Vorgeblättert

Leseprobe zu Patrick Modiano: Der Horizont. Teil 2

01.07.2013.
Und Mérovée hatte sein Greisengelächter angestimmt. Bosmans wusste nicht, was er antworten sollte. Die Fröhliche Bande? Der andere, immer noch mit seinem strengen Gesicht, mit seinem harten Blick, hatte gesagt: "Das sind wir, die Fröhliche Bande", und Bosmans hatte das eher komisch gefunden, wegen des schaurigen Tons, den er angeschlagen hatte. Doch während er die drei an jenem Abend betrachtete, hatte er sich vorgestellt, wie sie mit dicken Knüppeln in der Hand über die Boulevards zogen und von Zeit zu Zeit überraschend auf einen Passanten einschlugen. Und jedesmal hätte man Mérovées piepsiges Lachen gehört. Er hatte ihnen gesagt:
"Was die Fröhliche Bande betrifft … lassen Sie mir noch ein wenig Bedenkzeit."
Die anderen schienen enttäuscht. Im Grunde hatte er sie kaum gekannt. Er war nicht öfter als fünf-, sechsmal allein mit ihnen zusammengewesen. Sie arbeiteten im selben Büro wie Margaret Le Coz, und von ihr waren sie ihm vorgestellt worden. Der Brünette mit dem Bulldoggenschädel war ihr Vorgesetzter, und sie musste freundlich zu ihm sein. An einem Samstagnachmittag hatte er sie auf dem Boulevard des Capucines getroffen, Mérovée, den Büroleiter und den Blonden mit der getönten Brille. Sie kamen aus einer Turnhalle. Mérovée hatte gedrängt, dass er auf "ein Glas und eine Makrone" mit ihnen komme. Er war auf der anderen Seite des Boulevards gelandet, an einem Tisch der Teestube La Marquise de Sévigné. Mérovée schien begeistert, dass er sie alle in dieses Lokal geschleppt hatte. Er rief eine der Kellnerinnen herbei, in Stammgastmanier, und bestellte mit schneidender Stimme "Tee und Makronen". Die beiden anderen betrachteten ihn mit einer gewissen Nachsicht, was Bosmans bei dem Büroleiter erstaunt hatte, der ja normalerweise so streng war.
"Also, was unsere Fröhliche Bande angeht … haben Sie eine Entscheidung getroffen?"
Mérovée hatte Bosmans in barschem Ton die Frage gestellt, und dieser suchte nach einer Ausrede, um aufzustehen. Er hätte ihnen zum Beispiel sagen können, er müsse telefonieren gehen. Dann würde er sich davonschleichen. Aber er dachte an Margaret Le Coz, die ihre Bürokollegin war. Er lief Gefahr, ihnen jeden Abend wiederzubegegnen, wenn er sie abholte.
"Also, was ist, haben Sie Lust, Mitglied unserer Fröhlichen Bande zu werden?"
Mérovée drängte, immer aggressiver, als wollte er Bosmans herausfordern. Man hätte glauben können, die zwei anderen machten sich bereit, einem Boxkampf zu folgen, der Brünette mit dem Bulldoggenschädel zeigte ein feines Lächeln, der Blonde war völlig unbewegt hinter seiner getönten Brille.
"Wissen Sie", hatte Bosmans mit ruhiger Stimme erklärt, "seit Internat und Kaserne mag ich keine Banden mehr."
Mérovée hatte, von dieser Antwort aus der Fassung gebracht, sein Greisengelächter angestimmt. Sie hatten von etwas anderem gesprochen. Der Büroleiter hatte Bosmans mit ernster Stimme erklärt, dass sie zweimal pro Woche in die Turnhalle gingen. Sie trainierten mehrere Sportarten, darunter französisches Boxen und Judo. Sogar ein Fechtsaal mit Fechtlehrer sei vorhanden. Und samstags meldeten sie sich an zu einem "Crosslauf" oder einer "Aschenbahn" im Bois de Vincennes.
"Sie sollten mit uns Sport treiben …"
Bosmans hatte das Gefühl, er gebe ihm einen Befehl.
"Ich bin sicher, dass Sie nicht genug Sport treiben …"
Er schaute ihm gerade in die Augen, und Bosmans hatte Mühe, diesem Blick standzuhalten.
"Also, kommen Sie mit uns Sport treiben?"
Ein Lächeln erhellte sein dickes Bulldoggengesicht.
"Einverstanden mit einem Tag nächste Woche? Ich melde Sie in der Rue Caumartin an?"
Diesmal wusste Bosmans nicht mehr, was er antworten sollte. Ja, diese Hartnäckigkeit erinnerte ihn an die ferne Zeit in Internat und Kaserne.
"Vorhin haben Sie mir doch gesagt, Sie mögen keine Banden?" fragte Mérovée mit schriller Stimme. "Die Gesellschaft von Mademoiselle Le Coz ist Ihnen wohl lieber?"
Den beiden anderen war diese Bemerkung offenbar peinlich. Mérovée lächelte immer weiter, dennoch schien er Bosmans' Reaktion zu fürchten.
"Jaja, so ist es. Wahrscheinlich haben Sie recht", hatte Bosmans leise geantwortet.
