voland und Quist Verlag. 546 Seiten. 28 Euro

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Mit über siebzig Jahren legt der georgische Regisseur und Schauspieler Temur Bablunani sein literarisches Debüt vor - und das ist bestens geeignet für die "große Leinwand", wie uns Olga Hochweis im Dlf Kultur versichert. Erzählt wird die Geschichte von Dschude, siebzehn Jahre alt, der im Tbilissi des Jahres 1968 einen Doppelmord gesteht, weil ihn die Mafia dazu drängt. Die Hoffnung, als Minderjähriger nur eine geringe Haftstrafe verbüßen zu müssen, zerschlägt sich: Mehr als drei Jahrzehnte verbringt er trotz Fluchtversuchen in sibirischen Lagern und schließlich in einer Nervenheilanstalt in Kasachstan, bis er nach Jahren geistiger Umnachtung zwar in einer Welt ohne Sowjetunion, aber im noch kriminelleren Georgien aufwacht, resümiert Hochweis. Gelegentlich verliert sie bei diesem atemlosen Abenteuerroman den Überblick, manches erscheint der Kritikerin "märchenhaft überzeichnet". Die sympathische Hauptfigur und die Liebesgeschichte im Roman tragen Hochweis aber gut durch die Geschichte. Gebannt liest auch FAZ-Kritiker Tilman Spreckelsen den Roman, der ihn unter anderem mit Mordanschlägen und Identitätsdiebstählen auf Trab hält. Der Held mit seinem "an Umschwüngen reichen Schicksal" erinnert ihn mitunter gar an Simplicissimus.

Han Kang
Griechischstunden
Roman
Aufbau Verlag. 204 Seiten. 23 Euro

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Han Kang ist bekannt für ihre leisen, empfindsamen Romane, schreibt Volker Weidermann, der sich für die Zeit zum Gespräch mit der Südkoreanerin getroffen hat. Nun liegt einer ihrer frühen, im Original bereits 2011 erschienenen Romane auf Deutsch vor - und Han Kang ist ganz in ihrem Element. Sie erzählt die Geschichte einer Lyrikerin, die nach dem Tod der Mutter und der Scheidung samt Sorgerechtsstreit verstummt und in einem Altgriechisch-Kurs auf einen Lehrer trifft, der langsam zu erblinden droht. Über die Sprache findet sie zu sich selbst, und heraus aus ihrem Kokon. Die Kritiker sind hingerissen von diesem schmalen Roman: Ein zartes, vorsichtiges Buch, dessen Figuren die Leser lange nicht loslassen, schwärmt Weidermann. Martin Oehlen bewundert in der FR den von Ki-Hyang Lee brillant übersetzten Roman für seinen erstaunlichen formalen Reichtum und seine sprachliche Intensität. Auch Barbara Geschwinde lobt im Dlf die Schönheit der Sprache, die dabei nicht nur "klar und nüchtern" bleibe, sondern auch Einblicke ins Altgriechische schenke. Und wie die Autorin in fast surreal anmutenden Bildern von Einsamkeit, Verlust und Trost erzählt, gefällt der Rezensentin besonders. In der SZ legt uns Alex Rühle den Roman ans Herz, den er als filigranen Text wie aus "Millionen von Glaspartikeln" beschreibt.

