Vorgeblättert

Lutz Seiler: Kruso. Teil 2

01.09.2014.
Da der Strand zu Füßen der Treppe steinig war, wanderte Ed ein Stück Richtung Norden, bis zum ersten Küstenvorsprung, wo es sandige Stellen gab. Er hatte das große unhandliche Notizbuch dabei (mit der Widmung von G. im Einband), er verbarg es in seinem Handtuch. Ed hegte die Vorstellung, auf irgendeine Weise zu sich zu kommen in dieser Pausenstunde, das Meer zu atmen, nachzudenken, aber er war viel zu erschöpft. Also saß er einfach nur da und schaute hinaus. Seine Hände schienen, trotz Creme, wie aufgelöst, die Haut porös, weiß und faltig. Die Hände einer Wasserleiche, dachte Ed. Seine Fingernägel wackelten wie lose in den Nagelbetten, und hätte er es gewollt, hätte er sie mit wenig Mühe aus dem Fleisch ziehen können. Er öffnete seine Handflächen zur Sonne, legte sie in den Schoß und sah aufs Wasser hinaus.
     Seine Augen hatten sich erholt, immerhin. Und die seifigen, fauligen Dünste des Abwaschs hatten den Umriss jenes Schreckens aufgeweicht, der ihm noch immer in den Knochen pochte (nicht gesprungen!). Seine Erschöpfung erinnerte ihn an seine Zeit als Lehrling auf dem Bau. An die fast vergessene Müdigkeit der jungen Jahre (wieder nannte er es so, als wäre er inzwischen alt), und er fühlte etwas wie ein Heimweh nach Arbeit. Eine körperliche, wie eingeborene Sehnsucht, die beinah in Vergessenheit geraten oder, mehr noch, vollkommen verschüttet worden war. Das Studium hatte ihn konturlos und beliebig gemacht. Bei der Arbeit wurde er sich wieder ähnlich, die Arbeit führte ihn zurück in eine spürbare Ähnlichkeit. »Müdseligkeit«, summte es aus seinen Beständen, woraufhin Ed Steine ins Wasser zu schleudern begann. Er fragte sich, ob er bestanden hatte, ob er jetzt der Abwäscher des Klausners war.
     Auf dem Rückweg begann er, Treibholz aufzulesen. Wurzeln, Brettzeug, Reste von Schiffen vielleicht. Am Ende hatte er ein stattliches Bündel vor der Brust. Auf der Treppe nach oben glitt ihm das mit Muscheln und Algen besetzte Holz fast aus der Hand, aber er ließ es nicht zu: Diese Prüfung würde er in jedem Fall bestehen. Die Treppe war steil, und der Schweiß lief ihm in die Augen. Er stellte sich vor, wie Kruso ihn entdeckte. Sein ernsthaftes Lächeln. Er sah Ed, den Wilden, der schnell begriff und sich vom ersten Tag an als nützlich erwies. Als Ed am Holzplatz ankam, ließ er das Bündel fallen, so geräuschvoll wie möglich. In seiner Lebensverwirrung hatte er einen unvergleichlichen Lehrer gefunden.