Er hatte sich draußen auf dem Trottoir von ihnen verabschiedet. Sie entschwanden im Gewühl, der Büroleiter und der Blonde mit der getönten Brille gingen nebeneinander. Mérovée, ein Stück dahinter, drehte sich um und winkte noch einmal. Und wenn sein Gedächtnis ihn täuschte? Vielleicht war das an einem anderen Abend gewesen, um sieben vor dem Bürogebäude, als er auf Margaret Le Coz wartete.
Ein paar Jahre später, gegen zwei Uhr morgens, fuhr er mit dem Taxi über die Kreuzung, wo sich Rue du Colisée und Avenue Franklin-Roosevelt schneiden. Der Chauffeur hielt an der roten Ampel. Genau gegenüber, am Gehsteigrand, stand jemand reglos, sehr steif, in einer schwarzen Pelerine, mit bloßen Füßen in Sandalen. Bosmans erkannte Mérovée. Sein Gesicht war abgezehrt, das Haar kurz geschoren. Er stand da wie eine Schildwache, und immer wenn eines der seltenen Autos vorüberfuhr, zeigte er die Andeutung eines Lächelns. Eine Grimasse vielmehr. Man hätte meinen können, ein Stricher für Kunden aus dem Jenseits. Es war eine Nacht im Januar und außergewöhnlich kalt. Bosmans verspürte Lust, hinzugehen und ihn anzusprechen, doch er sagte sich, dass ihn der andere nicht erkennen würde. Er sah ihn noch durch das Rückfenster und bis der Wagen am Rond-Point abbog. Er konnte den Blick nicht losreißen von dieser reglosen Silhouette in der schwarzen Pelerine, und plötzlich fiel ihm der dicke, weißhäutige Bursche wieder ein, der Mérovée oft begleitete und ihn so sehr zu bewundern schien. Was war aus ihm geworden?
Es gab unzählige Gespenster dieser Art. Fast immer war es unmöglich, ihnen einen Namen zu verpassen. Also begnügte er sich damit, vage Angaben in sein Notizbuch zu schreiben. Das brünette Mädchen mit der Narbe, das immer um die gleiche Zeit auf der Linie Porte-d'Orléans/Porte-de-Clignancourt fuhr … Zumeist war es eine Straße, eine Metrostation, ein Café, was sie aus der Vergangenheit auftauchen ließ. Er erinnerte sich an die Pennerin im Gabardinemantel mit dem Gehabe eines ehemaligen Mannequins, der er mehrmals und in verschiedenen Vierteln begegnet war: Rue du Cherche-Midi, Rue de l'Alboni, Rue Corvisart …
Er hatte sich gewundert, dass man unter den Millionen von Einwohnern, die eine Großstadt wie Paris zählt, in langen Abständen zufällig wieder auf dieselbe Person stoßen konnte, und jedesmal an einem Ort, der vom vorangegangenen weit entfernt lag. Er hatte einen Freund gefragt, der Wahrscheinlichkeitsrechnungen anstellte und die letzten zwanzig Jahrgänge der Zeitung Paris Turf untersuchte, denn er wollte bei Pferderennen setzen. Nein, darauf gab es keine Antwort. Bosmans hatte sich gedacht, das Schicksal insistiere eben manchmal. Du begegnest zwei-, dreimal der gleichen Person. Und wenn du sie nicht ansprichst, bist du selber schuld.
Der Firmenname dieser Büros? Irgendetwas wie "Richelieu Interim". Ja, sagen wir: Richelieu Interim. Ein großes Gebäude in der Rue du Quatre-Septembre, ehemals Sitz einer Zeitung. Eine Cafeteria im Erdgeschoss, wo er sich zwei- oder dreimal mit Margaret Le Coz getroffen hatte, weil der Winter in jenem Jahr besonders kalt war. Doch lieber wartete er draußen.
Beim ersten Mal war er sogar hinaufgegangen, um sie abzuholen. Ein riesengroßer Aufzug aus hellem Holz. Er hatte die Treppe genommen. Auf jeder Etage, an den Doppeltüren, ein Schild mit dem Namen irgendeiner Gesellschaft. Er hatte da geläutet, wo Richelieu Interim dranstand. Die Tür hatte sich automatisch geöffnet. Am anderen Ende des Raums, hinter einer Art Tresen mit Glasscheibe darüber, saß Margaret Le Coz an einem der Schreibtische, wie andere Personen um sie herum. Er hatte an die Scheibe geklopft, sie hatte den Kopf gehoben und ihm bedeutet, er solle unten auf sie warten.
Er stand immer ein wenig abseits, am Rand des Trottoirs, um nicht vom Strom all jener erfasst zu werden, die um die gleiche Zeit aus dem Gebäude kamen, während ein Klingelzeichen schrillte. Am Anfang hatte er gefürchtet, sie in dieser Menschenmenge zu übersehen, und er hatte ihr vorgeschlagen, sie solle ein Kleidungsstück tragen, an dem er sie leicht erkennen konnte: einen roten Mantel. Ihm war, als würde er bei der Ankunft eines Zuges nach jemandem Ausschau halten, nach jemandem, den man unter den vorbeiflutenden Reisenden auszumachen sucht. Es werden immer weniger. Nachzügler steigen hinten aus dem letzten Waggon, und man hat die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben …

zu Teil 3