Matthias Jügler
Maifliegenzeit
Roman
Penguin Verlag. 160 Seiten. 22 Euro

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Nach einem Buch wie Katja Hoyers "Diesseits der Mauer", das die DDR-Geschichte eher beschönigte, ist die Lektüre von Matthias Jüglers neuem Roman sicher hilfreich: Jügler widmet sich einem erst in Ansätzen aufgearbeiteten Aspekt der DDR-Unrechtsgeschichte, der Vortäuschung von Säuglingstoden zwecks Adoption, klärt uns Melanie Mühl in der FAZ auf. Wir lesen hier die Geschichte von Hans, der Ende der 1970er Vater eines Sohnes wurde und dem weisgemacht wurde, das Kind sei gestorben. Die Mutter des Kindes hatte schon damals Zweifel an dieser amtlichen Behauptung, die Ehe der beiden zerbrach schließlich. Jahrzehnte später, nach der Wende, nimmt der damals zur Adoption freigegebene Sohn Kontakt zum Vater auf. Jügler erzählt diese Geschichte unpathetisch und ohne Umschweife, lobt die Kritikerin, die den Roman als wichtigen Beitrag zur literarischen Aufarbeitung des DDR-Erbes würdigt. Der Autor selbst war beim Mauerfall erst fünf Jahre alt, und doch gelingt ihm ein bedrückend zutreffendes Bild der DDR, staunt Helmut Böttiger im Dlf, das auch das Schweigen und die Schuldgefühle eindrucksvoll kenntlich macht. In der FR empfiehlt Ulrich Seidler den Roman. Sehr gut besprochen wurde auch Franz Doblers autofiktionaler Roman "Ein Sohn von zwei Müttern" (bestellen), der uns in die bayrische Provinz der sechziger bis achtziger Jahre führt. Wie Dobler hier davon erzählt, was es heißt, zwei Mütter zu haben, mit genauem Blick auf das Verhältnis von Erinnern und Verdrängen, hält Ulrich Gutmair in der taz für "große Kunst".


Sachbuch

Andreas Petersen
Der Osten und das Unbewusste
Wie Freud im Kollektiv verschwand
Klett-Cotta Verlag. 352 Seiten. 25 Euro

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In Russland wurde "ab Ende der 1920er-Jahre durch Stalin alles Tiefenpsychologische ausgelöscht" und das hat Folgen bis heute, hatte der Historiker Andreas Petersen kürzlich im Welt-Gespräch gesagt. (Unser Resümee) In diesem Buch geht er darüber hinaus und untersucht und vergleicht das Verständnis, die Entwicklungen und den Einfluss der Psychoanalyse in Ost- und Westeuropa - und zwar klug, versiert und "anregend", wie uns Thomas Groß im Dlf Kultur versichert. Er sieht in Petersens Studie eine "Pionierleistung", denn über den Einfluss Freuds und seiner Erben in den realsozialistischen Ländern wissen wir relativ wenig: Dass Trotzki beispielsweise im Wiener Salon des Tiefenpsychologen Alfred Adler und seiner Partnerin, der Frauenrechtlerin Raissa Epstein, verkehrte, dass er Freud-Fan war und sich die Psychoanalyse für seine permanente Revolution zu Nutze machen wollte, ist für Groß neu und überraschend. Petersen erzählt und verbindet die Lebensläufe solcher Persönlichkeiten, um daran exemplarisch eine Rezeptions- und Wirkungsgeschichte in Ost und West zu erzählen. Damit leistet er einen wertvollen Beitrag zum Verständnis eines anhaltenden Konflikts, lobt Groß. Geradezu "filmreif" erscheinen Welt-Kritiker Eckart Goebel einige Fälle, etwa wenn der Autor erzählt, wie versucht wurde, dem revolutionären Individuum mittels Psychologie, zum Beispiel der Pawlowschen Schule, den Individualismus auszutreiben, was teilweise tödlich endete. Auch der Missbrauch der psychiatrischen Kliniken ist in diesem Zusammenhang ergreifend beschrieben, bekennt der mitgenommene Kritiker. FAZ-Kritikerin Marianna Lieder ist das Buch zwar mitunter zu detailverliebt, aber auch Lieder nimmt hier allerhand mit, wenn etwa Titos Sonderstellung erläutert wird - in Jugoslawien wurden Foltermethoden auf tiefenpsychologischer Basis entwickelt, erfährt sie.