Das Frühstück

21. Juni. Das Frühstück war der einzige Zeitpunkt, zu dem die Besatzung des Klausners vollständig zusammenkam, und Ed begriff schnell, dass es nicht möglich war, unpünktlich zu sein. Jeden Morgen um sieben Uhr war die Tafel komplett eingedeckt. Zwölf Teller, je fünf an den Längsseiten, zwei an den Stirnseiten. Eds Aufnahme dauerte nur wenige Minuten, und kein Wunder war, dass sie ihm später noch oft vor Augen stand.
     Nachdem Kruso und Koch-Mike Platz genommen hatten, wählte Ed einen der Stühle, auf der hinteren, zur Wand gelegenen Seite der Tafel, und traf damit eine gute Wahl. Tatsächlich handelte es sich um den Platz seines Vorgängers namens Speiche. Speiche wurde noch ab und zu erwähnt in den Gesprächen, aber nur zur Belustigung über einen, der den Klausner offensichtlich nicht bestanden hatte und »auch darüber hinaus nicht geeignet gewesen war«. So drückte es Kruso aus, als griffe er dabei auf ein verbindliches Regelwerk zurück, den Kodex der Esskaas, wie Ed vermuten musste.
     Inzwischen hatte er verstanden, dass Esskaa nichts anderes bedeutete als die gesprochene Abkürzung für Saisonkraft. SK erinnerte an den Begriff des EK , des Entlassungskandidaten beim Militär, und wie es während seiner Zeit bei der Armee eine EK -Bewegung gegeben hatte, ein Konglomerat aus derben bis tödlichen Späßen, verbunden mit einem unbedingten Verlangen nach Unterordnung (alles zusammengenommen eine Art martialischer Vorfreude auf den Tag der »Freiheit«, die Entlassung), würde es auch eine Esskaa-Bewegung geben, schlussfolgerte Ed, natürlich mit eigenen, ganz anderen Gesetzen, weshalb es nur von Vorteil sein konnte, sich diesen Kodex so rasch wie möglich anzueignen. Dabei dachte Ed an jenen Soldaten, der wie er ein sogenannter »Frischer« gewesen war, ein »Glatter«, ein Soldat im ersten Diensthalbjahr. Für ein Spiel namens Schildkröte hatten die Ekaas ihm Stahlhelme an Knie und Ellbogen geschnürt, um ihn dann in den Korridor ihrer Baracke zu schleudern, mit großem Schwung über das spiegelglatte Linoleum, das zuvor von dem Soldaten selbst gebohnert und gekeult worden war, stundenlang. Seine Fahrt war enorm gewesen. Bis zur Wand am Ende des Flurs, an der er sich das Genick gebrochen hatte.
     Kruso lachte nie über die Witze, die aus dem verschollenen Abwäscher einen Hampelmann und arbeitsscheuen Versager machten. Speiche, das Heimkind ... Zuerst hatte Ed diese Bezeichnung für einen groben Scherz gehalten, später erfuhr er, dass sein Vorgänger tatsächlich Waise gewesen und nach dem Erreichen der Volljährigkeit direkt aus dem Heim (»ausm Heim!«) auf die Insel gekommen war. Niemand schien wirklich daran interessiert, wohin der elternund geschwisterlose Speiche so plötzlich gegangen sein konnte. Hier, im Vorhof des Verschwindens, fragt keiner, wohin einer noch gehen könnte, flog es Ed durch den Kopf, sinnloserweise. Es gab Fälle von Abwanderung in andere Lokale, tatsächlich schien das vorzukommen. Lokale mit besseren Bedingungen und Konditionen, das »Wieseneck« oder der »Dornbusch« boten höheren Stundenlohn, auch die Ruhetage wurden mit einer Prämie vergütet, sogar von »Wochenendzuschlag« wurde gesprochen, und in der »Inselbar« waren die Kellner verpflichtet, selbst das Besteck zu polieren, oder sie zahlten dem Abwäscher fünf Mark extra dafür, so jedenfalls hatte es der stumme Rolf ihm erzählt, den die Geldfrage zum Reden brachte. Aber schließlich ging es Ed nicht um Geld, darum war es nie gegangen.
     Speiche hatte nicht nur seinen sauren Geruch, seine Zahnbürste, seine Brille und die Kakerlaken im Zimmer zurückgelassen. Auch eine Tasche am Boden des Schranks, die einen warmen, handgestrickten Pullover und ein paar Wildlederschuhe enthielt. Diese als Tramper gehandelten Schuhe mit ihrer flachen, dünnen Sohle waren außerordentlich begehrt und schwer zu beschaffen, was ihr Zurückbleiben noch eigenartiger machte. Vielleicht würde Speiche eines Tages wieder auftauchen, um seine Siebensachen einzusammeln, dachte Ed und ließ die Tasche unangetastet.