Ute Mahler, Werner Mahler, Ludwig Schirmer
Ein Dorf
1950-2022
Hartmann Projects. 362 Seiten. 68 Euro

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Einer ganzen Reihe von Zufällen verdanken wir dieses Buch, verrät uns der Klappentext: Ludwig Schirmer, zunächst Müller und Amateurfotograf, später einer der bekanntesten Werbefotografen der DDR, machte nach dem Zweiten Weltkrieg bereits Aufnahmen von seinem Heimatdorf. Tochter Ute lernt später Werner Mahler kennen, beide gründen 1990 mit weiteren Fotografen die Ostkreuz-Agentur. 1977/78 macht Werner Mahler sein Diplom über Utes Heimatdorf Berka, 1998 fotografiert er das Dorf im Rahmen der Stern-Serie zu "Blühenden Landschaften" erneut. 2021/22 wiederum macht Ute Mahler aktuelle Aufnahmen von den Jugendlichen des Dorfes. Gemeinsam mit dem Nachlass Ludwig Schirmers haben sie nun dieses Buch herausgegeben - ein ganz besonderes Heimatbuch, pointiert ergänzt durch Texte von Jenny Erpenbeck, Steffen Mau und anderen, versichert uns Anne Kohlick im Dlf Kultur. Sie kann hier den sozialen Wandel von der lebendigen Dorfgemeinschaft in den 1950er Jahren zu hohen, sauber geschnittenen Hecken und Carports mit SUVs gut nachvollziehen. In der FAZ würde Freddy Langer das Buch selbst Kindern empfehlen, damit sie begreifen, was ein Dorf ist, über verkitschte Bilderbücher hinaus.

Nicole Seifert
"Einige Herren sagten etwas dazu"
Die Autorinnen der Gruppe 47
Kiepenheuer und Witsch Verlag. 352 Seiten. 24 Euro

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Überwiegend fassungslos lesen die KritikerInnen dieses Buch der Literaturwissenschaftlerin Nicole Seifert, die die Geschichte der Gruppe 47 aus Sicht der Frauen erzählt. Auch wenn die Männer in der wohl wichtigsten literarischen Institution im Nachkriegsdeutschland in erschreckender Überzahl auftraten, nahmen doch mehr Frauen teil als bekannt: Neben Ingeborg Bachmann und Ilse Aichinger waren das etwa Schriftstellerinnen wie Griseldis Fleming, Gisela Elsner, Ilse Schneider-Lengyel oder Renate Rasp, die es dringend wiederzuentdecken gilt. Sie standen nicht nur im Schatten ihrer männlichen Kollegen, sondern mussten sich auch allerhand Beleidigungen und Klischees anhören, über die man heute nur noch staunen kann, erkennt NZZ-Kritiker Paul Jandl, der in ein "Lexikon lüstern verbrämter Misogynie" blickt: Von "Hexe" bis "Schlange" ist alles dabei, und das sind noch nicht einmal die schlimmsten Zuschreibungen. Nicht nur Hans Werner Richter, "Patriarch der deutschen Nachkriegsliteratur", war nicht in der Lage, bei Frauen zwischen literarischem Talent und körperlichen Merkmalen zu unterscheiden, lernt Jandl. Auch "biografisch" war ein Lieblingsvorwurf gegen die Texte von Autorinnen, die Herren selbst durften dagegen Schlüsselromane produzieren, in denen sie ihre Kriegserfahrungen aufarbeiteten oder ihre Affären mit Kolleginnen, ärgert sich Julia Hubernagel in der taz. Geschickt findet Meike Feßmann im Dlf Kultur, wie Seifert sexistische Zitate männlicher Autoren und Äußerungen von Frauen, die nicht auf ihr Äußeres reduziert werden wollten, gegeneinander montiert. Mit ihrer quellennahen Porträtsammlung über "verdrängte" Schriftstellerinnen leistet Seifert Pionierarbeit, lobt Maria Delius in der Welt, wenngleich sie eine Analyse der Ästhetik der in Frage stehenden Texte vermisst.

Jonathan Eig
Martin Luther King
Ein Leben
Deutsche Verlags-Anstalt. 752 Seiten. 34 Euro

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Während Malcolm X heute als Säulenheiliger der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung verehrt wird, scheint Martin Luther King in die zweite Reihe verbannt worden zu sein. "Wir haben ihn mit Zuckerguss überzogen", sagt Jonathan Eig, der nun die erste große Martin-Luther-King-Biografie nach dreißig Jahren vorlegt, im Zeit-Gespräch, in dem er auch auf das schwierige Verhältnis zwischen King und Malcolm X eingeht. Die Biografie jedenfalls ist äußerst lesenswert, versichern uns die Kritiker. Schon deshalb, weil Eig die Möglichkeit hatte, auf zahlreiche, in den letzten Jahren erst freigegebene FBI-Dokumente zurückzugreifen. Chronologisch und detailliert zeichnet der amerikanische Journalist zunächst Kings Jugend als privilegiertes, aber sensibles Kind mit zwei Suizidversuchen nach, dann das Theologie-Studium, die Zeit als Frauenheld, seinen Aufstieg zur "Ikone des Freiheitskampfs" und schließlich seinen Tod, resümiert Katja Riddersbusch im Dlf Kultur. Dass der Autor den Bürgerrechtler nicht idealisiert und auch nicht ausspart, wie dieser sich in seinen letzten Jahren immer weiter in Bezug auf Themen wie Polizeigewalt und soziale Ungleichheit radikalisierte, verbucht sie als Gewinn der Biografie. Auch Frauke Steffens lobt in der FAZ, dass Eig sowohl Kings Verdienste als auch dessen Schwächen realistisch einordnet: So kommen etwa Kings eheliche Untreue sowie die Plagiate in seiner Doktorarbeit zur Sprache. Überhaupt werde manches erinnerungspolitisch zurechtgerückt, etwa indem Eig aufzeige, dass King nicht alleine, sondern erst im Verbund mit vielen Helfern Großes leistete. Auch den harten Kampf um die Stellung, die King heute in der amerikanischen Erinnerung einnimmt, legt Eig in dieser komplexen Geschichte dar, lobt Steffens. In der New York Times empfiehlt Dwight Garner das Buch.

Michael Grüttner
Talar und Hakenkreuz
Die Universitäten im Dritten Reich
C.H. Beck Verlag. 704 Seiten. 44 Euro

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Angesichts des zunehmenden Antisemitismus nicht nur an amerikanischen, sondern auch an deutschen Universitäten ist die Lektüre dieser großformatigen Studie des Historikers Michael Grüttner sicher so beunruhigend wie wichtig. Auch deshalb, weil die Gesamtdarstellung der Rolle der Universitäten im Dritten Reich bisher ein Desiderat war, wie Stephan Speicher in der FAZ festhält. In sechs Großkapiteln zeichnet Grütters nach, wie die deutschen Universitäten bereits in der Weimarer Republik in eine Krise geraten waren und sich auch deshalb nach 1933 weitgehend ohne Gegenwehr ins neue System fügten: Die Unis waren in den zwanziger Jahren gewachsen, aber neue Stellen gab es kaum, darum mussten die alten Professoren vertrieben werden. Die NS-Politik brachte die Universitäten in breiter Front auf Linie, auch wenn sie dabei Grüttner zufolge nicht immer so effektiv war, wie die Partei das wünschte, lernt der Kritiker: Zum Teil wurde zwar versucht, dem Bedeutungsverlust des akademischen Betriebs entgegenzuwirken, insgesamt aber schlug die antiintellektuelle Haltung der Nazis auch auf ihre Bildungspolitik durch. Diese Mischung aus vermeintlichem Modernismus und Vernachlässigung der Wissenschaft stellt Grüttner gut dar, findet Speicher. Materialreich und trotzdem sehr gut lesbar erscheint auch SZ-Kritiker Daniel Siemens die Studie, die zudem das Bild einer Wissenschaftswelt zeichne, in der persönliche Seilschaften oft wichtiger waren als wissenschaftliche Korrektheit. Als "neues Standardwerk" preist Marcus Heumann das Werk im Dlf: Er erfährt hier nicht nur, dass die deutschen Universitäten eher nationalkonservativ eingestellt waren und viele Dozenten aus Karrieregründen in die NSDAP eintraten, sondern auch, dass Lehrstühle für "Rassenpolitik" und "Politische Auslandskunde" geschaffen wurden. Für viele Professoren bedeutete der Nationalsozialismus im Vergleich zum Kommunismus "das kleinere Übel" - diese Mittäter- und Mitläuferschaften sind aber im Nachhinein vielfach nicht richtig aufgeklärt worden, lernt er.