     Die Tafel für das Frühstück, der sogenannte Personaltisch (auch Persotisch genannt), befand sich im hinteren Drittel der Gaststube, in einer Nische, von der auch die Tür zu Krombachs Kabinett abging. Nachdem alle Platz genommen hatten, öffnete sich der Verschlag und Krombach trat hinter seinen Stuhl, gehüllt in eine Wolke Exlepäng. Dabei rieb er sich die Hände, als wäre schon alles oder jedenfalls für diesen Moment alles gelungen. Augenblicklich erhob sich Kruso und trug die dampfende, braun geäderte Stahlkanne mit dem Kaffee vom Tresen an den Tisch, wo er Krombach, sich selbst und Koch-Mike bediente, um die Kanne dann in der Mitte der Tafel abzustellen. Ed sah, wie Kruso sich auf jede einzelne seiner Bewegungen konzentrierte und dabei eine Haltung einnahm, die dem besonderen Stolz entsprach, den er auch im Abwasch oder am Hackstock an den Tag gelegt hatte. Sowohl Krombach als auch Koch-Mike dankten Kruso mit kleinen Gesten, die befangen wirkten, aber vielleicht täuschte sich Ed.
     Krombach murmelte ein paar belanglose Sätze über das Wetter in der Nacht, die Strömung, den Wellengang und den Wind am Morgen, als ginge es darum, zum Fischfang auszufahren. Dann beklagte er einen neuen Küstenabrutsch »zwischen Signalmasthuk und Totem Kerl«, er musste bereits unten am Wasser gewesen sein. Dann herrschte Schweigen. Eine Gedenkminute vielleicht für das stetige Schrumpfen der Insel. Das Schweigen war angenehm. Eine Weile gab es nicht mehr als die Frühstücksgeräusche und die höhnischen Schreie einer Möwe draußen auf dem Kliff. Die beiden Türflügel zur Terrasse waren weit geöffnet, die Meeresluft strömte herein und spülte den Dunst des Vorabends aus der Gaststube. Für eine Sekunde schloss Ed die Augen und sah den Kopf des Bärenpferds; keine Tränen mehr.
     Es gab Brötchen, Brot, Leberwurst, Teewurst, ein paar Schmelzkäseecken, etwas Salami, Schnittkäse und einen zähen, zittrigen Block Mehrfruchtmarmelade auf einem Teller - »zwei Persoplatten für zwölf Mann Persofrühstück«, wie es Koch-Mike ausdrückte, der seine eigene extragroße Tasse an den Tisch mitgebracht hatte. Ed säbelte an der Marmelade. Nach ein paar Minuten begann der Direktor behutsam und kaum hörbar seine Anweisungen in die Runde zu streuen. Für einen Augenblick hielten alle ihr Messer still in der Luft, und Ed spürte die Anspannung. »Eine Sache, die ich nicht vergessen will ...«, murmelte Krombach; es ging um die Gasflaschen und die maroden Leitungen der Zapfanlage. Kruso wusste die Antwort. Im Grunde redete Krombach ohnehin nur mit Krusowitsch oder Koch-Mike. Nachdenklich strich sich Kruso über seine muskulösen Oberarme und senkte den Kopf, den er dabei leicht schief hielt. Es war erst Juni, aber seine Haut war bereits braungebrannt wie die eines Sioux. Unberührbar. Ed betrachtete die große, leicht hakenförmige Nase. Öfter schüttelte Kruso ganz leicht den Kopf; es war Ausdruck seiner stetigen Aufmerksamkeit, keine Verneinung jedenfalls.
     Koch-Mike machte Notizen auf gebrauchtem Packpapier, das er sich zu unförmigen, handtellergroßen Zetteln riss. Mit einem stumpfen Kopierstift überarbeitete er die BestellListen der Küche für die kommenden Tage; der Schweiß brach ihm aus, und die Listen wurden unleserlich. Offensichtlich betrachtete es der Koch des Klausners als seine natürliche Pflicht, auf alle Engpässe in der Versorgung eine Antwort zu finden. Er hatte seinen Platz am anderen Ende der Tafel, dem Direktor genau gegenüber; die Sätze der beiden liefen zwischen den Reihen der Esskaas wie durch eine Gasse auf und ab.
     »Matrosen, ich möchte euch Edgar Bendler vorstellen.«
     Der Direktor erhob sich. Sein auf diese Weise ausgesprochener Name, vollständig, kräftig, mit einem guten, fast fröhlichen Klang, berührte Ed. Es war wie eine seltene Zärtlichkeit, und für einen Moment erlosch das ungute Gefühl, es ginge dabei um einen Dritten, den er hier nur vertrat; ja, es war, als könne er jetzt davon ausgehen, dass er selbst an diesem Tisch saß und tatsächlich ein Teil war dieser für ihn noch gar nicht fassbaren Runde, angekommen im Herzen des Klausners, hoch über dem Meer.
     »In einer für ihn schwierigen Situation und nach Nächten des Umherirrens ...«
     Es folgte eine kurze Rede, in der Krombach ihn mit einer halb erfundenen und halb zutreffenden Beschreibung »seines bisherigen Werdegangs« präsentierte. Niemand verzog eine Miene. Mit seiner flachen, offenen Hand deutete der Direktor schließlich auf jeden einzelnen Platz am Tisch, zuerst jedoch auf den leeren Stuhl rechts von ihm:
     »Monika, meine Tochter - die heute entschuldigt ist.«
     Seine Hand zeigte auf das Obergeschoss, dann begann sie ihre Reise rund um den Tisch. »Chris, Mirko und Rimbaud aus dem Service, unsere Kellnerschaft, hervorragend, ich möchte sagen unschlagbar. Sowohl in Schnelligkeit und Ausdauer als auch in Klugheit und Weisheit, gastronomisches und philosophisches Wissen sind hier aufs Schönste vereint.«

Teil 3

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