Manes Sperber
All das Vergangene...
Ausgewählte Werke, Band 1
Sonderzahl Verlag. 692 Seiten. 44 Euro

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Endlich wieder Sperber. Äußerst verdienstvoll ist das Projekt des Sonderzahl-Verlags, die Werke des großen antitotalitären Autors wieder zugänglich zu machen. Die Bücher dieses Klassiker waren in den letzten Jahrzehnten nur mehr im modernen Antiquariat greifbar, heißt es tatsächlich im Klappentext, und das ist unter anderem ein Hinweis darauf, dass sich die Öffentlichkeit eben doch weigert, die Lehren aus der Geschichte zu ziehen: Nur bei Autoren wie Sperber kann man lernen, dass sich Antifaschist nur nennen darf, wer auch mit dem Kommunismus gebrochen hat - und diese Erkenntnis hat durchaus Aktualität. Begeistert begrüßt Marko Martin den ersten Band der neuen Ausgabe im Dlf Kultur. Sperber erzählt vom Aufwachsen im galizischen Zablotów, dem Leben in Wien und Berlin, seiner Bekanntschaft mit Alfred Adler, seinem Marxismus, Verhaftung, Flucht, Bruch mit dem Kommunismus und dem Leben im französischen Untergrund. Die Nachkriegszeit nimmt nicht viel Raum ein im Buch, so der Rezensent, der dies als ein Zeichen sieht für die Würde und Bescheidenheit des Intellektuellen Sperber, der nicht auf seine vielen Bücher verweisen will. Weitere Bände der Ausgabe folgen bald.

Philipp Felsch
Der Philosoph
Habermas und wir
Propyläen Verlag. 256 Seiten. 24 Euro

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Schön ist laut den Surrealisten das zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine mit einem Regenschirm auf dem Seziertisch. Schön wäre natürlich auch das vielleicht nicht ganz zufällige Zusammentreffen von Habermas und Kritikerurteilen wie "Unterhaltsamkeit" zwischen zwei Buchdeckeln. Und was soll man sagen: die Kritiker versichern, dass Felsch dies gelungen sei! Jens-Christian Rabe verteidigt in der SZ diese Leichtigkeit mit Verve und Überzeugungskraft gegen bereits erhobene Vorwürfe der Oberflächlichkeit. Autor Philipp Felsch ist Kulturwissenschaftler, er hat die trockenen Wälzer Habermas' durchaus gelesen, aber er ist - und dafür schätzt ihn Rabe - auch ehrlich genug, sie bis heute und trotz angestrengter Verdauungsarbeit "entmutigend unzugänglich" zu finden. Und darum greift Felsch zu durchaus journalistischen Techniken, porträtiert Habermas etwa im Rahmen seiner schönen Villa am Starnberger See. 22 glänzend geschriebene Kurzkapitel verspricht auch Rezensentin Marianne Lieder in der Welt. Sehr ausführlich bespricht der Soziologe Hans-Peter Müller Felschs Buch bei Soziopolis. Unter anderem erzählt er, wie Habermas so gar nicht mit 1989 rechnete: Er gehörte wie Grass zu jenen westeuropäischen Linken, die ganz zufrieden damit waren, dass die andere Seite den Preis für den Krieg bezahlte. Felsch beschönigt da nichts, so Müller, und wünscht dem Buch hohe Verkaufszahlen. Ebenfalls sehr positiv besprochen wurden Volker Reinhardts Biografie des Ketzers Giordano Bruno (bestellen), "Der nach den Sternen griff" und die große und auch nicht fromme Goethe-Biografie von Thomas Steinfeld (bestellen).
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